Prof. Dr. Louis Lewin: "Phantastica"

Die betäubenden und erregenden Genussmittel. Für Ärzte und Nichtärzte


"Zwischen Zuviel und Nichts steht das Mäßige."

Solcherart dem Mäßigen mehr zu- als abgeneigt, doch keineswegs ohne energische Mahnungen zum Geleit, brachte Dr. Louis Lewin vor gar nicht allzu langer Zeit (in historischen Spannen gedacht) sein gebündeltes Wissen, seine Beobachtungen und Erfahrungen in "Phantastica", einem hochkarätigen, niveauvollen Sammelsurium, zu Papier.
"Im Dritten Reich verboten und verbrannt und lange Jahrzehnte eine äußerst gesuchte Rarität, liegt dieser Meilenstein der Rauschmittelkunde endlich wieder in einer ungekürzten Ausgabe vor"
, tut die Buchrückseite kund.

Zweifellos gebührt dem im von marktwirtschaftlichen Gesetzen gottlob großteils verschont gebliebenen Segment des modernen Antiquariats tätigen Voltmedia Verlag Anerkennung für die verdienstvolle Neuauflage von "Phantastica", sollten doch grundsätzlich Werke dieser Art in keiner wohlsortierten Heimbibliothek fehlen. Indes kommt dem Umstand, dass diese wohlfeile Ausgabe biografische Anmerkungen zur Person des Autors vermissen lässt, (ein kurzes Vorwort wäre angebracht gewesen!), gewissermaßen die Bedeutung des sprichwörtlichen Haares in der Suppe zu, die freilich, von diesem Wermutstropfen abgesehen, vortrefflich mundet.

Louis Lewin kam am 9. November 1850 im westpreußischen Tuchel als Sohn eines Schuhmachers zur Welt und verschied nach einem Schlaganfall am 1. Dezember 1929 in Berlin.
"Phantastica", eine interkulturelle Genussmittelgeschichte jener Stoffe, denen "eine direkte Gehirnwirkung eigen ist", gilt als wegweisendes Frühwerk der Drogenforschung. Dr. Lewin, der Kundige der Arzneimittellehre, Toxikologie und Hygiene: ein "Stammvater" zeitgenössischer Ethnopharmakologen wie beispielsweise Christian Rätsch? Warum nicht!
Ebenso einfallsreiche wie experimentierfreudige Individuen haben seit Menschengedenken allerorts nach bewusstseinsverändernden Stoffen gesucht, solche gefunden und der Flora allerhand Geheimnisse entlockt oder auch gewaltsam entrissen.

Mitnichten prinzipiell vorurteilsfrei, nichtsdestotrotz beherzt, wagte sich der jüdische Gelehrte daran, ein informatives, unterhaltsames Werk "für Ärzte und Nichtärzte" zu verfassen, das sich auch und gerade in Zeiten wie diesen schon allein aus sprachästhetischen Gründen jedem Liebhaber gewählter Diktion empfiehlt.
So liest man etwa bei Dr. Lewin, gewisse Individuen seien den Genussmitteln "ergeben" oder würden diesen "huldigen". Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: In "Phantastica" sprechen die teils schauderhaften präsentierten Fakten per se eine klare Sprache; Dr. Lewin verstieg sich nicht zu unangemessenen Verharmlosungen.

Weit ließ der Autor, der übrigens lange Zeit eine umfangreiche botanische Sammlung sein Eigen nannte und u.a. ein Buch über Pfeilgifte schrieb, seinen durchdringenden Forscherblick schweifen, bis in entlegenste Regionen der bemenschten Welt, immer auf der Suche nach bewusstseinsverändernden Substanzen, deren Anwendungsformen und Wirkungen. Es blieb ihm wohl kein Eiland, keine Einöde, kein Berggipfel verborgen, wo Menschen Genussmitteln, denen "eine direkte Gehirnwirkung eigen ist", huldigen, weshalb "Phantastica" nicht zuletzt auch eine Fülle an völkerkundlich Interessantem bietet.
Nicht unerwähnt bleiben soll, dass der gute Dr. Lewin in bewährter Medizinertradition erwünschte und mögliche unerwünschte Wirkungen gar mancher Mittelchen in mehr oder weniger selbstlosen Selbstversuchen prüfte und es nicht bei Beobachtungen sowie Tierexperimenten bewenden ließ (z.B. "So bekommen Hunde nach Aufnahme der Arekanuß hochgradige Erregung, Frösche dagegen Depressionssymptome." "Ich sah bei meinen Versuchen, wie ein Igel, dem ich in einer Schale stark gesüßten, warmen Kognak vorsetzte, denselben in Absätzen restlos austrank und nach Stunden - so wie ein alkoholüberladener Mensch - die typischen Symptome eines Katzenjammers bekam.").

