Leseprobe aus "Ferne Quellen"
von Alai


In der Nähe unseres Dorfes gab es eine Quelle, die war nicht warm, sondern heiß. Im Sommerhalbjahr blieb ihre Hitze unsichtbar. Nur im Winter, wenn man durch den Schnee nahe genug heranstapfte an die Quelle in der Schlucht, die sich nördlich des Dorfes über zehn Kilometer erstreckte, konnte man inmitten des Mischwaldes, zwischen den immergrünen Azaleen und Tannen und den kahlen Kirschbäumen und Birken, einen dünnen Dunstschleier aufsteigen sehen. Kaum aber hatte sich dieser Dunst über den Quelltrichter erhoben, gefror er in Sekundenschnelle; unfähig, weiter aufzusteigen, verwandelte er sich in zarte Eiskristalle und legte sich auf die welke Flora. Die Quelle selbst gefror nie, aber sobald sie ihre Hitze verströmte, war ihre Kraft dahin. Und wenn man die eisige Hand in das Wasser tauchte, spürte man nur einen Hauch von Wärme. Trinken konnte man das Wasser nicht, das sich zwischen den Fingern ein wenig sämig anfühlte, dafür war es zu salzig und sein Geschmack zu schweflig. Das Salz, der Schwefel und womöglich noch manch andere Mineralien tief aus dem Erdinnern lagerten sich im Morast um die Quelle weiträumig als rostfarbene Sedimente ab. Im Winter besuchte niemand außer einigen rastenden Jägern diese Quelle. Tshone war ihr Name.
    Im Sommer, wenn die Rinderherden auf die Bergwiesen getrieben wurden, war das anders. Sobald an unserer Grundschule die Sommerferien begannen, folgten wir Kinder den Herden in die Berge und wachten darüber, dass sie sich nicht in den dichten Wäldern rings um die Wiesen verliefen. Die Rinder waren ganz versessen auf Salz und liebten das Quellwasser; kaum hatten sie sich am Gras satt gefressen, liefen sie zur Quelle. Gegen einen maßvollen Genuss hatten die Erwachsenen nichts einzuwenden. Aber sie warnten uns immer wieder: "Wenn die Rinder zu viel trinken, werden ihre Bäuche anschwellen, bis sie hart wie Trommeln sind, dann können sie nichts mehr essen und müssen verhungern." Also rannten wir den ganzen Sommer über immer wieder zur Quelle, um die Rinder, die vom salzigen Wasser nicht genug bekommen konnten, mit unseren Schreien zu verscheuchen.
    Heute können meine Stimmbänder nicht mehr jenen lang gezogenen, einschüchternden Schrei hervorbringen, und nicht das vielfach gewundene Trillern der Hirtenlieder. Ich war ein schweigsames Kind, aber diese Lieder sang ich oft vor mich hin, und beim gedehnten Vibrato, in dem sie verklangen, flatterten meine Stimmbänder tief in der Kehle wie Kolibriflügel, und meine Stimme schwang sich auf über die Bergwiesen hinweg, über die hier und da verstreuten Gebüsche aus kleinblättrigen Azaleen und zwergwüchsigen Zypressen, und auch mein Blick ging ins Grenzenlose, über die weiten Weideflächen und die steil aufragenden Felswände, bis er schließlich am blendenden Glanz der schneebedeckten Gipfel haften blieb.
    Ja, ich sehnte mich nach der Ferne.
    Eine konkrete Gestalt nahm das Ziel meiner Sehnsucht nicht an, nur zwei grobe Richtungen. Da war einmal der Südosten: In diese Richtung brauste weiß schäumend und immer mächtiger anschwellend der Tsomo-Fluss. Und dann war da noch der Nordwesten: Dort, hinter den zackenförmig aufragenden schneebedeckten Gipfeln, lag das weite Grasland von Songpan. (...)


Alai: "Ferne Quellen"
(Originaltitel "Yaoyuan de Wenquan")
Aus dem Chinesischen von Marc Hermann.
Unionsverlag, 2009. 160 Seiten.
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Der scheue Junge verbringt seine Zeit lieber mit dem Pferdehirten auf den weiten Bergwiesen als mit den Menschen unten im Dorf. Oft erzählt ihm dieser von den fernen, heißen Quellen, in denen Männer und Frauen in heiterer Eintracht baden und von ihren Krankheiten genesen. Nichts wünscht sich das Kind seither sehnlicher, als zu diesen Heilquellen zu gelangen und der Enge seines Dorfes zu entfliehen.
Als er viele Jahre später als Bezirksfotograf zu den Quellen vordringt, erlebt er eine bittere Enttäuschung: Wo einst das Wasser sprudelte und zum ausgelassenen Bad einlud, findet er eine hässliche, verlassene Betonlandschaft. Eine verfehlte Entwicklungspolitik hat eine Investitionsruine hinterlassen. Ein Traum ist gestorben.
Alai, geboren 1959 in der Nähe von Markang (Nord-Sichuan), begann Anfang der 1980er-Jahre Gedichte und Erzählungen in der Zeitschrift "Tibetische Literatur" zu veröffentlichen. Später zog er nach Chengdu, wo er Chefredakteur von "Science Fiction World" wurde, Chinas größtem Science-Fiction-Magazin. Sein erster Roman "Roter Mohn" wurde ein sensationeller Erfolg.