(...) Aus ihrem Gesichtsausdruck
schloß er, daß die Geschichte sie beeindruckt hatte, aber im Moment wußte er
nicht, worüber er weiter reden sollte.
"Warum haben Sie ausgerechnet mir
diesen Brief geschrieben?"
"Ich habe ein paar Überlegungen angestellt", sagte
sie sehr gewählt. "Erstens möchte ich nicht als Jungfrau sterben, zweitens
möchte ich sexuelle Erfahrungen machen."
"Und warum suchen Sie sich nicht
jemandem in Ihrem Alter? Sex können Sie an jeder Straßenecke finden!"
"Sex
ist Vertrauenssache", sagte sie altklug. "Ich kenne Sie und Ihr Gesicht seit
Jahren aus dem Fernsehen. Sie sind mir mit ihrer Mimik vertraut. Ich habe keine
Angst vor Ihnen. Wenn ich einen Mann auf der Straße oder in einem Lokal suchen
wollte, müßte ich mich erst an sein Aussehen und Gehabe gewöhnen. Dazu habe ich
keine Zeit."
"Ich glaube, Sie machen sich etwas vor", sagte er. "Das ist ja
verständlich in Ihrer Situation. Sie suchen Heilung, Erlösung, ein Wunder, aber
ich bin nur ein normaler Mann und solchen Anforderungen nicht gewachsen. Ich
müßte mich schämen, wenn ich ein solches Angebot annehmen würde!"
"Das nennt
man unterlassene Hilfeleistung", erwiderte sie stur.
"Ich lade Sie gern zum
Essen ein", sagte er. "Dann können Sie mir erzählen, warum Sie eigentlich mit
zweiundzwanzig Jahren noch Jungfrau sind!"
"Das erzähle ich Ihnen erst, wenn
Sie mit mir geschlafen haben. Übrigens weiß ich, daß Ihre Frau nicht da
ist."
"Woher kannten Sie meine Adresse? Mein Agent sagt, er habe sie Ihnen
nicht gegeben."
"Ich habe Sie vor einigen Tagen in einem Café am Kudamm gesehen.
Dann bin ich Ihnen nachgegangen. Es war ganz einfach."
"Haben Sie
denn noch nie einen Freund gehabt?"
"Nein", sagte sie.
"Kann ich jetzt
bitte Ihr Schlafzimmer sehen?" fragte sie und hob wieder den Blick. "Oder ist
Ihnen das peinlich?"
"Ihre Generation ist wirklich sehr direkt", sagte er.
"Da kann man allerhand lernen."
"Das hat nichts mit meiner Generation zu tun.
Ich kann es mir nicht leisten, Zeit zu verlieren."
"Da drüben", sagte er
widerwillig bewundernd. "Sie können ruhig reingehen. Außer einem Bett steht
nicht viel drin."
Ohne zu zögern, ging sie in den Korridor und öffnete die Schlafzimmertür. Nachdem
sie eine Weile fortgeblieben war, befürchtete er schon, sie hätte sich umstandslos
in sein Bett gelegt und würde sich freiwillig nicht mehr erheben. Wie sollte
er sie loswerden? Er hatte noch ein paar harte Drehtage vor sich. Schließlich
ging er ihr nach und sah, daß sie auf dem Boden kniete und einzeln die Bücher
betrachtete, die er las, wenn er schlaflos lag - sein ganzer Vorrat an Lebensweisheiten
und angestrichenen Stellen, der sich in den Bänden neben seinem Bett stapelte;
Sätze, mit denen er sich nachts tröstete und seine Trauer relativierte, indem
er sie mit dem Leiden anderer verglich. Immer wieder las er
Schriften
von Mystikern verschiedener Kulturen. Texte, die Paradoxes ausdrückten und
sich mit der Unlogik des Daseins beschäftigten und der Geringfügigkeit der eigenen
Existenz.
"Es ist so weiß und kahl wie ein
Krankenzimmer", sagte sie, als sie zurückkam. "Mit dem Schlafzimmer haben Sie
sich gar keine Mühe gegeben."