Nach einer temperamentvollen Einleitung, die primär "Beweggründe für den Gebrauch betäubender und erregender Genussmittel", "Bedeutung der persönlichen Veranlagung in Bezug auf fremde Reize, die den Körper treffen", "Toleranz und Gewöhnung" sowie "Immunität gegen Gifte" thematisiert und einer Erläuterung des seinem Werk zugrundegelegten Klassifikationssystems geht es in medias res.

"... Genußmittel, die das Gehirn erregen, überdauern die Zeiten."

Der Abschnitt "Euphorica. Seelenberuhigungsmittel" behandelt u.a. die Geschichte des Opium- und Morphingebrauchs, die damalige weite Verbreitung desselben ("Ich habe vor Jahrzehnten darauf hingewiesen, daß wenn der Alkohol die Hände, das Morphin den Kopf des Volkes vernichtet ... immer überwiegen noch weit Ärzte, Professoren, Apotheker, Literaten, Künstler, Juristen, Offiziere, höhere Staatsbeamte usw.") und schildert die Abhängigkeit von Morphinisten und Opiumisten in aufwühlenden Bildern. Ebenfalls als "Euphorica" eingestuft sind Kodein und Derivate, Dionin, Heroin, Eukodal sowie Chlorodyne. Detaillierte Ausführungen zum Kokainismus beschließen den Reigen dieser "seelenberuhigenden" Genussgifte.

Sodann gilt die Aufmerksamkeit ab Seite 149 den unter "Phantastica. Sinnestäuschungsmittel" fallenden Genussmitteln: Anhalonium Lewinii (Peyotl), indischer Hanf (Cannabis indica), Fliegenpilz, Nachtschattengewächse (darunter Bilsenkraut und Stechapfel), Banisteria Caapi (eine Liane), Gelsemium sempervirens und Loco-Kräuter.

Nahezu zwangsläufig nehmen die Ausführungen zum Alkoholbreiten Raum ein (akute Vergiftung, chronischer Alkoholismus, verminderte Schuldfähigkeit Betrunkener usw. usf.), doch auch Hoffmannstropfen (eine Mixtur aus Alkohol und Äther), Chloroformsucht, Äthersucht, Benzinrausch sowie Stickoxydulsucht werden im Kapitel "Inebriantia. Berauschungsmittel" unter die Lupe genommen.
Man meint, bei aller gebotenen Vorsicht, zwischen den Zeilen ein dezentes Loblied auf den Alkohol zu vernehmen, wobei Dr. Lewin die dramatischen Auswirkungen des Übergenusses freilich keineswegs beschönigte: "Die Säufer sind kranke und deswegen unglückliche Menschen, und wo sie in den Völkern der Erde sich in großer Menge finden, da bleiben sie auch für ihr Land ein Unglück, vor allem, weil das Säufertum geordnete Arbeitsleistungen ausschließt, auf der die Blüte eines Landes sich aufbaut."

Was des Autors Annäherungsweise anbelangt, nicht zuletzt stilistisch, mag sich mancher Leser entfernt an Alfred Edmund Brehms Formulierungen sowie mitunter auch an Wilhelm Busch erinnert fühlen: "Ein Menschenübel harter Not ist die Schlaflosigkeit, gleichgültig, ob sie den in schwerer Lebensfronde tagsüber Schaffenden oder den mühelos Nurgenießenden befällt. Wehe dem Wehgepeinigten, der dem Morgen auf seinem harten oder weichen Pfühle entgegenwacht", zu lesen im Kapitel "Hypnotica. Schlafmittel", wo sich auch Folgendes über Nietzsche findet: "Die Geisteskrankheit, in die Fr. Nietzsche verfiel, wird der Überproduktivität seines Gehirns und der immer mehr wachsenden Beschleunigung seines Denkens in Verbindung mit dem Gebrauche des Chloralhydrats zugeschrieben. Ich halte letzteren Umstand für besonders erschwerend. Sein Geist war so rastlos tätig, daß er nachts kaum mehr den Schlaf fand. Da wurde ihm von Ärzten dagegen Chloralhydrat angeraten, auch mit der törichten Begründung, daß dieses Mittel vollkommen harmlos sei. Er hat es übermäßig zu sich genommen und dadurch seinen geistigen Ruin mindestens beschleunigt."
Weitere Vertreter der "Hypnotica" sind neben Chloralhydrat auch Veronal, Paraldehyd, Bromkalium und Bromural. Überdies beschäftigt sich diese Passage mit dem Sulfonalismus, dem Kawatrinken ("Das Mittel äußert eine besänftigende Macht") sowie Kanna.

