Harry Mulisch: "Der Diamant"
Rasanter,
abwechslungsreicher Klamauk aus dem Jahr 1954
Es ist kein einfaches Unterfangen, ein Exemplar dieses Romans (in
deutscher Übersetzung) in einem Antiquariat aufzustöbern, denn von "Der
Diamant" ist die bislang einzige im Jahr 1961 erschienene Auflage
freilich vergriffen, sodass eine gehörige Portion Glück nötig ist, um
seiner habhaft zu werden, beinahe, als suchte man einen echten Diamanten
von besonderer Beschaffenheit.
Die vor der Lektüre erforderliche Geduld des Suchenden steht in
ernüchterndem Gegensatz zum Buchinhalt, denn Mulischs eigenwilliger
zweiter Roman, wohl eher eine Ansammlung von lose verbundenen
Kurzgeschichten, hat offenbar überhaupt keine Zeit zu verlieren. Im
Eiltempo schmettert er dem Leser die Geschichte eines Diamanten von
dessen Auffindung und weiterem Schicksal entgegen. Ein offenbar
ebenfalls in größter Eile befindlicher, mitunter etwas versponnen bis
lustlos wirkender Erzähler weist im Prolog jegliche Verantwortung für
die geschilderten Ereignisse von sich, vielmehr bürdet er diese einem
verstorbenen Vorgänger auf - und schon ist man mitten im Geschehen!
"Denn die Geschichten der Diamanten sind solche von Tod und Grab. Es
gibt solche gefährlichen Geschichten von vielen Diamanten. Jetzt folgt
die Geschichte des Diamanten, der vor fünfundzwanzig Jahrhunderten
gefunden wurde und der größer war als jeder andere. War!
Denn er ist nicht mehr." (S. 10)
Der leidgeprüfte Diamantensucher Diptadharma findet vor langer Zeit nach
Jahren unsäglicher Mühen bei einem Sturz zufällig einen Riesendiamanten,
woraufhin Naturgewalten losbrechen und ihn ein weiser Alter vor den
Konsequenzen seiner Träumereien warnt. Doch Diptadharma sieht sich
bereits als verheirateten Würdenträger, allerdings erlebt er am
Königshof eine böse Überraschung - und zwar die letzte seines Lebens.
Mit historisch verbrieften Gepflogenheiten am Königshof hält sich
Mulisch nicht auf, eher meint man, in eine rasante Historientragikomödie
voller Klischees geraten zu sein, es fliegen die Fetzen, Menschen werden
ermordet, der Herrscher hütet seinen Schatz bis zum Tod, danach tritt
der Diamant mit verschärftem Tempo seine Reise durch die Jahrhunderte
an, inzwischen in zwei Teile zerbrochen. Der Unheilsbringer geht durch
viele Hände und kostet zahlreiche Männer und Frauen sowohl Leben als
auch Verstand.
Es ist eine turbulente Geschichte von Sehnsucht nach Reichtum und
Erleuchtung, von Habgier, von Herrschern und Unterdrückten (Mulischs
Kommunismusfaible!), von Unheil und Aufopferung, von Schuld und Buße,
voller hurtig eingebauter Symbole, glitzernder Philosophiesplitter und
allerlei Religionsschnipsel. Ein Sklavenaufstand im Alten
Rom, in dessen Verlauf ein Teil des Diamanten mitsamt dem
Rädelsführer unter die Erde gerät, darf ebensowenig fehlen wie ein
fliegendes Orakel in
Tibet und ein Tartarenüberfall auf ein Nonnenkloster, wo die
Äbtissin, genannt
"Verzauberte Sau", den anderen Teil des Diamanten durch verbale
Unachtsamkeit verkohlt. Ihr Briefwechsel mit dem General der Tartaren
zählt wohl zu den heitersten Episoden des Romans.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird das zweite Bruchstück des Diamanten
bei Rom wieder ausgegraben, und etwa ab Seite 230 erreicht der Roman
gewohntes Mulischniveau.
Wenig später entwendet die womöglich übersinnliche Madame Buchowa den
wiedergefundenen verbliebenen Diamanten aus einem Museum und begeht
dabei einen Mord. Sie begründet in Paris eine
esoterische Geheimlehre, und eine der Nachfolgerinnen der Madame
endet nach der spitzfindigen Intrige eines ihrer diamantgierigen
Anhänger unter dem Fallbeil. Für aufmerksame Leser übrigens eine Passage
voller Déjà-vu-Erlebnisse.
Nur selten bringt der Diamant im Verlauf der Jahrhunderte einem seiner
vorübergehenden Besitzer kurzzeitig Glück oder darf in einer
verehrungswürdigen Statue ruhen. Ein letztes Mal steht er im Mittelpunkt
eines rauschenden Fests, im Zuge dessen der gar nicht edle
Spendierhosenträger mit mordlüsterner Nachhilfe seines Alleinerben
Selbstmord begeht, der reiche Schmuggler flieht nach Deutschland, und
nachdem US-Militärs ihre Begierde vergebens auf den waffentauglichen
Diamanten gerichtet haben, ist der Letzte in
der langen Reihe der Unglücklichen ein einfältiger Müllkutscher
mit Gesangsambitionen aus Schiphol, der sich gar mittels einer Sense
enthauptet, nachdem er einen vernichtenden Wahrheitsbeweis geliefert
hat.
