Leseprobe aus "Falscher
Frühling"
von Sascha Reh
Emilie
hatte noch nie jemanden
wie Lothar getroffen. Einen, der alle ungefragt duzte, der auf der
Bühne
rauchte, der ein ausgeleiertes Unterhemd trug oder auch keins und alle
Mitspieler innerhalb von Minuten auf sein Spiel hin ausrichtete wie
Kompassnadeln auf den Nordpol. Sie war eine leicht gehemmte junge Frau
gewesen,
intelligent, aber scheu, ein Mädchen aus einem geordneten
Elternhaus. Sie war
es gewöhnt, auch Gleichaltrige respektvoll zu siezen, rauchte
nicht, trank nie
mehr als einen höflichen Schluck, war darum bemüht,
die Leute nicht zu sehr
mit ihrer Selbständigkeit zu irritieren.
Lothar versuchte vom ersten Tag an, Plessner die Kontrolle
über das Stück zu
entreißen. Seine Vorstellungen von Othello widersprachen
denen Plessners
diametral. Dieser hatte eine zeitgemäße, milde die
Rassismusdimension des
Stoffes betonende Inszenierung im Sinn, die in der Figur der Emilia
außerdem
der Emanzipationsbewegung Tribut zollte. Lothar durchkreuzte diesen
seiner
Meinung nach verlogenen Kniefall vorm Zeitgeist, wie er es nannte,
permanent. Er
spielte den Othello als plumpen, anzüglichen und
narzisstischen Proleten, der
sich in allem, was er tat, selbst bloßstellte. Emilie war
fasziniert und
abgestoßen zugleich, denn Lothar zeigte sich nicht im
mindesten beeindruckt von
Plessners massiver werdenden Drohungen, sich an Hannes Lensch zu
wenden, falls
er fortführe, sein Regiekonzept zu unterwandern.
Auch Philipp war bei der Produktion dabei gewesen. Emilie hatte ihn in
ihrem
ersten Semester Soziologie
kennen gelernt, bevor er zur Medizin und sie
zum Bühnenbild
gewechselt war. Als Monks Assistentin hatte sie ihm einen Job als
Hospitant
besorgt, der die Aufgabe hatte, Plessner mit psychiatrischem Material
zu den
Themen Eifersucht
und Wahnsinn zu versorgen. Sie hatte damals das Gefühl gehabt,
dass sich
zwischen ihnen beiden etwas anbahnte. Philipp war ein stiller,
sensibler Mann,
dessen gemessene Bewegungen und lang gezogene Glieder ihm die Aura
eines
Gelehrten verliehen. Sie wusste, dass er sehr klug war, und wenn er sie
mit
seinem etwas bohrenden Blick ansah, dann war das durchaus ein
erotischer Akt
gewesen: ein Blick, der tief und unbeirrbar in sie drang.
Aber Emilies Zurückhaltung traf in Philipp kaum auf einen
entscheidungsfreudigen Konterpart, und so krebste ihre
Liebäugelei ein wenig
unbeholfen durch den Schlick ihrer Annäherungsversuche und
drohte alle
Augenblicke, entweder darin stecken zu bleiben - oder von einer
ausgewachsenen
Flut davongespült zu werden.
Und als Flut hatte sie Lothar erlebt. Emilie, die Monk und Plessner
loyale
Gefolgschaft leistete, hatte keine andere Wahl, als in diesem Chauvi in
jeder
Hinsicht einen unliebsamen Aggressor zu sehen. Ebenso wie die
Feuilletons der Süddeutschen
oder der FAZ, die die Premiere unter Überschriften wie "Primat
der Kunst"
begeistert besprachen, war sie aber auch der Meinung, dass seine
Darstellung des
venezianischen Kriegsherrn vor Impulsivität und
Originalität nur so strotzte.
