Gerhard Roth: "Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten"

Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern


Freiheit oder Vorherbestimmung? Eine moderne Betrachtung

Über die Freiheit des Menschen ist schon viel spekuliert worden: Gibt es sie überhaupt, oder sind wir sozusagen Opfer unserer Instinkte, unserer Gene, unserer Erziehung, unserer Umwelt? Eindeutig lässt sich diese Frage nach wie vor nicht beantworten, doch mittlerweile liegen zahlreiche seriöse wissenschaftliche Untersuchungen vor, die zumindest eine Gewichtung zulassen.

Gerhard Roth betrachtet die Frage, inwiefern menschliches Verhalten sowohl vom Individuum selbst als auch von anderen beeinflussbar ist, sowohl aus dem Blickwinkel des Neurologen als auch des Psychologen. Eingangs befasst er sich mit dem Phänomen der Persönlichkeit und der seit der Antike üblichen Einteilung von Persönlichkeiten in Kategorien, anschließend lernt der Leser den Aufbau des Gehirns und die Funktion wichtiger Bausteine beziehungsweise Areale kennen. Anhand dieser Grundlage lässt sich nun auch nachvollziehen, wie das "Ich", also das Bewusstsein des Individuums seiner selbst, zustande kommt, und wie Persönlichkeit aus neurologischer Sicht zu definieren ist.

Ein beträchtlicher Teil des Buchs behandelt Entscheidungsprozesse und das Zusammenspiel von "Kopf" und "Bauch". Hier zeigt sich, dass Ratgeber, die den Leser dazu animieren, nur auf seine Gefühle oder seinen Verstand zu hören, einen Zirkelschluss vollziehen. Verstand und Gefühle unterliegen komplexen, jedoch nachvollziehbaren Mechanismen, und sie sind beeinflussbar. Hier kommt das System von Strafe und Belohnung ins Spiel, dem der Autor aus gutem Grund viel Aufmerksamkeit widmet.

Aufbauend auf den in den ersten Kapiteln vermittelnden Grundlagen zeigt der Autor nun, wie beispielsweise Einstellungsgespräche einigermaßen objektiv interpretiert werden können, wie Menschen sich selbst oder ihre Mitarbeiter zu höheren Leistungen animieren können, wie man sich und andere (vielleicht) ändern kann, was Freiheit des Willens letztlich bedeutet - und vieles mehr.

Eine Reihe von Exkursen, eingebettet in den Kontext, bietet vertiefende Informationen.

Wer sich für die neurobiologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens interessiert, wird von diesem Buch begeistert sein. Der Autor setzt keine Fachkenntnisse voraus und geht doch erstaunlich in die Tiefe, ohne jemals den Kontakt zum "unbedarften" Leser zu verlieren. Zahlreiche Skizzen veranschaulichen den Aufbau des Gehirns und die Funktionen der verschiedenen Areale.

Vor allem aber werden nicht nur aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse - praktisch immer durch sorgfältig konzipierte und durchgeführte Experimente belegt – dargeboten, sondern auch unmittelbare Fragen und Problemstellungen aus dem Bereich der neurologischen Hintergründe der Persönlichkeit behandelt. Viele ganz alltägliche Beispiele sensibilisieren den Leser für die Allgegenwart von Entscheidungs- und Beeinflussungsprozessen und geben ihm einen Eindruck davon, bis zu welchem Grad Menschen sich selbst oder andere ändern können. Diese Beispiele lockern die in einigen Kapiteln sehr hohe und den Laien herausfordernde Informationsdichte etwas auf und machen dem Leser immer wieder den Bezug auf jedermanns Leben bewusst. Sofern sie aussagekräftig und übertragbar sind, werden auch Experimente mit Tieren einbezogen.

Das Buch zeigt die recht starren Grenzen der Beeinflussung von Menschen auf, bietet jedoch auch fundierte und Erfolg versprechende Konzepte zur Motivierung anderer. Vorgesetzte, Eltern, Lehrer und im Grunde alle, die sich beruflich oder privat mit anderen Menschen "arrangieren" müssen, werden dem Buch eine Fülle von sehr gut verständlich, praxisnah und zugleich einschließlich ihres wissenschaftlichen Hintergrundes vermittelten Anregungen entnehmen können.

