Volker Reinhardt: "Der Unheimliche Papst"

Alexander VI. Borgia 1431-1503


O tempora, o mores

Mitte des 15. Jahrhunderts wanderte eine Familie aus Spanien nach Italien ein, die ein knappes Menschenalter lang die Geschicke Italiens prägte. Der ursprüngliche Name Borja lässt bereits ahnen, was das später italienisierte Borgia zur Gewissheit werden lässt: Cesare Borgia, ein Name, bei dessen Erklingen ein ganzes Land zusammenzuckte. Und Lucrezia Borgia, aus deren Hand, wie berichtet wird, kein Mensch ein Getränk angenommen hätte. Nicht zu vergessen Rodrigo Borgia, der als Alexander VI. in die Geschichte einging.

In diesem Bild mischen sich, wie so oft bei geschichtlichen Skizzen, Dichtung und Wahrheit. Cesare Borgia war so schlimm, wie erzählt wird. Doch Lucrezia Borgia trug in Wirklichkeit wenig zu ihrem Ruf bei. Und der legendäre Papst, der Motor der Familie Borgia?

Die Wirkungsgeschichte des Papstes Alexander VI. inmitten der Renaissance scheint eine Diskontinuität zu unterstellen. Doch es fällt bei genauerem Hinsehen schwer, den Bruch zu lokalisieren. Schert der Papst Alexander VI. aus der Reihe seiner Vorgänger und Nachfolger aus oder passt er sich doch im Wesentlichen in die Entwicklung ein? Bildet womöglich Cesare Borgia die Singularität oder ist er nur Geschöpf seines Vaters und Produkt seines Standes? Ist es gar unser moderner Blickwinkel, der eine Renaissance - übrigens ein Begriff aus dem 19. Jahrhundert - aus der entwicklungsgeschichtlichen Distanz der Jahrhunderte erkennt und einen Bruch unterstellt, wo die damalige Chronik selbst nur eine Kontinuität mit allenfalls graduellen Abweichungen zu notieren vermochte?

Diese Fragen beschäftigen wohl manch bildungsbeflissenen Zeitgenossen, der den geschichtlichen Rauch von mehr als 500 Jahren etwas abziehen lassen möchte, auf dass sich deutlichere Konturen abzeichnen mögen. Diesen Zeitgenossen sei dieses überaus spannende Buch auch wärmstens empfohlen.

Im Vorwort schreibt der Autor: "Die Regierungszeit Alexanders VI. lässt sich [...] als ein negatives Lehrstück auffassen. Es handelt davon, wie man Macht so ausübt, dass daraus am Ende Machtverlust hervorgeht. Und es zeigt auf, wie man reiches finanzielles und politisches Kapital so einsetzt, dass man am Ende ohne soziales Kapital dasteht. Von der Vernichtung fremder Systeme wie von unfreiwilliger Selbstzerstörung ist somit die Rede. Bei aller Unverwechselbarkeit im Einzelnen weist die Geschichte Alexanders VI. und der Borgia somit Ähnlichkeiten zu späteren Zeiten, und zwar auch zur Gegenwart auf. Bestünde diese schmale Brücke zwischen den Jahrhunderten nicht, warum sollte man sich dann überhaupt mit der Vergangenheit abgeben?"

Diese Aussage, dass die Historie nur durch die Ähnlichkeit zur Gegenwart Anlass zur Beschäftigung biete, kann natürlich für einen Historiker, der der Autor letztlich ist, nicht ernst gemeint sein. Eine geschichtliche Handlung beeinflusst andere zeitgleiche und nachfolgende geschichtliche Handlungen und dient letztlich dem Verständnis einer Epoche. Nur die Ableitung einer solchen Handlung oder eines Handlungsmusters hat einen realen Gegenwartsbezug.

Die Renaissance ist eine der spannendsten Kulturepochen der europäischen Geschichte, wenngleich sie nominell einen Rückgriff auf die Vergangenheit zum Programm erhob. Angesichts der fatalen kulturellen Entwicklung das christlichen Mittelalters wagten vereinzelte Denker im späten 14. Jahrhundert den Ausstieg aus dieser Entwicklung durch den Rückgriff auf das einst gesicherte kulturelle Niveau der Antike, eben eine Art Wiedergeburt im Sinne des Wortes Renaissance.