"Haben Sie schon einmal davon gehört, daß auch
von Seiten des Mannes Gefühle im Spiel sind, gewisse Voraussetzungen für sein
Begehren?"
"Sie finden, daß mein Wunsch ungehörig ist", stellte sie nüchtern
fest. "Ich dachte, ein Mann wie Sie stünde über solchen Konventionen."
"Ganz
und gar nicht."
Sie spielt die Rolle der Todeskandidatin, dachte er,
souverän, unsentimental, herzlos. Eine unberührbare wesenlose Undine, die jede
Annäherung verhindern will. Wahrscheinlich ist sie deswegen noch Jungfrau.
Um
ihren Besuch abzukürzen, versuchte er gar nicht erst, ein weiteres Gespräch in
Gang zu bringen, und schützte einen Termin vor, für den er sich umziehen müsse.
Danach holte er ihren Anorak und den kleinen Rucksack, den sie mitgebracht
hatte. Ohne Widerstand ließ sie sich von ihm hinausführen; den Versuch, eine
neue Verabredung mit ihm zu treffen, unterließ sie zu seiner Erleichterung. Das
Taxi, das er gerufen hatte, wartete bereits vor der Tür. Sie hatte die Perücke
wieder aufgesetzt und sah in der Jacke so unförmig eingepackt aus wie beim
Hereinkommen. Eiskalter Regen stach ihnen ins Gesicht, während sie die paar
Schritte zum Auto gingen.
"Wohin müssen Sie jetzt?"
"Nach
Friedrichshain."
Er gab dem Taxifahrer einen
Fünfzigmarkschein.
"Irgendwann können wir mal zusammen essen gehen", sagte er
freundlich zu ihr und ging zur Haustür zurück. Mit einem Seitenblick erfaßte er
noch, daß das Taxi hundert Meter weiter anhielt, wo sie ausstieg und den kleinen
Rucksack über ihre Schulter hängte. Sie schaute sich nicht um. Wie gejagt lief
er die Treppen zu seiner Wohnung hoch bei dem Versuch, warm zu werden. Dabei
fiel ihm ein, daß sie der erste Mensch war, der ihn in der neuen Wohnung besucht
hatte. Auf der Küchentheke standen die Blumen, die sie mitgebracht hatte -
knallrote Tulpen, die schlaff von den Stielen hingen, die Blüten mit den
schwarzen Staubgefäßen weit geöffnet. Plötzlich hatte er das Gefühl, alles
verkehrt gemacht zu haben.
(Aus "Der Antrag" von Marielouise Jurreit.)
Der als Fernsehkommissar berühmte
Schauspieler Harry Weinlaub kommt mit seiner neuen Rolle nicht klar. Bei den
Dreharbeiten bricht er zusammen. Zu Hause findet er einen Brief mit dem Foto
einer jungen Frau, die sich als unheilbar krank darstellt. Auch ihre
Jungfräulichkeit deutet sie an. Sie will mit ihm schlafen. Eine publicitygeile
Göre, die zu viel ferngesehen hat, das ist die einzig plausible Erklärung für
diesen verrückten Wunsch. Doch als Katja Westermann, ein schmales,
mädchenhaftes, aber selbstbewusstes Wesen, eines Tages vor seiner Tür auftaucht
und zielstrebig in das Schlafzimmer geht, gerät Weinlaub in die Klemme. Eine
seltsame Liebesgeschichte beginnt, die sich so ganz anders entwickelt, als
Weinlaub es erwartet, und deren fataler Verlauf nicht mehr umkehrbar
ist.
"Der Antrag" ist ein Berlin-Roman, der im Theater- und Filmmilieu
spielt, ein Ost-West-Roman und eine Vater-Sohn-Geschichte, in der dieser
Urkonflikt durch den Schatten, den die deutsche Nazivergangenheit wirft, ganz
wesentlich verschärft wird.
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