Doch war und ist der Mensch bekanntlich nicht immerfort uneingeschränkt darauf versessen, Schlaf zu finden, und so bietet der Abschnitt "Excitantia. Erregungsmittel" gehaltvolle Abhandlungen über Wesen und Wirkung derartiger Genussmittel, z.B. Kampfer, Betelkauen ("Hunger- und Durstgefühl sollen durch Betelkauen gestillt und die Geschlechtstätigkeit erregt werden. Das letztere ist unrichtig."), Kat (frische Knospen und junge Blätter einer Staude), Koffeinpflanzen (Kaffee, Tee - mitsamt Rezept für Yakbuttertee, Kolanuss, Mate, Pasta Guarana, Kakao), Tabak, Arsenikessen und Quecksilber.
"Die Tabakenthaltsamkeit, als Produkt subjektiver Auffassung, ist ebenso anzuerkennen wie das Alkoholabstinententum oder der Weiberhaß oder viele andere Minusleidenschaften. Aber man beschränke sich auf sich selbst! Will man schon an Menschheitszuständen bessern, so gibt es wahrlich bedeutsamere Aufgaben, z.B. die Besserung von lebensverkürzenden Arbeitseinflüssen und Arbeitsbedingungen bei vielen Tausenden von Menschen. (...) Individuelle Abneigung gegen irgendeinen Genuß trägt in sich nicht die Berechtigung, andere Individualitäten mit der seinigen zu messen." Dies sei den bisweilen übereifrigen Gesundheitsaposteln aller Zeitalter ins Stammbuch geschrieben.

Bisweilen kuriose Schlussfolgerungen verorten den Autor trefflich in seiner Zeit, als höchst individuelle Formulierungen, fernab nivellierender freiwilliger Selbstzensur, vorgebracht mit der größten Selbstverständlichkeit und im Brustton der Überzeugung, einen Gelehrten als kühnen Pionier auszuweisen vermochten, der nicht zuletzt in der Lage war, eine Vielzahl kenntnisreicher Zitate "aus dem Ärmel zu schütteln", und zudem mit umfassender Allgemeinbildung, die sich auch in sprachgewandten Beschreibungen äußert, zu glänzen verstand.
Kritik wird zwischendurch ebenfalls geübt, z.B. an christlichen Missionaren, denen Dr. Lewin ankreidete, Sitten und Gebräuche anderer Kulturkreise ohne Rücksicht auf Verluste vernichtet zu haben sowie am christlichen Menschenraub ("Sklavenimport"). Auch andere Kapitel der Weltgeschichte werden gestreift, z.B.: "Daß die Kreuzfahrer nichts von dem Kaffeegetränk mitteilen, bedeutet nichts, denn erstens hatten sie anderes, wichtigeres zu tun, besonders nach vorheriger Einübung Juden, Griechen und Türken zu erschlagen und schließlich nach der Erstürmung Jerusalems in Blut zu waten, und zweitens waren sie in das schon deswegen besonders 'glückliche Arabien' nicht eingedrungen."

In "Phantastica" finden sich neben überwiegend anonymisierten Fallbeispielen, anhand derer die mannigfaltigen Auswirkungen des Ergebenseins an körperfremde Substanzen veranschaulicht werden, ausführliche Angaben bezüglich Anbau- und Verbreitungsgebieten, Handelsmengen und Genusszeremonien sowie Kommentare betreffend Geschichte und Auswirkungen des Gebrauchs, Arten der Rauschzustände, Abstinenzsymptome und Aussagen über die jeweiligen Inhaltsstoffe.
Mancher Seitenhiebe gegen Zunftkollegen mochte sich Dr. Lewin, der, nebenbei bemerkt, keinerlei Sympathie für die "Kastration" von Genussmitteln hegte und die Nachahmungssucht zutreffend als "Triebfeder so überaus vielen unsinnigen Tuns in der Welt" abstempelte, bei guter Gelegenheit freilich nicht enthalten.

Besonders sensible Naturen mögen eventuell die eine oder andere Aussage bzw. Herleitung Dr. Lewins als verschroben, womöglich gar tadelnswert, erachten, beispielsweise, was die Rolle der Frau in der Gesellschaft betrifft, ("heimische Vestalinnen", Seite 452), nichtsdestoweniger handelt es sich insgesamt um inspirierende, gediegene Lektüre.

(kre; 01/2006)


Prof. Dr. Louis Lewin: "Phantastica"
Voltmedia, 2005. 508 Seiten.
ISBN 3-937229-68-X.

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Lien zu einer Seite mit biografischen Informationen über Dr. Louis Lewin:
http://www.toxcenter.de/toxinfo/text/3WRXHW.php 

Ein weiteres Werk des Autors:

"Gifte und Vergiftungen. Lehrbuch der Toxikologie"

(Karl F. Haug Verlag)
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