Die Art, wie er seinem Text scheinbar unfreiwillige Komik verlieh, wenn
er
nuschelnd deklamierte: Sie liebte mich, weil ich Gefahr bestand / Ich
liebte sie
um ihres Mitleids willen, und dabei das Machismo der Zeile gockelhaft
karikierte, hatte etwas Geniales, ohne dabei sein Raffinement
auszustellen. Das
war kein Gelehrtentheater, keine
Intellektualitätsbiedermeierei, sondern etwas
Lebendiges, Unbegriffliches, das einen verwirrte und
verstörte, das einem die Möglichkeit
verweigerte, sich einen Reim darauf zu machen, der harmonisch zu all
dem passte,
was man schon auswendig kannte.
Politische Korrektheit hatte ihn nie interessiert. Als sie zum ersten
Mal mit
ihm sprach, zwei Becher überschwappenden Kaffees
in der Hand
und eben auf dem
Weg zu einer Besprechung mit Monk, gelang es ihm, seine eigentlich
konsensfähige
Meinung über Eifersucht und Liebe vollständig hinter
seiner Ignoranz zu
verstecken.
"Othello
ist einfach ein grobschlächtiger, bisschen dummer
Neger, der
glaubt, Desdemona sei sein Eigentum, weil ihm ein Vertreter der
Herrenrasse das
vorsagt. Er ist nicht nur paranoid, sondern auch bescheuert." Er sagte
das,
ohne dass Emilie ihn danach gefragt hatte: Sie hatte sich lediglich
dafür
bedankt, dass Lothar ihr die Kantinentür aufgehalten hatte.
"Schwarzer", sagte sie. "Neger ist pejorativ."
"Was für'n Ding?"
"Abwertend."
"Ich mein's ja auch abwertend. Othello ist ein Idiot. Das ist meine
Meinung."
"Aber wie können Sie ihn spielen, wenn Sie ihn für
einen Idioten halten?
Wenn Sie kein Verständnis für ihn haben?"
"Ich hab ja Verständnis. Übrigens heiß ich
Lothar."
Er streckte ihr die Hand hin, ohne zu bemerken, dass sie mit den beiden
Bechern
nur verschämt zurücklächeln konnte. Es war
ihm offensichtlich peinlich, denn
er zog die Hand sofort wieder zurück. Da bemerkte Emilie zum
ersten Mal diese
andere Seite an ihm - eine charmante Unsicherheit, fast Scheu, in
Situationen,
die nicht das Theater,
sondern das Leben betrafen. (...)
Sascha
Reh: "Falscher Frühling"
Schöffling & Co., 2010. 368 Seiten.
Buch
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"Der
Zukunft
entgegenzugehen ist etwas völlig anderes, als vor der
Vergangenheit zu fliehen."
"Falscher Frühling" erzählt von einer Nacht, in der
der Alltag
dreier Menschen auseinanderbricht, und von einer Begegnung, die sie
wieder zu
einer Familie macht.
Lothar Lotman, ein alternder Theatermann, will mit einer letzten
großen
Inszenierung noch einmal die Ideale in der Kunst verwirklichen, an
denen er im
Leben gescheitert ist: Liebe, Freundschaft, Ehrlichkeit. Der
verachteten
Unterhaltungsindustrie setzt er seit Langem nichts mehr entgegen, seine
Freunde
hat er brüskiert, und seine Frau Emilie, eine erfolgreiche
Bühnenbildnerin,
ist seine peinlichen Provokationen leid. Doch der "zweite
Frühling",
den sie sich von einem Treffen mit einem alten Freund am Vorabend ihrer
Scheidung erhofft, treibt hochkomische Blüten. Und ihre
Tochter Franziska, die
vor dem Beziehungsballast der Eltern in virtuelle Welten
flüchtet, überwindet
endlich ihre Angst vor einer eigenen Suche nach Glück.
Sascha Rehs Debütroman ist eine schöpferische Hommage
an die modernen
Theaterklassiker und wird durch seinen ironischen Ton und virtuose
Perspektivwechsel zum Ereignis.
Sascha Reh, geboren 1974, studierte Geschichte,
Philosophie
und Germanistik in Bochum und Wien.