Beginnend mit Francesco Petrarca wurde die Kultur im 14. Jahrhundert aus der engen christlichen Umklammerung gelöst, die Literatur, Philosophie, Architekt und Kunst in die ausschließliche Bestimmung der Huldigung des allumfassenden Gottes einband. Die Literatur der polytheistischen Antike war potenziell ketzerisch und die teils freizügige Körperlichkeit der Antike zu Zeiten der Körperfeindlichkeit des ausgehenden Mittelalters zumindest eine Herausforderung. Und ohne lokalen fürstlichen Schutz durch einzelne aufgeschlossene Fürsten, wofür stellvertretend die Medici gepriesen seien, wäre die Renaissance auf einzelne Studierstuben und die Scheiterhaufen beschränkt geblieben.

Auch wenn vereinzelte Fürstenhöfe der veränderten Geisteshaltung inzwischen Platz eingeräumt hatten, herrschte in Europa politisch allenthalben ein Hauen und Stechen, dessen Motivation in Sicherung und Ausbau der Macht begründet liegt. Im Vordergrund stand zwar zumeist die aktuelle persönliche Situation der Machthaber, aber ein starker Fokus lag auf der dynastischen Kontinuität zugunsten der Familie und hier natürlich insbesondere der eigenen Nachkommen.

Diese Prinzipien gelten auch für den  Kirchenstaat, der de facto seit dem 4. Jahrhundert als Patrimonium Petri existierte. Aufbauend auf der gefälschten Konstantinischen Schenkung geht der Kirchenstaat formell auf die Pippinische Schenkung aus dem Jahre 751 zurück. Doch auch damals war diese Pippinische Schenkung bereits die Gegenleistung für die päpstliche Anerkennung der Königswahl des schenkenden Pippins. Hier leitet sich schon ein Prinzip ab, das bis ins 17 Jahrhundert hinein die Geschicke des Vatikans leitete. Im Gegenzug für päpstliche Gunstbezeugungen und vatikanische Ämter wurden großzügige Geschenke entgegen genommen. Wer mit dem Segen des Papstes regierte, hatte immerhin zumeist nach innen Ruhe. Und wer sie verwirkte, die päpstliche Gunst, der machte sich auch schon mal von dem südhessischen Trebur aus auf den Weg ins Winterquartier des Papstes nach Canossa, wie jener berühmt gewordene Salier mit den kalten Füßen.

Es erwies sich letztlich als Schwäche des Papsttums, dass praktisch nur Mitglieder des Adels Zutritt zu den höheren Ämtern besaßen. Denn ein Kardinalat diente oftmals in erster Linie nicht dem Seelenheil des betreffende Kardinals oder gar der kollektiven theologischen Reife des Klerus, sondern rein dynastischen Interessen, waren doch Kardinäle hoch angesehen und verfügten über sehr einträgliche Pfründen. So wurden denn gelegentlich 15-Jährige zu Kardinälen ernannt, die kaum des Lateinischen mächtig waren. Das zugrunde liegende Prinzip war in bescheidenerem Ausmaß auch im Bürgertum anzutreffen, indem der Erstgeborene das väterliche Erbe antrat und der Zweite eine geistliche Laufbahn einschlug. Diese geistliche Laufbahn vermied die Teilung des Erbes des Erstgeborenen.

So könnte man die Gemengelage aus neuen intellektuell-kulturellen Ansätzen und traditionellen Machtverhältnissen beschreiben, die Rodrigo Borgia, der spätere Papst Alexander VI., vorfand und für sich so genial und fatal zu nutzen wusste. Als er Papst wurde, hatte er acht Kinder, doch er war nicht der einzige Papst, für den Papa eine doppelte Bedeutung hatte. Er verkaufte rund vierzig Kardinalstitel, aber wie groß ist der Unterschied zwischen einem verkauften Titel, dreien oder gar deren vierzig? Und er war auch nicht der einzige Papst, der sich eine Mätresse hielt.