(Regina Károlyi; 10/2007)


Gerhard Roth: "Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern"
Klett-Cotta, 2007. 349 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Professor Dr. Dr. Gerhard Roth ist Neurobiologe an der Universität Bremen, Direktor am dortigen Institut für Hirnforschung, Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs Delmenhorst und Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes. Er hat mehr als 200 Fachartikel im Bereich der Neurobiologie und Neurophilosophie veröffentlicht

Leseprobe:

Vorwort

Mit zwei Fragen des Alltags beschäftigen sich die Menschen, seit sie begonnen haben, über sich selbst, ihr Handeln und das ihrer Mitmenschen nachzudenken, nämlich erstens: "Wie soll ich mich entscheiden? Soll ich eher meinem Verstand oder eher meinen Gefühlen folgen?" und zweitens: "Wie schaffe ich es, Menschen so zu verändern, dass sie das tun, was ich von ihnen will? Und wie schaffe ich es, mich selbst zu ändern?"

Für die Mehrheit von uns war und ist die Antwort auf die erste Frage ganz einfach: "Gehe rational vor, wäge also Vor- und Nachteile gut ab und entscheide dann! Lass dich dabei nicht von Gefühlen hinreißen, das ist schädlich!" Dass dies nicht immer funktioniert, weiß jeder von uns, aber das heißt natürlich noch lange nicht, dass wir nicht so verfahren sollten. Eine Minderheit jedoch sagt seit jeher: "Es gibt eine höhere Vernunft als Verstand und Intellekt, nämlich die des Herzens". Oder platter und mit einem anderen Akzent ausgedrückt: "Hör auf deinen Bauch, nicht auf deinen Verstand!" Wir wissen aber alle aus leidvoller Erfahrung, dass beides nicht so recht funktioniert, d. h. weder der kalte Verstand noch das drängende Gefühl für sich allein sind gute Ratgeber. Aber wie sollen wir vorgehen? Was ist das beste Rezept für Entscheidungen?

Bei der zweiten Frage sieht es ähnlich kompliziert aus: Auch hier ging und geht die Mehrheit davon aus, dass bei dem Versuch, das Verhalten von Mitmenschen zu ändern - sei es in der Familie, in der Schule, im Betrieb oder gar in der Gesellschaft -, die beste Strategie lautet: "Formuliere deine Argumente klar und begründe sie gut, und niemand wird sich diesen Argumenten widersetzen!" Das wird zwar immer propagiert, gelingt aber leider selten. Die krassen Alternativen sind Drohung und Strafe. Das war lange Zeit verpönt, wird aber inzwischen wieder häufiger propagiert. Diese Alternativen sind genauso selten von Erfolg gekrönt wie der Appell an die Einsicht. Die Menschen tun meist das, was sie wollen, aber manchmal tun sie etwas, das sie gar nicht bewusst gewollt haben. Jedenfalls tun sie häufig nicht das, was wir von ihnen wollen. Natürlich bezieht sich das nicht auf Dinge des Alltags wie "Könntest du mir bitte den Zucker herüberreichen?", die vom anderen wenig Aufwand erfordern. Sobald es sich aber um längerfristige Veränderungen der Lebensführung oder von eingeübten und eingeschliffenen Verhaltensmustern handelt, wird es sehr schwierig.

Es ist also schwer, andere zu ändern, am schwersten ist es aber, sich selbst zu ändern. Zwar haben viele von uns die Illusion, das ginge, wenn man nur richtig wolle, aber meist will man offenbar nicht "richtig". Aber auch wenn man unter bestimmten eigenen Verhaltensweisen leidet oder deswegen von anderen kritisiert wird, so dass man beschließt sich zu ändern, geht es meist nicht. Das ist nicht nur beim heroischen (und statistisch gesehen ziemlich aussichtslosen) Entschluss der Fall, endlich das Rauchen aufzugeben, sondern eben auch bei den Gewohnheiten, die zu unserer ganz speziellen Persönlichkeit gehören, z. B. (zu) spät morgens aufzustehen, nicht rechtzeitig an das Einkaufen, das Mülleimer-Herausstellen oder den Geburtstag der Ehefrau zu denken, Dinge stets "auf den letzten Drücker" zu erledigen, Leute nicht ausreden zu lassen usw.

