Hans-Ulrich Treichel: "Grunewaldsee"


Das Traurige und das Lustige liegen in Hans-Ulrich Treichels Roman immer ganz nahe beieinander. Denkt man auf den ersten Seiten, wenn man in die Geschichte von Paul, der Hauptfigur, eingeführt wird, noch, man habe es einmal wieder mit einem diese zahllosen Romane zu tun, in denen Männer darüber berichten, warum sie ihr Leben nicht bewältigen, zu keiner wirklichen Beziehung fähig sind und sich überdies noch nicht erwachsen von ihren eigenen Eltern gelöst haben, spürt man bald, wie Treichel ganz treffsicher mit den beiden literarischen Stilmitteln der Lakonie und der Ironie bei diesem Thema spielt und ihm damit eine ganz ungewohnte, seltsam leichte und weniger ernste Konnotation gibt.

Es geht um Paul. Paul ist Anfang dreißig und wartet Mitte der 1980er-Jahre in Berlin auf einen Referendariatsplatz. Mit Nebenarbeiten bestreitet er seinen Lebensunterhalt, der durch monatliche Überweisungen seiner alten und nicht gerade wohlhabenden Mutter, die ihm schon die Hälfte des Elternhauses in einem Dorf bei Braunschweig überschrieben hat, auf das Existenzminimum aufgestockt wird. Ihm ist das manchmal peinlich, aber wie viele Andere dieser Generation tut er nichts dazu, sich davon unabhängig zu machen. In Niedersachsen etwa könnte er schon lange als Lehrer arbeiten, aber das schon oft beschriebene Berliner Milieu hat es ihm angetan. Er wohnt in Kreuzberg und tut immerzu das, was er gut gelernt hat: Er wartet, dass sich etwas Entscheidendes in seinem Leben ändert.

Das scheint der Fall zu sein, als er in Spanien, wo er in Malaga einen schlecht bezahlten Arbeitsplatz als stundenweiser Deutschlehrer angenommen hat, Maria kennenlernt. Er verliebt sich sofort in sie, und sie, seit einigen Wochen von ihrem Mann schwanger, verbringt mit Paul Monate voller leidenschaftlicher und variantenreicher Liebesnächte und -tage. Von Liebe ist niemals die Rede, Paul traut sich nicht, und Maria ist realistisch. Dennoch ruft sie ihm beim Abschied ein "Permanecemos juntos!" zu ("Wir bleiben zusammen!"), an dem sich Paul die folgenden Jahre festklammert wie an einem Strohhalm. Kaum ein halbes Dutzend Mal haben sie in diesen Jahren telefoniert, er hat viel geschrieben, sie immer nur knappe Karten und viele Bilder von der größer werdenden Tochter geschickt. So wie vor der Zeit mit Maria auch, besteht Pauls Leben aus einem Warten in einer seltsamen Heimatlosigkeit; ein Leben und eine Liebe im Schwebezustand. Er bekommt keine tragende berufliche Tätigkeit zustande, und von einem unabhängigen wirklich erwachsenen Leben kann keine Rede sein.

Irgendwann trennt sich Maria von ihrem Mann und teilt Paul mit, sie wolle ihn in Deutschland besuchen. Der wittert seine Chance, macht Pläne, ihr sein geliebtes, mittlerweile vereintes und verändertes Berlin zeigen. Doch Maria will nach München. Als sie endlich zusammenkommen, ist alles ganz anders, als er sich das erträumt hat ...

Menschen, die in Berlin leben oder lebten, und ehemalige Berliner Studenten werden ein Deja-Vu nach dem anderen haben. Ihnen ist aber zu wünschen, dass sie anders als Paul nach einem Studium, wie lange es auch gedauert haben mag und wer immer es bezahlt hat, ihr Leben, auch ihr Liebesleben, besser in den Griff bekommen haben als die traurige Hauptfigur dieses doch sehr hintergründigen Romans.

Natürlich spielen der Grunewaldsee und auch die Pfaueninsel große Hintergrundrollen in diesem Buch, in dem der interessierte Leser so manches über die Schinkel-Architektur und die preußische Landschaftsgärtnerei lernt.

(Winfried Stanzick; 04/2010)


Hans-Ulrich Treichel: "Grunewaldsee"
Suhrkamp, 2010. 237Seiten.
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