Hanne Ørstavik: "Als ich gerade glücklich war"


Johannes Tag beginnt mit einer versperrten Türe und endet mit dem Gefühl "nichts zu fühlen". Dazwischen liegen einige Stunden, in denen Johanne die Geschehnisse der vorangegangenen Wochen und flüchtige Erinnerungen an Kindheitstage in kleinste Elemente zergliedert und einer Neubewertung unterzieht.

Das Glücklichsein der Johanne ist zu dem Zeitpunkt, als sie sich gegen die verschlossene Zimmertüre in der kleinen Osloer Wohnung ihrer Mutter stemmt, bereits ein Schnappschuss aus der Vergangenheit. Die Hauptfigur Johanne ist Tochter und Psychologiestudentin. Beide Rollen erfüllt sie höchst ambitioniert und pflichtbewusst. 

Alles in diesem Buch dreht sich um die Beziehung zwischen Mutter und Tochter, die auf den Leser befremdlich wirkt. Mutter und Tochter scheinen auf den ersten Blick wie zwei enge Freundinnen, man kocht gemeinsam, besucht zusammen sie Sonntagsmesse, sorgt füreinander. In erster Linie ist es jedoch Johanne, die sich sorgt. Sie scheint in dieser Konstellation die Mutter zu sein. Sorgen, Angst und Schuldgefühle bestimmen das Verhältnis Johannes zu ihrer Mutter, die Alleinerzieherin ist. Johanne ist mit den Regeln des Zusammenlebens vertraut, sie kennt es nicht anders; und gerade weil sie ihr eigenes Verhalten ständig überprüft und sich selbst maßregelt, funktioniert diese "Wohngemeinschaft". Ihr eigenes Verhalten misst Johanne an der Bibel, sie ist für Mutter und Tochter oberste Instanz. Parallel dazu stellt die Mutter ihre Grundsätze auf, der wichtigste darunter: Männern ist zu misstrauen, sie sind gefährlich, weil nur an Macht und Sex interessiert. Aus ihrer Sicht ist von einem Mann keine Liebe zu erwarten.

Somit ist die Entfremdung zwischen Tochter und Mutter logische Konsequenz, als sich Johanne in Ivar verliebt. Die Liebe und die Hochstimmung, die damit einhergeht wird von der Mutter misstrauisch registriert. Von diesem Moment an gelingt es ihr, in Johanne immer wieder Schuldgefühle zu wecken. Das Mädchen ist hin und her gerissen zwischen der beflügelnden Liebe zu einem Mann und einem Gefühl der Schuldigkeit gegenüber der Mutter.

Als Johanne von Ivar das Angebot bekommt, mit ihm in die USA zu gehen, wird sie damit vor die Entscheidung gestellt, ein eigenes Leben zu beginnen oder die symbiotische Mutter-Tochter Beziehung aufrechtzuerhalten. Sie beschließt, der Liebe zu gehorchen. Da die Mutter dies ahnt, sperrt sie ihre Tochter am Tag des geplanten Abflugs kurzerhand in ihr Zimmer ein. Auf diese Weise hat sie ihre Tochter verloren, und Johanne wird nicht zurückkehren.

(Bine Tomasovsky; 10/2002)


Hanne Ørstavik: "Als ich gerade glücklich war"
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
dtv, 2002. 180 Seiten.
ISBN 3-4232-4304-X.
ca. EUR 14,-.
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