Lea Singer: "Die österreichische Hure"

13 Unterhaltungen über Königin Marie-Antoinette und die Pornographie


Rekapitulieren wir zuerst die historische Tragödie: Maria Antonia (geboren am 2. Nov. 1755 in Wien), Tochter von Kaiserin Maria Theresia, kommt im Mai 1770 als blutjunges Mädchen von Wien nach Paris. Ihre Bestimmung ist es, dem Dauphin (Kronprinz, Thronfolger) von Frankreich die Gemahlin zu sein. Die Verehelichung der beiden jungen Menschen erfolgt nicht aus Liebe, sondern wurde zuvor in langwierigen Verhandlungen von Diplomaten eingefädelt. Solcherart will man die friedliche Verständigung zwischen den mächtigen Herrscherhäusern der österreichischen Habsburger und der französischen Linie der Bourbonen festigen. Marie Antoinette wird Königin von Frankreich, doch feindselige Umstände (Feindschaft der antiösterreichischen Partei), das eigene Unvermögen (Verschwendungs- und Genusssucht) und von Neidern lancierte Intrigen setzen der jungen Frau hart zu. Zudem ist sie als Leitfigur einer dekadenten Adelsherrschaft die ideale Zielscheibe für umstürzlerische Subversionen im vorrevolutionären Frankreich. Ihren Ruf untergraben, heißt am morschen Ast der verhassten Monarchie sägen. Das Glück versagt ihr seine Gunst. Schlussendlich gerät Marie Antoinette in die Wirren der französischen Revolution, wird inhaftiert und nach Abschluss eines unfairen Schauprozesses am 16. Oktober 1793 enthauptet. In den Annalen der Weltgeschichte ist von einem würdevollen Abgang der "österreichischen Hure" die Rede.

Die Geschichtsforschung ist sich heute darüber einig, dass die Österreicherin, welche der Volksmund hinter vorgehaltener Hand abschätzig als L`Autri-chienne (absichtlich mit Bindestrich geschrieben, weil: franz. chienne = dt. Hündin) schmähte, zwar bestimmte keine Heilige war, aber nichtsdestotrotz längst doch nicht so ruchlos, wie der Wille zur üblen Nachrede es ihr gern andichten wollte. Dazu bedarf es nicht mehr viel zu sagen - das historische Bild scheint bereits zurechtgerückt. Und es ist nun auch nicht Lea Singers erklärte Absicht, das Leben der Marie Antoinette neu zu fassen oder sie von irgendwelchen gemeinen Anschüttungen zu säubern, die sowieso schon anderswo zum Zwecke einer realistischen Betrachtung der verrufenen Habsburgerin thematisiert worden sind.

Um etwas ganz Anderes ist es Lea Singer zu tun: Sie will nicht über Fakten historisieren, sie will über innere Abgründigkeiten fabulieren und erzählt solcherweise die Geschichte von 13 Unterhaltungen über die Königin Marie Antoinette, im Lichte des Obszönen und der Pornografie, eingebettet in eine Rahmenhandlung, die im Filmgeschäft spielt. Die Handlungsträgerin, Sibylle Schlick, eine mit dem Oscar geehrte Filmregisseurin, wünscht einen Film über das grausame Ende der Marie Antoinette zu drehen. Um das cineastische Unternehmen auf die Beine zu stellen, zieht sie sich gemeinsam mit drei in Frage kommenden Schauspielerinnen, der Filmproduzentin, einer fachkundigen Historikerin, einem tuntig-femininen Ausstatter und Kostümbildner, sowie ihrer Katze und dem knabenhaften Sohn in eine Art Konklave zurück.

