Süße ferne Heimat

Meine Frau Olga wurde auf der Insel Sachalin geboren, in der Stadt Ocha. 1000 Kilometer von Tokio entfernt, 10000 Kilometer von Moskau, 12000 von Berlin. In ihrer Geburtsstadt gab es drei Grundschulen mit den Nummern 5, 4 und 2. Die Nummer 3 fehlte, in Ocha kursierte jedoch das Gerücht, dass diese Schule vor 30 Jahren von einem Schneesturm ins Meer gefegt worden war, weil sie ein Stockwerk zu viel hatte. In unmittelbarer Nähe der drei Schulen befanden sich die Straf- und Besserungsanstalten der Stadt: neben Schule 5 das Gerichtsgebäude, neben Schule 4 die Irrenanstalt und neben Schule 3 das Gefängnis. Diese Nachbarschaft hatte eine große erzieherische Wirkung und erleichterte den Pädagogen in Ocha die Zähmung der Jugend. Eine Handbewegung, ein Blick aus dem Fenster wies die Jugend darauf hin, was sie erwartete, falls sie die Hausaufgaben nicht rechtzeitig erledigten.
Zur Freude der Kinder gab es jedes Mal schulfrei, wenn ein Schneesturm auf der Insel wütete oder die Temperatur unter 35 Grad minus fiel. Dann saßen alle zu Hause und warteten auf die Herbstferien. Es existierten nämlich nur zwei Jahreszeiten auf Sachalin, der lange Winter und dann, ab Ende Juli, wenn sich der letzte Schnee auflöste, der Herbst. ...................

(....) Olga sah mit zwölf Jahren auf dem Flugplatz von Chabarowsk zum ersten Mal in ihrem Leben einen Spatzen. "Mama, Mama, schau mal, die riesigen Fliegen", rief sie. "Das sind Spatzen, Spat-zen, keine Flie-gen, du dummes Kartogakind", regte sich ein Mann auf, der seinem Äußeren nach gerade eine Freiheitsstrafe abgebüßt hatte und auf die nächste Maschine Richtung Süden wartete. Er lachte, rauchte gierig und fluchte. "Verdammte Spatzen, verfluchtes Land, verfluchte Kinder, Verfluchte Taiga!".....


(aus "Russendisco" von Wladimir Kaminer)