Jonas Hassen Khemiri: "Alles, was ich nicht erinnere"
Ein
          ungeklärter Todesfall
        
        Der 1978 als Sohn eines tunesischen Vaters und einer schwedischen
        Mutter in Stockholm geborene Jonas Hassen Khemiri ist ohne Zweifel eine
        der interessantesten neuen Stimmen der jungen schwedischen Literatur,
        in der man vor allem abseits des Krimigenres wirkliche Schätze
        bergen kann.
        Sein vierter Roman "Alles, was ich erinnere" ist ein mit viel Tempo
        versehener Text, der sich aus unzähligen Mosaiksteinchen zu
        einem wirklich beeindruckenden Ganzen zusammensetzt. Den roten Faden
        durch das Buch führt ein Erzähler, der Samuels Tod
        untersucht, denn Samuel ist mit dem Auto seiner Großmutter
        gegen einen Baum gefahren.
        War es Selbstmord? Ein Unfall? Oder steckt gar mehr dahinter?
        
        Sollte das die Vermutung nahelegen, dass es sich hier um Kriminalliteratur
        handelt, weit gefehlt. Denn während der Erzähler
        Interviews und Gespräche mit allen möglichen
        Beteiligten, Freunden, Bekannten, Nachbarn und der Geliebten des
        Verunglückten führt, merkt man rasch, dass es dem
        Autor in erster Linie darum geht, das Bild eines wirklich
        außergewöhnlichen junges Mannes zu zeichnen.
        
        Da gibt es beispielsweise Laide, die Geliebte Samuels, der von seinem
        nordafrikanischen Vater bewusst einen möglichst "normal"
        klingenden Namen verpasst bekommen hat, damit er in Schweden so wenig
        wie möglich auffällt. In Gesprächen mit
        Laide zeichnet sich der Verlauf einer stürmischen, von
        Höhen und Tiefen geprägten Beziehung. Vandad, Samuels
        bester Freund und Mitbewohner, erweist sich als materialistisch
        angehauchter Typ, ein richtiges Schlitzohr, wenn man so will. Ob Samuel
        seinem Freund wirklich gewachsen war, ist eine Frage, die nicht
        geklärt wird, obwohl sie sehr bald deutlich im Raum steht.
        Der Erzähler nimmt sich auch andere Weggefährten,
        Nachbarn und Mitbewohner vor, die er irgendwie fassen kann. Nicht alle
        wollen tatsächlich Auskunft geben, obschon jeder davon
        überzeugt ist, jedenfalls die wahrscheinlich einzige wirklich
        glaubhafte Informationsquelle zu sein.
        
        Auch das abgebrannte Haus der Großmutter Samuels spielt eine
        bedeutende Rolle, auf die der Rezensent hier bewusst nicht
        näher eingehen möchte.
        
        Laide, die in Wahrheit Adelaide heißt, das Kind von
        Asylwerbern, ist erst kürzlich von einem Aufenthalt in Paris
        als Dolmetscherin zurückgekehrt. In Schweden arbeitet sie nun
        auch als Übersetzerin für die Polizei. Auf Abruf. Je
        mehr Schichten aufgedeckt und freigelegt werden, desto klarer wird das
        Bild einer Gesellschaft, für welche die Unsicherheit im Leben
        der entscheidende Faktor darstellt. Gerechtes, geregeltes Einkommen und
        die elementare Lebensberechtigung, das sind jene Punkte, die immer
        irgendwo im Hinterkopf lauern, um bei der nächsten Gelegenheit
        wehzutun.
        Samuel lernt Laide bei der Arbeit im Migrationsbüro kennen, wo
        der ehemalige Student der Politikwissenschaften, dessen Ziel es einmal
        war, die Welt zu retten, Arbeit gefunden hat. Gemeinsam
        kümmern sie sich um jene Menschen, die ihre Existenz verloren
        haben. Die sich auf unmenschlichen Wegen bis nach
          Schweden
          durchgekämpft haben, um dort letztendlich auf Misstrauen und
        Angst zu stoßen.
        
        Vor diesem Hintergrund legt Jonas Hassen Khemiri auch die vielen
        Widersprüche und Konflikte dar, mit denen die schwedische
        Gesellschaft umzugehen lernen muss. Mit viel Verständnis
        für beide Seiten zeichnet er ein beeindruckendes
        Gesellschafts- und Zeitbild, das sicherlich nicht nur schwedische
        Wirklichkeit ist.
        
        Eine weitere Person taucht auf, eine in Berlin lebende
        Künstlerin, die nur "die Pantherin" genannt wird, deren Rolle
        in Samuels Leben ziemlich unklar ist. Man spürt lediglich,
        dass ihre Rolle eine sehr wichtige gewesen sein muss.
        
        Khemiri zeigt die Sehnsüchte und Wünsche der
        Menschen, er zeigt, wie hoch der Preis sein kann, den man unter
        Umständen dafür zahlen muss, nicht allein zu sein.
        Oder einfach, um dazuzugehören. Zu einer Clique, zur
        Gesellschaft, zum Leben per se.
        Letztendlich spielt die Rolle bzw. die Identität des
        erzählenden Chronisten eine immer größere
        Rolle. Auch hier wäre es unfair, mehr zu verraten.
        
        "Alles, was ich nicht erinnere" ist definitiv große
        Literatur. Blendend übersetzt von Susanne Dahmann, trifft
        Khemiris Prosa, die sehr abwechslungsreich und mitunter sehr
        zeitgemäß ist, die es dem Leser nach einigen Seiten
        des Einlesens überaus leicht macht, die unterschiedlichen,
        fragmentarisch ausgebreiteten Perspektiven auch zu trennen, punktgenau
        ins Fadenkreuz unserer Zeit. Man spürt in jeder Zeile Khemiris
        Einfühlsamkeit für seine Figuren, die er wirklich zum
        Leben erweckt hat.
        
        Ein ausgezeichneter Roman, der lange nachklingt, dessen
        Protagonistinnen und Protagonisten in den Gedanken des Lesers
        hängen bleiben. Chapeau!
(Roland Freisitzer; 04/2017)
Jonas
Hassen
            Khemiri: "Alles, was ich nicht erinnere"
        (Originaltitel "Allt jag inte minns")
        Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann.
        DVA, 2017. 330 Seiten.
        
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