Die Gespräche der sämtlich 38-jährigen Frauen - gleichaltrig wie Marie Antoinette im Jahr ihrer Hinrichtung - drehen sich nun einerseits um biografische Notizen zum Leben der hingerichteten Königin, um deren Unglück und Leid, andererseits - vom Besonderen auf das Allgemeine sich verbreiternd - um bestialische Neigungen der Menschen im Heute und Gestern, sowie um ein perspektivisches Abtasten von Begrifflichkeiten des Obszönen und der Pornografie. Die Schrecken der französischen Revolution werden in Bezug zur Gegenwart gesetzt, und mit zunehmendem Grauen dämmert den Beteiligten, wie nahe das Schicksal der geschundenen Autri-chienne ihrem eigenen steht. Der ehrliche Umgang mit Geschichte wird jedenfalls zum Problem, nimmt man die eigene Gegenwart ernst.

Die historische Marie Antoinette wurde von ihren Feinden am französischen Hof sehr gezielt in eine Linie mit anderen machtgeilen und sexbesessenen Frauen aus der Geschichte gestellt. Man wähnte sie unverhohlen als Geistesverwandte von Agrippina, Messalina, Katharina von Medici und Katharina der Großen. Eine ganze Bibliothek übelster Politpornos und Schmähpamphleten diente der Denunziation als verachtungswürdigste Hure. Marie Antoinette machte es ihren Feinden leicht, denn sie war ein naives, sich ungezwungen gebendes Mädchen, voll der Lebenslust und ohne sittliche Reife. Sie lebte ungeniert und - sogleich war der Ruf ruiniert.

Unverschämt war die junge Königin gewiss, doch darin nicht schlimmer als der französische Adel generell, der, jedem Restempfinden von Würde und Anstand längst schon entwöhnt, in obszönem Luxus prasste und dem pornografischen Vergnügen frönte, während das Volk im Elend darbte und von den Kanzeln Tugend gelehrt bekam. Lea Singer beschönigt nichts davon, doch ist es ihr um Gerechtigkeit zu tun. Ganz nebenbei räumt sie mit böswilligen Legenden zur Person der Marie Antoinette auf: Niemals hätte diese den nach Brot verlangenden Armen empfohlen, wenn nicht Brot, dann halt eben Kuchen zu essen.

Dieser schäbige Zynismus entkam tatsächlich einer anderen Kehle und wurde lediglich aus hetzerischen Beweggründen der verhassten Fremden aus deutschen Landen in den Mund gelegt. Dass sie Österreicherin - also: "eine Deutsche" - war, das vergaß man ihr nie. Eine Erbfeindin durfte nicht im Schloss zu Versailles residieren und für viele Franzosen war es gar nicht anders denkbar, als dass sie ihren Mann zu einer vaterlandsschädlichen Politik verführen wollte. Fouquier-Tinville, der Chefankläger von 1793, sollte Marie Antoinette dann auch des versuchten Landesverrats beschuldigen. Nebst der Unterstellung von Verschwendungssucht und von einem völlig verhurten Charakter.

Selten zuvor und danach war eine Frau mit einem brutaleren Rufmord konfrontiert, als Marie Antoinette. Man dichtete ihr an, gefühlskalt, verhurt, mannstoll, lesbisch und promiskuitiv zu sein. In Wirklichkeit war sie am Hof von Versailles in ein Gespinst von Einsamkeit und Ablehnung eingeflochten. Nur der Zuneigung ihrer geliebten Kinder durfte sie sich gewiss sein. Und zu all dem Überdruss war sie mit dem denkbar erbärmlichsten Liebhaber jener Zeit verheiratet. Dieser Erbärmliche nämlich, er, Louis-Auguste (der spätere König Ludwig XVI. von Frankreich), gestand offen sein Desinteresse an jedweder sexuellen Betätigung ein. Seine sexuell ausgehungerte Frau musste sich also ein wenig mit anderen Männern schadlos halten. Ein wenig nur, doch die üble Nachrede wusste sofort, sie treibe es mit jedem und jeder, immer und überall, gleich auf welche Weise - und gab dem eine literarische Gestalt, die in ganz Frankreich gehandelt und mit boshafter Inbrunst gelesen wurde.

