Hella Haasse: "Die Gärten von Bomarzo"


Orsini bringen den Garten zum Singen. Wer Ohren hat, der höre.

Die am 2. Februar 1918
in Batavia, dem heutigen Jakarta, geborene und am 29. September 2011 in Amsterdam gestorbene Hella Haasse wurde gerne - naturgemäß zunehmend mit den vergehenden Jahrzehnten - als Grote Dame der niederländischen Literatur bezeichnet. In diese hatte sie sich 1948 fulminant, nicht mit einem einzigen Satz zwar, sondern den vielen ihres Romanerstlings "Oeroeg" (deutsch: "Der schwarze See"), der zunächst als bookenweekgeschenk - eine während der alljährlichen niederländischen Bücherwoche verdienstvollen Lesern zukommende Gabe - und noch ohne den Namen der Autorin herausgekommen war, katapultiert.
Neben ihrer lebenslangen Beschäftigung mit dem ehemaligen Niederländisch-Indien und ihrer Kindheitsinsel Java hegte Hella Haasse eine starke Vorliebe für historische Themen wie beispielsweise
die italienische Renaissance, mit der sie sich nicht nur in dem vorliegenden Buch auseinandergesetzt und wofür sie mit "Die Gärten von Bomarzo" in dem vielleicht exzentrischesten Park der Epoche einen originellen Ausgangspunkt gefunden hat.

Trotz des äußerst romantauglichen Materials betätigt sich Hella Haasse dabei als eine ganz von Interesse und Leidenschaft für ihren Gegenstand erfüllte Sachbuchautorin, die ihrerseits etliche Bücher rund um den Themenkreis gelesen und verarbeitet hat und nun auf solchem breiten Fundament zu eigenen seriösen Spekulationen anhebt. Diese drehen sich um Schöpfer und Motive für den Garten (die Gärten, wenn man der gesamten Anlage verschiedene Abschnitte und Höhenunterschiede, beinahe, wie Haasse meint, unterschiedliche Klimazonen, mitberücksichtigt) und seine berühmtesten Attraktionen, teils riesige, keinem Kunststil zuordenbare und also in mindestens doppelter Hinsicht monströse Steinskulpturen. Indirekt wird freilich die ganze Epoche beleuchtet, denn nicht nur mythologische, auch historische Bezüge scheint es bei der Geburt dieser Ungeheuer viele gegeben zu haben.

Als Auftraggeber gilt gemeinhin Pierfrancesco Orsini, genannt Vicino, der etwa von 1542 bis zu seinem Tod im Jahre 1585 (auch über die meisten Jahreszahlen gibt es unter den Historikern Dispute; das 55 Jahre nach Haasses Arbeit verfasste Nachwort wartet mit einigen wenigen Berichtigungen auf) Herr über Bomarzo, eine kleine Grafschaft im Latium, damit auch den parco dei mostri - so der übliche italienische Name der Anlage - und mit Sicherheit verantwortlich für den Umbau des dazugehörigen Schlosses war. Keineswegs ausgeschlossen, wie so vieles im Zusammenhang mit dem Garten, ist es freilich, dass Vicinos Vater Giancorrado, der schon den Grundstein für den Schlossumbau gelegt, mit den Figuren ebenfalls etwas zu tun hat. Darüberhinaus verdächtigt Hella Haasse einen weiteren Orsini, einen gewissen 1500 oder 1502 jungverstorbenen Orsino - kein direkter Vorfahre Vicinos, sondern einem sogenannten Nebenzweig entstammend und (daher wohl der Verdacht) ein an den Rand gedrängtes, einigermaßen unglückliches Schicksal - der eigentliche geistige Vater der Steinmonster zu sein.
So oder so - Orsini brachten den Garten zum Singen, und zumindest indirekt dürfte auch die Familie Farnese einen Beitrag geleistet haben, denn sowohl Vicino als auch Orsino waren jeweils mit einer Giulia Farnese verheiratet (während Giancorrado lieber unter sich blieb und eine andere, einen päpstlichen Dispens nötig machende Orsini heiratete).
Bei den Farnesi handelte es sich ebenfalls um eine alte Adelsfamilie der Region, vielleicht nicht ganz so alt wie die Orsini, hinwiederum mit einem Papst in ihren Reihen: Paul III., von 1534 bis 1549 Oberhirte der katholischen Kirche, außerdem Onkel der jüngeren und Bruder der älteren Giulia, welcher zweiteren (zwar mit Orsino Orsini verheiratet, bekannt geworden jedoch als Geliebte des damaligen Papstes Alexanders VI., des berüchtigten Borgia-Papstes) er wohl die frühe Kardinalswürde und einen abscheulichen Spitznamen, den Hella Haasse wohlerzogen übergeht, verdankte. Besonders in langfristigen wichtigen Angelegenheiten dürfte in den Familien ähnlich gedacht worden sein:

"Orsini und Farnese: sehr alter, noch aus der Antike stammender Adel aus dem Herzen Latiums, geprägt von Ansichten und Traditionen, die in der fernen, primitiven Vergangenheit all der unterschiedlichen Völker wurzeln, aus denen das italienische Volk sich zusammensetzt, erfüllt von einem unausrottbaren Elitebewusstsein, außerdem besessene Träger eines Gedankens, der laut heutigen Sozialpsychologen bei den Italienern immer noch zu finden ist, nämlich "römisch-katholisch" zu sein, zu einem Volk zu gehören, das dazu auserwählt ist, der Christenheit Anführer zu schenken." (S. 82/83)

Unter welchen Umständen, veranlasst vielleicht durch welche persönlichen Qualen, unter Zuhilfenahme welcher mythologischen und historischen Anspielungen, aufgrund welcher Tarnungen und Zukunftsvisionen sind also diese schwer zu deutenden, wenn nicht sogar von vornherein mehrdeutig angelegten Steinfiguren entstanden, was sollen beziehungsweise können sie versinnbildlichen? Der Brunnen mit der Großen Schildkröte, auf deren Rücken noch Reste einer vermutlich in eine Posaune blasenden Fama zu sehen sind, ein Avernus mit weitaufgerissenem, wahrscheinlich in die Unterwelt führendem Mund, der geflügelte Pegasus, der dreiköpfige Höllenhund Cerberus, zwei kämpfende Giganten (oder ein den brutalen Riesen Cacus übel zurichtender Herkules), ein Elefant, der ähnliches mit einem römischen Krieger anstellt, die Drachen, Feen, Nymfen und sonstigen fremden Wesen, die verschiedenen Brunnen und Wasserspiele (ein Bach durchläuft das Grundstück, nicht weit ist es zum Tiber), das über einem Abgrund hängende schiefe Haus, der am obersten Punkt des Parks befindliche Tempel, der je nach der Seite, von der man sich nähert, als der Vesta geweihter Rundtempel oder eine Art Mausoleum mit dorischen Säulen erscheint, derweilen unvermutete Seitenpfade, viel finstere Bewaldung und haushohe Felszacken bizarrer Tuffsteinfelsen den morbiden Gesamteindruck, dem man laut der zweimal zu Besuch gewesenen Schriftstellerin nicht auskommt, abrunden. Dazumal werden natürlich diverse üppige Blumengärten angelegt gewesen sein, über welche zumindest angenommen werden darf, dass darin nicht wenige Rosen und Lilien (parallel zu ihrem Vorkommen in den Wappen der Orsini bzw. Farnesi) geblüht haben; Versetzungen und Neuarrangements der Figurengruppen könnten ebenfalls stattgefunden haben.
Hella Haasse springt von den Figuren zu den politischen Umständen und zurück, bezieht sich auf historisch gesicherte Daten, zitiert aus Zeitdokumenten, sinniert über mögliche Intrigen und persönliche Befindlichkeiten ebenso wie über Einflüsse etruskischer (die alte Etruskerstadt Viterbo liegt in nächster Nähe), asiatischer und ägyptischer Symbolik. Von letzterer beispielsweise führt für Haasse ein deutlicher Verbindungsstrang zu dem schillernden Gelehrten und Scharlatan Annius (1437-1502), welcher eine Zeitlang in den Diensten Papst Alexanders stand, für diesen ein paar hübsche Kleinigkeiten wie etwa Gründungsmythen ersann, antike Gegenstände mit zusätzlichen Zeichen wie dem Stier der Familie Borgia versah oder gleich zur Gänze fälschte und schließlich unter ungeklärten Umständen (Cesare Borgia gilt in solchen Fällen üblicherweise als der Hauptverdächtige) ermordet wurde.

Insbesondere spürt die Autorin der geistigen Atmosfäre nach, die Vicino Orsini seinen erlesenen Gästen als Hintergrund für diverse Unterhaltung und manch intensive Diskussionen zu bieten bestrebt war. Allen voran seinem engen Freund, dem freigeistigen Kardinal Madruzzo, welchem das schiefe Haus (möglicherweise eine kleine Bosheit, wahrscheinlich aber auch dieses Sinnbild wie so vieles in dem Garten mindestens doppeldeutig) gewidmet war, der in Zeiten wachsenden Glaubenseifers den Geist der Renaissance und seine humanistischen Idealen zu bewahren suchte (und beim Konzil von Trient in diese Richtung sehr aktiv war). Oder Bernardo Tasso, dem Schöpfer von Versen, die - ebenso wie manches aus den Werken Petrarcas, Ariosts und anderer Dichter - zu den Gärten inspiriert haben könnten. Über bleibende Schäden beim kleinen Torquato, der bei solcher Gelegenheit möglicherweise einmal mitgenommen wurde und so den Garten mit eigenen Augen zu sehen bekam (man lese die Passage mit dem verhexten Wald aus "Das befreite Jerusalem"), stellt Haasse keine Vermutungen an, wohl aber darüber, was es zwischen dem Sacco di Roma und der Seeschlacht von Lepanto, in Zeiten der Bedrohung zwischen der osmanischen Gefahr im Osten, zwar katholischen, aber allzu dominanten Spaniern im Westen und seit kurzem protestantischen Ketzern im Norden zu bereden und geistig-kulturell entgegenzusetzen gegeben habe.
Papst Julius II. könnte gleichfalls Gast in Bomarzo
gewesen sein und manche Figuren bzw. Figurengruppen daher so gewählt, dass sie in einem ihm gefälligen Sinn gedeutet werden konnten, ohne dabei andere Interpretationsmöglichkeiten zu verraten und nicht zuletzt die entschlossen heidnische Grundierung allzu sehr in den Vordergrund treten zu lassen. Haasse beschäftigt sich sogar mit der Möglichkeit, dass Giancorrado, der Vertraute und Vasall von Papst Julius, manches ironisch, in Anspielung auf die ebenfalls beachtlichen, obwohl nicht ganz so bizarren päpstlichen Gärten in Rom arrangiert haben könnte.