Bekanntlich waren charmante Übergänge Mulischs Sache nicht, und so
mäandert und tentakelt die Geschichte mehr oder weniger munter durch
Zeiten und Welten. Die Kapitel sind wie folgt betitelt: "Prolog", "Am
Ganges", "Am Tiber", "Am Jang-tse", "An der Seine". Alles im Fluss.
In etlichen Dialogen, z.B. zum Thema eheliche Treue, blitzen Mulischs
feine Ironie, Lebenserfahrung und Menschenkenntnis auf, wohingegen
Landschaftsbeschreibungen und Schilderungen historischer Begebenheiten
weniger inspiriert anmuten, mehr Pflicht als Kür sozusagen, derlei
merklich nur Theater und Kulissen. Einfühlungsvermögen in andere Zeiten
und Kulturen spielte offenkundig eine unbedeutende Nebenrolle, vorrangig
waren allem Anschein nach eigene Gedanken des Schriftstellers (z.B.
immer wieder über das Lachen), sprechende Namen, möglichst
ereignisreiche Szenen und allerlei absonderliche Figuren, und so wundert
man sich besser nicht über Aussagen oder Überlegungen mancher
Romangestalten, die ihrerseits wie Zeitreisende erscheinen, indem sie
Zukünftiges thematisieren.
Ein wesentlich eleganteres und auch geglückteres Beispiel für die
Verwendung absichtlicher Anachronismen und historischer Fantasien ist
Christoph Ransmayrs anno 1988 erschienener großartiger Roman "Die
letzte Welt". Allerdings scheinen sich die Musen inzwischen
verflüchtigt zu haben, denn neuere Werke des 1954 auf der Weltbühne
erschienenen österreichischen Autors sprechen eine gänzlich andere
Sprache und zeichnen ein fremdbestimmtes verzeitgeistigtes Weltbild, dem
die besonnene Tiefgründigkeit früherer Romane bedauerlicherweise fehlt.
Der niederländische Verlag "De Bezige Bij" verlautbart über Mulischs
"Der Diamant", es handle ich um eine "humoristische Persiflage"
auf diverse Schauergeschichten über berühmte Diamanten, "geschrieben
in einem leichtfüßigen Stil, der psychologische Schärfe, Humor und
Poesie in einer verblüffenden Synthese vereinigt."
Verblüffend ist Mulischs "Der Diamant" allerdings. Erfrischend direkt
war übrigens seinerzeit Josef Váchal, der mit "Der
blutige Roman" quasi alles auf eine Karte setzte und den Schund
zum Kult erhob.
In seinem Buch "Voer voor psychologen" schrieb Harry Mulisch: "De
verbinding tussen edelstenen en 'grote gedachten' is intussen zeer
functioneel en oeroud: men denke aan de 'steen der wijzen', an aan het
"diamantlichaam' in de chinese alchimie.
Even oeroud, zo niet ouder, is de verbinding tussen 'de grote
gedachte' en ... de fallus. Kijk, daar ist nu niemand opgekomen.
Ikself trouwens ook pas veel later, ofschoon mijn diamant toch
herhaaldelijk 'verborgen tussen de benen' wordt vervoerd. Deze roman
in laatste instantie als de geschiedenis van een 'fallisch symbool' -
dat ist de waarde die hij buiten al mijn schematische
vakantie-bemoeienissen om tenslotte toch nog heeft weten te verwerven.
(...) Na het voltooien van De diamant was mijn leven in een
dieptepunt gekomen zoals het nog niet gekend had, bijna twee jaar van
inzinking, leegte en heimwee naar mijn jeugd, die haar uitdrukking
o.a. heeft gekregen in
Het zwarte
licht."
Den ostfriesischen Übersetzer Bruno Loets (1904-1969) mag das Werk
einiges an Zeit und Mühe gekostet haben. Betrachtet man den Roman "Der
Diamant" im Kontext von Mulischs Gesamtwerk, kann dieser wohl mit Fug
und Recht "Schundroman" genannt werden. Keine Schande, denn derlei
erfreut sich ungebrochenen Interesses. Klatsch und Tratsch, halbwahre
oder zumindest scheinbar plausible Informationen zuhauf, rasante
Unterhaltung statt Tiefgang. Hauptsache, der schnelllebige Fortschritt
reißt möglichst viele Menschengehirne mit, und sei es in den Abgrund.
Die Mehrzahl der Vor-, Mit- und Nachbeter orientiert sich seit jeher
vorwiegend an Ihresgleichen, was individuelle Weiterentwicklung
tendenziell verunmöglicht. Somit ist der Diamant ein seit
Menschengedenken passendes Symbol für Verblendung, Machtgelüste und
Besitzgier, wobei zeitlose Narreteien viele Gesichter und Moden
verunzieren.
Dennoch ist "Der Diamant" wahrlich kein Schelmenroman, wie der deutsche
Klappentext behauptet, im eigentlichen Sinn, sondern eine
Aneinanderreihung kurioser Episoden von höchst unterschiedlicher Güte,
nichtsdestotrotz lesenswert und stellenweise durchaus amüsant.
(kre; 11/2019)
Harry Mulisch: "Der Diamant"
(Originaltitel "De Diamant")
Aus dem Niederländischen von Bruno Loets.
Nannen-Verlag, 1961. 308 Seiten.
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