Ernst Pöppel: "Der Rahmen"

Ein Blick des Gehirns auf unser Ich


Wie identisch ist der Mensch?

Wer bin ich? Bin ich mein Gehirn? Bin ich mein neuronales Ich? Wir machen Erfahrungen, wir vergessen vieles wieder, wir leiden am Erinnernmüssen, wir lavieren zwischen Wut und Lust, wir assoziieren, und wir laborieren an unseren Irrtümern wie beleidigte Missionare auf dem Existenztrip. Der Autor Ernst Pöppel (Jg. 1940) ist Hirnforscher und Leiter des Instituts für Medizinische Psychologie an der LMU München - er offeriert hier einen 'Blick des Gehirns auf unser Ich' (Untertitel), was von der Formulierung her schon irritierend wirken muss. Gibt es denn die Einmaligkeit der Persönlichkeit - und wie verarbeitet unser Gehirn Erfahrungen, Gewohnheiten und Gefühle, so dass ein Ich daraus entstehen kann? Letztendlich plagt uns die ewige Frage: wie identisch ist ein Mensch?

Pöppel beschreibt seine Methode als "offenes Denken", bei dem auch die "Quergedanken" zugelassen sind. Dabei möchte er allerdings doch einen "Rahmen" akzeptieren: "als Forscher bin ich auf der Suche nach Ordnung." Andererseits möchte Pöppel nicht "in einen fremden Rahmen eingepasst" werden, und er meint bei allen Brüchen und Zufällen in seinem bisherigen Leben eine "Kontinuität des Selbstseins" zu erkennen. Im Grunde sei es sogar egal, ob es den Zufall gibt oder nicht - man müsse Situationen für sich nutzen. Pöppel übt sich in Bescheidenheit wenn er sagt, "dass ich immer weniger von dem verstehe, mit dem ich mich intensiv beschäftige" - und er sieht sich als Dilettant in des Wortes 'delectare' ursprünglicher Bedeutung: sich mit etwas beschäftigen, was einen erfreut.

Indem Pöppel die Frage stellt, was Denken überhaupt sei - ein inneres Gespräch mit sich selbst - gelangt er zu der Erkenntnis, dass wir der "Sklave des Gehirns" sind! Und er sieht die Gefahr, "andere nicht wirklich erreichen zu können, zumindest nicht mit der gesprochenen oder geschriebenen Sprache." Diese und eine weitere Feststellung schrecken natürlich einen Poeten auf: "Ich glaube, wir verlangen zuviel von der Sprache, wenn durch sie und nur durch sie ein Verstehen erreicht werden soll." Wenn er dann gar noch von der "Ideologie des Wortes" spricht und eine "vom Terror des Verstehens befreite Sprache" fordert - ja dann erschrickt man als auf Sprachkommunikation angewiesener Alltagsmensch - als Poet bzw. Künstler könnte man freilich da ein Stück mitgehen, um die Sprache aus der Pragmatik zur Ästhetik zu befreien. Pöppel kreiert den Begriff "Versinnen" für unseren hirngesteuerten Vorgang, allen verbalen Wahrnehmungen eine kognitive Struktur zu geben. Er möchte sein "wissenschaftliches Paradigma" verlassen und eine "Diskurskultur" pflegen.

In dem vorliegenden Buch werden sehr viel mehr Aspekte behandelt, als der Klappentext oder der Rezensent darzustellen vermögen. Eine fundamentale These lautet z.B., dass Rationalität in Emotionalität eingebettet sein solle - oder Pöppel ist der Auffassung, dass es keine Therapie gibt, mit dem Bösen fertig zu werden. Der Autor ist auch überzeugt davon, dass unser Hirn die Welt um uns (re-)konstruiert: "Der Wahrnehmungsgegenstand ist also nicht eindeutig durch eine gegebene Reizkonfiguration bestimmt" - d.h. es gibt entweder nichts objektiv Existierendes oder das, was existiert, ist sowieso anders, als es jeweilige Subjekte wahrnehmen können. Unsere Identität und unsere Zeitlichkeit werden nach Pöppels Ansicht durch Bilder etabliert, die nie "realistisch" sind.

Überraschend oder nicht wird der Garten als "geeigneter Rahmen für das Denken" gesehen - hier verbinden sich Vergangenheit und Zukunft - und wir sind durch ihn ein Teil der Natur. Die Frage nach den "biologischen Grundlagen der Ästhetik" wird weiterhin gestellt werden. Jedenfalls sind wir "in der Lage, uns gleichsam neben uns zu stellen" - uns also zu analysieren bzw. zu bewerten. Mit das schwierigste Problem ist ja der Umgang unseres Gehirns mit der Zeit - Pöppel spricht von einem "zeitlichen Integrationsmechanismus", welcher durch Segmentierung in "Zeitfenster" von 2 bis 3 Sekunden Informationen verarbeitet - wobei der subjektive Eindruck einer Kontinuität eigentlich eine Illusion sei.

Weitere Kapitel beschäftigen sich mit Hirnfunktionen und Hirnschädigungen - den Vorgängen beim Denken bzw. den Unterschieden zur kognitiven Robotik - der Selbsthilfe anstelle von Fremdtherapie - dem Funktionieren von sinnlicher Erfahrung bzw. Orientierung. Und so gelangen wir an den Punkt, dass wir zwar einerseits einen "Rahmen" benötigen, andererseits stetig unseren Horizont erweitern möchten. Ernüchternd für den nach Autonomie strebenden Menschen ist die Feststellung, dass eine Identität ohne die "Anderen" gar nicht möglich sei. Freilich gilt es dazu zu bemerken, dass eine Identität durch den Einfluss des/der Anderen auch gefährdet ist.

Im Schlusskapitel erläutert Pöppel resümierend alle möglichen "Rahmen", die uns "von Natur aus vorgegeben" sind oder die von uns "kulturell bestimmt" werden. Unser evolutionäres Erbe ist solch ein "Rahmen", aus dem "wir nicht herauskönnen" - weitere "Rahmen" sind die persönliche Lebensgeschichte, die alltäglichen Bedingungen, unsere Mitmenschen, der gesellschaftliche und politische Kontext, dann auch Liebe, Schmerz und Tod, der Charakter und das Vertrauen Anderen gegenüber sowie unser Drang nach Sinn. Das vorliegende Buch ist eines der vielseitigsten und abwechslungsreichsten , das man sich zu dieser komplexen Materie wünschen kann - und es ist dadurch angenehm zu lesen, dass sich der Autor nicht abstrahiert, sondern persönlich als spekulierenden Menschen einbringt - Irrtümern und Bedürfnissen genauso ausgeliefert wie der Leser.

(KS; 10/2006)


Ernst Pöppel: "Der Rahmen"
Hanser, 2006. 549 Seiten.
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