Warum ist das alles so? Wenn es darauf eine gute Antwort gibt, so ist sie kompliziert und nicht allgemein bekannt. Und so macht man in der Familie, in der Schule, im Betrieb und in der Gesellschaft mit altbewährten Rezepten weiter, auch wenn sie wenig erfolgreich sind. Dramatisch werden die Probleme natürlich, wenn es um schwerwiegende Dinge geht. Man stellt fest, dass eine führende Persönlichkeit des öffentlichen Lebens eine krasse Fehlentscheidung getroffen hat, unter der viele Leute zu leiden haben (zum Beispiel einen Krieg gegen ein anderes Land anzufangen), und dann fragt man "Wie konnte dieser Mensch nur eine solche Entscheidung treffen?" Ähnlich schwerwiegend ist es bei psychischen Erkrankungen oder Drogenabhängigkeit: Wie kann man es sich erklären, dass es Menschen gibt, die sich alle paar Minuten die Hände waschen müssen oder unflätige Beschimpfungen ausstoßen, obwohl sie das gar nicht wollen bzw. sich mit aller Willenskraft dagegen wehren? Und wie kann man erklären, dass jemand, der schon mehrere Male wegen schwerer Körperverletzung verurteilt wurde, eine solche Straftat erneut begeht, sobald er wieder "draußen" ist? Oder noch schlimmer: Warum begehen manche (keineswegs alle) pädophilen Gewalttäter wieder ihre schrecklichen Taten, sobald sie entlassen wurden? Haben sie alle nichts gelernt, oder haben sie nicht richtig gewollt?

Irgendetwas an unseren bisherigen Vorstellungen darüber, wie Menschen ihre Entscheidungen treffen und wie sie ihr Handeln steuern bzw. wie ihr Handeln gesteuert wird, ist offenbar falsch. Ganz offensichtlich geben bei beiden Prozessen weder allein der Verstand noch allein die Gefühle den Ton an, weder allein der bewusste klare Wille noch allein der unbewusste Antrieb, sondern beides steht jeweils in einer komplizierten Wechselwirkung. Darüber, wie diese Wechselwirkung aussieht und was man daraus für Entscheidungsprozesse und Versuche lernen kann, andere in ihrem Verhalten zu ändern und schließlich auch sich selbst, soll es in diesem Buch gehen.

Die Philosophen befassen sich seit langem mit diesen Fragen, aber ihre Ratschläge gelten heutzutage als wenig überzeugend, zumal sie oft in völlig entgegengesetzte Richtungen gehen. Psychologen untersuchen seit einigen Jahrzehnten mit genauen Beobachtungen und zunehmend mit empirisch-experimentellen Methoden die gleichen Fragen, aber die Kontroversen sind dadurch nicht weniger geworden, wie das Sammelsurium von Ratgebern im Bereich der Pädagogik und der Personalführung zeigt. Es gibt inzwischen ausgefeilte und mit Nobelpreisen geehrte Modelle von Ökonomen und Psychologen über "rationales Entscheiden", aber diese Modelle sind nach Meinung fast aller Experten weit weg von der Realität. Entsprechend gibt es Bemühungen, diese "Rational Choice-Modelle" durch das Einbeziehen von emotionalen Faktoren realistischer zu machen, aber dazu muss man erst einmal wissen, wie Rationalität und Emotionalität bei Entscheidungen und in der Personalführung überhaupt zusammenwirken.

Von gänzlich anderer Art sind die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, insbesondere die Beschäftigung mit der Frage, ob die Erlebnisse und Erfahrungen in den ersten Lebensmonaten und -jahren tatsächlich so wichtig und prägend für die spätere Entwicklung der Persönlichkeit sind, wie dies von Vertretern der Entwicklungspsychologie und der modernen (hier über Freud hinausgehenden) Psychoanalyse behauptet wird, warum - wenn ja - dies so ist und in welchem Maße man gegen diese frühen prägenden Einflüsse in späteren Jahren noch etwas tun kann. Hier hat insbesondere die Bindungsforschung eine revolutionäre Rolle gespielt, indem sie aufzeigte, dass in der Tat Merkmale der jugendlichen und erwachsenen Persönlichkeit, insbesondere ihr Bindungsverhalten (d. h. der Umgang mit Partnern) und das Verhältnis zu sich selbst in hohem Maße von der Art und Qualität der frühen Bindungserfahrung abhängen.