Nun, das alles ist keineswegs neu und diesmal nur in eine neue Fassung gebracht. Nämlich in eine Reihe von Frauengesprächen. Marie Antoinette in Person war kein pornografischer Charakter. Warum dann aber in der Frauenrunde das Gerede über die Pornografie? Auch war die Königin - im krassen Gegensatz zu ihrem von Feinden konstruierten Ruf - keineswegs von obszöner Wesensart. Zumindest war sie nicht obszöner als die meisten ihrer Zeitgenossen. Warum dann also das Beharren auf dem Begriff des Obszönen?

Eine nähere Erhellung der Begriffe offeriert erste Antworten auf die Fragen nach dem Warum: Zu den wichtigsten pornografischen Regeln gehört es, zu erniedrigen. Erniedrigen, wo es nur geht. Und das Obszöne? Obszön ist, was Tabus bricht. Was Schamgrenzen ignoriert. Doch wer hat da die Schamgrenzen ignoriert? Und wer missachtet sie in unseren Tagen? Wie ist der Umgang mit Frauen, die, sicherlich auch mit Fehlern und Makeln behaftet, so wie Marie Antoinette einfach nur natürlich, normal und menschlich sein wollen. Sich einer weiblichen Etikette entziehen und ob ihrer Versündigung gegen Anstandsregeln gleich zum Abschuss frei gegeben werden. Vogelfrei! Oder passender vögelfrei, wie der schwule Karla in der 5. Unterhaltung so treffend anzumerken weiß.

Marie Antoinette in ihrer Lebenstragödie begreifen zu wollen, setzt einen ebenso sensiblen wie schonungslosen Selbstbegriff voraus. Wer bin ich im Blick meiner Mitwelt, zu mir selbst und wie stehe ich in Raum und Zeit? Lea Singer handelt die historische Person der Marie Antoinette in einem Wechselspiel aus Feinfühligkeiten und Derbheiten, aus Innerlichkeiten und Äußerlichkeiten ab. Der vulgäre Unlaut ist genauso in die Komposition eingewiesen wie die unmerklich vibrierende Melodie empathischen Nachempfindens menschlicher Verworfenheit. Es ist nicht die Manier einer trockenen Biografie, die sich dem Leser darbietet. Eigentlich ist es überhaupt keine Biografie, sondern ein Palaver zum Thema einer Lebensbetrachtung. Der Leser erlebt sich hierbei als Zaungast einer aufgeregten Runde, die teils gelehrte, doch insbesondere witzige und gar nicht so wenig tiefgründige Gespräche führt und solcherart den Sinn für ein Leben in der Geschichte aufweckt, das Selbstempfinden zur eigenen Weltgeworfenheit schärft.

Die Handlung wird eskalieren: Je mehr sich die agierenden Personen in ihre Materie vertiefen, desto mehr brechen verdeckte Gefühle, gar Aggressionen auf, die hinter einer lieblichen Maske versteckt gehalten waren. Gefällige Unaufrichtigkeit bröckelt ab. Hässlichkeiten, Verletzungen werden manifest - kaum verkrustete Wunden platzen wieder auf und ersticken jeden Eifer in Blut. Das anvisierte Projekt droht zu scheitern, scheitert, verkommt, nur der Leser darf sich - als unbeteiligter Dritter? - als Sieger wähnen. Oder auch nicht, denn die österreichische Hure ist auch unser aller Schicksal, die wir den Lebenstatsachen des Obszönen und der pornografischen Erniedrigung, nicht unähnlich der jungen Königin von Frankreich, ausgeliefert sind. Ein Buch, das ratlos und betroffen macht und doch - vielleicht gerade deswegen - betörend wirkt und - einfach gefällt.

(Harald Schulz; 05/2005)


Lea Singer: "Die österreichische Hure"
dtv, 2005. 180 Seiten.
ISBN 3-423-24454-2.
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Lea Singer studierte Kunstgeschichte, Musik- und Literaturwissenschaft. Sie ist Sachbuchautorin und Publizistin und lebt in München. Im Jahre 2000 erschien bei dtv ihr Romandebüt "Die Zunge", 2003 folgte "Wahnsinns Liebe".