Ziemlich wild (andererseits bester Romanstoff - viele in späteren Jahrhunderten geschriebene Erzählungen spielen in der Zeit) dann die Spekulationen über den ältesten Orsini, den vom Papst gehörnten Orsino, zumal nur dessen Besitz des Nachbargrundstücks Basanello verbrieft ist, was bei den unklaren, rasch wechselnden Besitzverhältnissen um 1500 allerdings nicht viel besagt. Hella Haasse führt in ihren diesbezüglichen Überlegungen vorzugsweise in Bereiche, welche auch auf die Romanautorin eine große Anziehungskraft ausüben, wobei sie mit dem Aufzeigen von Möglichkeiten, wie es und warum es so gewesen sein könnte, auch die damaligen Lebensumstände zu verdeutlichen sucht. Dies alles mit dem Selbstbewusstsein ausgiebiger Recherche und manch seltenen zu Tage beförderten Zeitdokuments, wie man sich etwa eine Aristokratenhochzeit in den Neunzigerjahren des fünfzehnten Jahrhunderts vorzustellen habe (ziemlich patriarchalisch - gewiss, aber im Detail sehr interessant).
Ihren Plausibilitätskriterien bleibt die Autorin durchgängig verpflichtet, ob sie weit entfernten Gegenständen wie den steinzeitlichen Vorgängern antiker Rituale nachgeht, Symboliken des Labyrinthes andenkt, über die Herkunft diverser Volksbräuche, die Bedeutungstiefe von Flussnymfen, die Bedeutungsvielfalt der Herkules-Gestalt in der Renaissance referiert, Atmosfärisches oder kurze Porträts historischer Persönlichkeiten entwirft. Zu Rodrigo Borgia beispielsweise folgende Ein-Satz-Charakterisierung:
"Er gab sich den Namen Alexander VI. und war einer der am wenigsten fassbaren Menschen der Geschichte, brillant, temperamentvoll, familiär, unberechenbar, korrupt, großzügig, ein Diplomat, ein Genussmensch, ein Liebhaber der Frauen, Grand Seigneur, weltlicher eingestellt als alle fast ausnahmslos weltlichen Prälaten jener Zeit zusammen, auch beneidet und verhasst wie sonst keiner." (S. 65)
Selbst dann, wenn Haasse mit ein bisschen Klatsch aufwartet (zur Abwechslung einmal aus dem Pesaro der Familie Sforza, wo seinerzeit ein imaginärer Wettbewerb der besten Geliebten für den Papst im Gange war), dient dies einzig der Annäherung an die damalige Wirklichkeit (konkret der Unterstreichung des Stellenwerts Giulias zu einem gewissen Zeitpunkt).

Erst ganz am Ende des irgendwo zwischen langem Essay und sehr spekulativem Sachbuch angesiedelten Werks verliert Hella Haasse ein paar Worte über ihre Beweggründe:
"Flucht in die Vergangenheit? Ich weiß nicht, wo das Heute aufhört und die Vergangenheit beginnt. Nichts ist jemals ganz vorbei. Die Geschichte kann auf tausend Arten geschrieben und neugeschrieben werden. Unter der Oberfläche des geeichten Bildes von der Historie verborgen, in der Tiefe, in der Masse des imposanten Materials liegen, bisher unentdeckt, die Verbindungspunkte anderer Bilder mit einer anderen Perspektive und vollkommen anderen Formen und Abmessungen.
Das Obenstehende, Die Gärten von Bomarzo
, war eine Spurensuche nach solchen neuen Knotenpunkten - oder zumindest der Versuch dazu."

(fritz; 08/2023)


Hella Haasse: "Die Gärten von Bomarzo"
(Originaltitel "De tuinen van Bomarzo")
Aus dem Niederländischen von Christian Welzbacher und Gregor Seferens
Wagenbach, 2022. 160 Seiten.

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