Der Kirchenstaat existierte bis ins 19. Jahrhundert hinein, also letztlich eineinhalb Jahrtausende lang, als territoriales Gebilde mit durch und durch feudalen Strukturen. Ganz nebenbei sei bemerkt, dass nur ganz wenige territoriale Einheiten diese Kontinuität aufweisen können. Um des Überleben des Kirchenstaats und damit eng verbunden des Vatikans wegen bedurfte es erfolgreicher Regenten, die ihren Gegenspielern - Päpste redeten (andere) Könige schließlich als Cousins an - mindestens ebenbürtig waren.

Fazit:
Es ist die Absicht des Rezensenten, die Neugierde auf ein mit 250 Seiten doch recht kompaktes Geschichtsbuch zu wecken, ohne dabei reihenweise Fürsten, Könige, Päpste und Kardinäle aufzuzählen. Das sei in einsprechender Breite und Tiefe dem Buch vorbehalten. Die Liste derer, die Alexander VI. in ihrem literarischen Schaffen beeinflusste, ist beeindruckend. Niccolò Machiavelli studierte ihn und seine Taten aus der großen zeitlichen Nähe von 30 Jahren. Martin Luther wurde durch Alexander VI. und seinen Widersacher und Nachfolger Julius II. wesentlich motiviert, seinen Protest öffentlich kundzutun. Gleiches gilt auch für seinen großen Zeitgenossen Erasmus von Rotterdam. Doch auch Mario Puzo nimmt für seine Romane Anleihen bei der Familie Borgia, wie er selbst bekundete.

(Klaus Prinz; 08/2005)


Volker Reinhardt: "Der Unheimliche Papst"
C.H. Beck, 2005. 280 Seiten. 12 schwarz-weiß Abbildungen.
Anhang: Zeittafel, Familienstammbaum der Borgias, Anmerkungen,
Literaturhinweise, Personenregister.
ISBN 3-406-44817-8.
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Volker Reinhardt, geboren 1954, ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Deutsche Familien. Historische Porträts von Bismarck bis Weizsäcker"

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"Francesco Guicciardini (1483-1540). Die Entdeckung des Widerspruchs"
Volker Reinhardt arbeitet in seiner Darstellung von Leben und Werk des florentinischen Politikers Francesco Guicciardini die Zeitgebundenheit ebenso wie die Aktualität einer faszinierenden Ideenwelt am Beginn der Moderne heraus.
Francesco Guicciardini, florentinischer Patrizier, Provinzgouverneur im Kirchenstaat und von 1523 bis 1527 einer der einflussreichsten Berater Papst Clemens' VII. Medici, ist einer der herausragenden politischen und historischen Denker der europäischen Renaissance. Seine Texte gehen auf unmittelbare Erfahrung erregender Zeitgeschichte zurück. Erlebt und reflektiert werden nicht weniger als drei innere Revolutionen von Florenz und vor allem die Katastrophe des Sacco di Roma von 1527, die Plünderung und Verwüstung der Ewigen Stadt, welche auch die persönliche Existenz Guicciardinis zutiefst erschüttert. Ausgehend von diesen äußeren Umbrüchen, welche die verbrieften Werte von Staat und Gesellschaft hinfällig erscheinen lassen, stößt Guicciardini durch unablässiges Hinterfragen der Tradition und des Scheins schließlich in intellektuelles Neuland vor. Er entwickelt eine Theorie der Staatsräson, die das unbegrenzte Selbsttäuschungspotential des Menschen für eine zugleich starke und milde politische Ordnung nutzbar machen möchte, und eine Religionskritik, welche die menschliche Erkenntnis auf die natürlichen Dinge beschränkt. Seine eigentliche Entdeckung aber ist der alles umfassende, die Lebens- und Vorstellungswelten gleichermaßen ergreifende Wandel des Menschen in der Zeit: Geschichte als Aufbruch ins Unbekannte. Die hier vorgelegte Studie verklammert in methodisch neuartiger Weise Leben und Werk, deutet die Texte als Aufdeckung unauflöslicher Widersprüche zwischen Leben und Moral, stellt Autor und Werk in einen auf dem neuesten Stand der Forschung revidierten Zeitrahmen ­ und arbeitet auf diese Weise Zeitgebundenheit wie Aktualität einer faszinierenden Ideenwelt am Beginn der Moderne heraus. (Wallstein)
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