"Die Zunge"
Er ist ein Monster und wird zum Inbegriff des guten Geschmacks. Alexandre Grimod de La Reynière (1758-1838), geboren im Paris der Revolutionszeit, kommt mit verkrüppelten Händen auf die Welt. Seine Eltern lehnen das Kind mit den unförmigen Greifern ab. Ähnlich wie in Sten Nadolnys "Entdeckung der Langsamkeit" oder Patrick Süskinds "Das Parfum" erkundet in diesem Roman ein Mensch die Gesellschaft aus der Sicht seiner körperlichen Anomalie. Verstoßen und verachtet, sehnt sich Alexandre nach dem Unerreichbaren, der Berührung. Er wird Anwalt, Theaterkritiker und Feinschmecker und lernt, sich in der Gesellschaft zu inszenieren. "Du versuchst, mit der Zunge die Hände zu ersetzen", muss sich Alexandre von seiner Gefährtin Adelaide vorwerfen lassen, als er sich bemüht, seine Umwelt für seine Defizite zu entschädigen. Doch Alexandre ist ein Genie, das seine Verletzbarkeit überspielt ...
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Leseprobe:

"Darf ich den Brief vorlesen?" Sibylle biegt sich zur Seite und greift in Barbaras Mappe - Joseph aus Versailles an seinen Bruder Leopold über den Schwager Ludwig: "Das Geheimnis liegt im Ehebett. Er hat ausgezeichnete Erektionen, führt sein Glied ein, verharrt dort regungslos vielleicht zwei Minuten lang, und ohne sich zu ergießen zieht er sein noch immer aufrecht stehendes Glied zurück und dreht sich weg, um zu schlafen. Das Ganze ist unbegreiflich, da er manchmal feuchte Träume hat. Er ist völlig zufrieden und gibt offen zu, dass er den Akt nur als Pflichterfüllung betrachtet und keinerlei Vergnügen daran findet. Wenn ich nur einmal dabei gewesen wäre, ich hätte es ihm schon beigebracht. Man sollte ihn auspeitschen wie einen Esel, damit er seine Sauce herauslässt."
Stille.
" ... ich kann nicht glauben, dass Royals solche Briefe schreiben." Nicole ist rot angelaufen.
"Heute reden sie über ihre feuchten Träume sogar am Telefon. Was sehr unvorsichtig ist", sagt Rita.
"Also ich finde das abstoßend." Nicole zieht ihren Ausschnitt nach oben.
"Warum? Sind Ihnen trockene Aristokraten lieber?" Sibylle gießt sich Wasser nach. "Dann muss Ihnen das ganze späte französische Achtzehnte widerwärtig sein, also auch die Rolle der Marie Antoinette."
"So habe ich das nicht gemeint." Nicole zieht den Ausschnitt wieder nach unten, so weit es geht.
Barbara verkneift sich ein Grinsen. "Joseph lästert in seinen Briefen an den Bruder ungeniert über die beiden kompletten Trottel, denn auch wenn er versteht, dass sein dauernd schwitzender, fetter Schwager, den er ein nasses Stück Fisch nennt, sexuell nicht eben appetitanregend ist, kreidet er es seiner Schwester an, dass sie offenbar wie tot im Bett liegt und keine der Frauen, die ihr nahe stehen - Madame Campan, zum Beispiel - mal um Rat gefragt hat. Und mit ihrer Mutter hat sie nur über die Generalin Krottendorf korrespondiert. So nannte Maria Theresia die Menstruation."
"Oh Gott, kommt mir so was bekannt vor. Meine Mutter sagte zum dem Schwanz meines Bruders Schniedelwutz, zu meinem Schamhügel vorderer Popo und auf dem Waschlappen für Hintern und Geschlechtsorgane stand: Unteres Gesicht. Siebziger Jahre, 20. Jahrhundert, bitte." Korinna lächelt mit den Mundwinkeln nach unten.

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