Hanne Orstavik: "Als ich gerade glücklich war"


Was geht vor im Inneren einer Psychologie-Studentin, die dankbar dafür zu sein hat, das "Hotel Mama" noch bis zum Examen in Anspruch nehmen zu dürfen?
Das verworrene Innenleben der noch nicht flügge Gewordenen Johanne enthüllt sich dem Leser erst allmählich in Form eines Bewusstseinsstroms, als die Studentin am Tag des geplanten Flugs in die USA mit ihrem Freund Ivar sich in die Wohnung eingeschlossen und sich in bangen Stunden auf sich selbst geworfen findet.
Die scheinbar rundum abgesicherte Glaubenswelt, in der Johanne erzogen wurde, entpuppt sich zunehmend als aufgesetzt und bigott, die fürsorgliche Obhut der Mutter als subtiler Mechanismus von Bevormundung und Unterdrückung. Beides: die unreflektierte Konventionen der Kirche wie die kritiklose Anerkennung der mütterlichen Autorität hindern die junge Frau daran, selbstständig zu werden.
Sie stürzen die gehorsame Tochter ab dem Tag in Zwiespalt, Angst und Gewissensnot, als sie zum ersten Mal mit einem Menschen in Berührung kommt, dessen Leben ganz anders ist als ihr eigenes: risikobereit, lust- und gefühlsbetont, heiter, gelassen, ausgeglichen, während Johanne jeden Tag bis zur eigenen Praxisgründung durchgeplant hat, mit ständiger Rückversicherung in Gott. Die Begegnung mit Ivar stärkt sie aber auch in ihrer Abwehr gegen alles und alle, die sie bisher gelenkt und manipuliert haben. Die Sicherheit, die Johanne immer wieder im Glauben sucht, erweist sich als brüchig, da unvereinbar mit ihren zaghaften Ausbruchversuchen. Die vielen Theorien der Psychologie, die in ihrem Kopf herumschwirren (von der Spiraltheorie der Persönlichkeitsentwicklung über die kognitive Psychologie und die visuelle Agnosie bis hin zur Attributionstheorie) erweisen sich als brav auswendig gelernt, haben aber keinen praktischen Nutzen für Johannes Entwicklung. Entwicklung verläuft eben nicht lehrbuchgerecht in geordneten Spiralen, Schichten oder Phasen, sondern sprunghaft, unvorhersehbar, ungeordnet.
Das Aufbegehren Johannes zeigt sich erst zaghaft in ihrem geradezu manischen Spartrieb. ("Ich gab nichts bei der Kollekte. Ich hatte hundert Kronen in der Tasche, aber ich gab nichts." (S. 33) Nicht aus bloßem Geiz, sondern weil sie der Abhängigkeit von ihrer Mutter entrinnen und sich so schnell wie möglich eine eigene Wohnung leisten möchte.

Deutlicher wird ihre uneingestandene Rebellion dann in den Sexphantasien, in denen Gewalt und brutale Sexpraktiken dominieren. Hier vermischen sich der Wunsch, aus den von der Kirche gesetzten Grenzen auszubrechen mit der Furcht vor der Sünde und der Sehnsucht nach Reinigung durch Bestrafung. Beherrschend sind die Bilder von dem angeketteten, den Wünschen anderer ausgesetzten Mädchen, von der Vaterfigur, zu der sie sich hingezogen fühlt, und von der Mutterfigur, der sie ohnmächtig zu Willen sein muss.
Diese Ängste vergiften auch das innig-romantische Liebesverhältnis zu Ivar. "Ich sah uns vor mir, zusammengeschossen von einer Bande Jugendlicher auf der Flucht. Zuerst hatten sie mich vergewaltigt, und Ivar hatte zugesehen." (S. 163)
Johanne widersetzt sich trotz aller Zweifel und Ängste dem eigenen perfekten Lebensplan und dem moralischen Druck der Mutter und wartet abreisebereit, um mit Ivar in die Staaten zu fliegen: freiwillig: ins Chaos, in die Fremde, in die Ungewissheit, nur der Stimme ihres Herzens folgend. Erst am Schluss stellt sich heraus, dass die Mutter die Tochter eingeschlossen hat, um die Reise zu verhindern, um Johanne "eine Art Ruhetag, zum Nachdenken" zu verschaffen, in Wahrheit aber, sie weiter an sich zu binden. (S. 174)
Der Ausbruchversuch ist im Keim erstickt. "Ich versuche in mich hineinzuspüren, aber ich fühle nichts."

Dieser vielschichtige Roman dürfte viele junge Menschen zutiefst berühren, weil ihnen ihre eigene fremdbestimmte Situation in großer Intensität vor Augen geführt wird.
Der bereits vierte Roman der jungen begabten norwegischen Autorin (Jahrgang 1969) macht glaubwürdig, wie schmerzhaft die Abnabelung für junge Menschen von den egoistischen Bindungen an das Elternhaus und kirchliche Konventionen ist.
Die Stärke des Romans: alles bleibt in der Schwebe, nirgends wird moralisiert. Der Leser ist aufgefordert, sich sein eigenes Bild von Personen und Ereignissen zu machen. Er lässt ihn nachdenklich zurück.

(Diethelm Kaminski, Köln 26.08.2002)


Hanne Orstavik: "Als ich gerade glücklich war"
dtv premium 24304, München 2002
180 Seiten
ca. EUR 14,00.
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