Amélie Nothomb: "Happy End"


Ein bezauberndes literarisches Märchen aus dem Herzen des heutigen Paris

Es ist nicht einfach, Worte für diesen Roman zu finden, denn es ist im Besonderen die Sprache, die hier auf den ersten Seiten irritiert, verwundert, begeistert und zugleich fasziniert. Dem Leser begegnen darin zwei Charaktere, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Déodat, einen unsagbar klugen Sonderling, lernt man im Kleinkindalter kennen. Seine Entdeckungen und Erfahrungen werden aber mit der Stimme eines wissenschaftlichen Erzählers geschildert. Manche Leser mag das irritieren und verwundern, und sie könnten Gefahr laufen, das Buch mangels emotionaler Tiefe im ersten Teil wegzulegen. Es ist nun allerdings genau diese Sprache, die uns hilft, dieses seltsame Exemplar eines Ornithologen zu verstehen. Seine Tendenz zur wissenschaftlichen Analyse und das Fehlen anderer Leidenschaften ermöglichen es ihm, auch den Spott seiner Mitschüler und die Abneigung seiner Mitmenschen angesichts seiner Hässlichkeit ohne großen Aufwand zu bewältigen.

Fehlt es Déodat manchmal an emotionaler Tiefe, so lernt der Leser die Sanftheit Trémières umso mehr lieben. Die bildhübsche Trémière verbringt den Großteil ihrer Kindheit schweigend, wird als dumm abgestempelt und gehänselt. Nur ihre Großmutter erkennt in Trémières Schweigen ein unschätzbar wertvolles Gut. Wie die Edelsteine der Großmutter, die gepflegt und geliebt werden müssen und nur in der Dunkelheit wahrhaftig ihre Schönheit zeigen, so liegt in Trémières Schweigen vielleicht doch weniger Dummheit, als ihre Altersgenossen vermuten. Trémières Stimme ist einfühlsam, weniger analytisch, langsam und geduldig. Die sprachliche Komponente und die damit einhergehenden unterschiedlichen Figurencharakterisierungen von Déodat und Trémière sind einige der spannendsten Elemente in diesem Roman.

Inspiriert von Charles Perraults Märchen "Riquet mit der Locke", das hierzulande eher selten in Märchenbüchern zu finden ist, fließen literarische Betrachtungen und Reflexionen lückenlos in die Erzählung ein. Sie finden ihren Höhepunkt in dem "Happy End", das die Autorin für ihre Hauptfiguren geschaffen hat. Wie der Titel des Buches schon vermuten hat lassen, greift somit auch diese Rezension dem Ende des Romans vor, aber: Die Schönheit liegt hier vor allem in der literarischen Sprache (und Reflexion) und der märchenhaften Erzählung, angelehnt an Perraults Geschichte, die uns ein Märchen aus dem heutigen Paris erzählt.

Fazit:
Dieses Buch zaubert dem Leser ein Lächeln auf seine Lippen. "Happy End" ist unwiderstehlich.

(Sabrina Brugner; 10/2018)


Amélie Nothomb: "Happy End"
(Originaltitel "Riquet à la houppe")
Aus dem Französischen von Brigitte Große.
Diogenes, 2018. 192 Seiten.
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