Diese Erkenntnis geht einher mit neuen Einsichten in den Prozess der emotionalen Konditionierung, der bereits vor der Geburt einsetzt, seinen Höhepunkt in den ersten Lebensmonaten und -jahren hat und die Grundlage unserer späteren Persönlichkeit legt. Dieser Prozess verläuft selbst-stabilisierend und wird entsprechend zunehmend resistent gegen spätere Einflüsse. Das bedeutet nicht, dass man als älterer Jugendlicher und Erwachsener nicht mehr in seiner Persönlichkeit verändert werden kann, es bedeutet aber, dass der Aufwand, der hierzu nötig ist, immer größer und die Methoden, dies zu erreichen, immer spezifischer werden müssen.

Die moderne Hirnforschung hat in den letzten beiden Jahrzehnten Methoden entwickelt, die geeignet sind, die empirischen Aussagen der Psychologen zu fundieren, indem sie fragt, was im Gehirn einer Person abläuft, wenn sie entscheidet, etwas Bestimmtes zu tun, oder noch genereller, wie überhaupt Verhalten gesteuert wird. Zu diesen Methoden gehören zum Beispiel die in jüngerer Vergangenheit enorm verbesserte Elektroenzephalographie (das EEG), die funktionelle Kernspintomographie, die Erhebung vegetativ-physiologischer Reaktionen wie Hautwiderstandsmessungen, Herzschlagrate, Atemfrequenz, Pupillengröße, unwillkürlich-affektive Muskelbewegungen, und neuerdings Untersuchungen über genetische Prädispositionen (so genannte Gen-Polymorphismen) der untersuchten Personen in Bezug auf bestimmte, häufig von der Norm abweichende Verhaltensweisen wie erhöhte Ängstlichkeit, Depression und Neigung zu Gewalt. Schließlich gibt es aus dem tierexperimentellen Bereich, meist an Makakenaffen gewonnen, wertvolle Kenntnisse darüber, wie Prozesse der Entscheidung und der Verhaltenssteuerung auf der Ebene einzelner Nervenzellen und kleiner Zellverbände ablaufen.

Nur auf der Grundlage der Kombination psychologischer, entwicklungspsychologisch-psychotherapeutischer und neurobiologischer Kenntnisse können wir ein vertieftes Verständnis der Vorgänge der Entscheidung und der Handlungssteuerung erlangen. Wir erkennen dabei, dass diese Vorgänge sich zwischen den Polen "rational - emotional", "bewusst - unbewusst" sowie "egoistisch - sozial" bewegen und dass viele Faktoren dabei eine Rolle spielen, die teils hierarchisch, teils heterarchisch, d. h. auf verschiedenen und unterschiedlich gewichteten Ebenen, teils auf denselben Ebenen des Gehirns miteinander wechselwirken.

Im Zentrum der hier präsentierten Vorstellungen steht ein neurobiologisch fundiertes Modell der Persönlichkeit. Persönlichkeit ist danach von vier großen Determinanten bestimmt, nämlich von der individuellen genetischen Ausrüstung, den Eigenheiten der individuellen (vornehmlich vorgeburtlichen und frühen nachgeburtlichen) Hirnentwicklung, den vorgeburtlichen und frühen nachgeburtlichen Erfahrungen, besonders den frühkindlichen Bindungserfahrungen, und schließlich von den psychosozialen Einflüssen während des Kindes- und Jugendalters. Aus dem Modell der unterschiedlichen Ebenen der Persönlichkeit des Gehirns und ihrer ganz spezifischen Dynamik und Plastizität ergeben sich die Bedingungen für Entscheidungen und auch die Möglichkeiten und Grenzen der Veränderung des Verhaltens anderer und des Individuums selbst. (...)

Brancoli, im April 2007

zurück nach oben