Adam Phillips, Barbara Taylor: "Freundlichkeit"

Diskrete Anmerkungen zu einer unzeitgemäßen Tugend


Die notwendige Wiederentdeckung der Freundlichkeit - ein Plädoyer für eine unterdrückte Leidenschaft

Die Wiederentdeckung der Tugenden ist nicht nur auf den deutschen Sprachraum beschränkt, wo in den letzten Jahren mehrere Autoren mutig und tapfer für die Rückbesinnung auf lange Zeit verhöhnte und letztlich in der Folge der Studentenbewegung fast vergessene Tugenden und Geisteshaltungen eintraten.

Im vorliegenden kleinen Buch mit dem Titel "Freundlichkeit" gehen die beiden englischen Wissenschafter Adam Phillips und Barbara Taylor in einem luziden kultur- und philosophiegeschichtlichen Essay mit "Diskreten Anmerkungen zu einer unzeitgemäßen Tugend" der Frage nach, wie quer durch die Geschichte die Freundlichkeit als maßgebende und charakterprägende Tugend wertgeschätzt wurde.

Adam Phillips ist als Psychoanalytiker Herausgeber der englischen Gesamtausgabe von Sigmund Freud und Barbara Taylor eine bekannte Historikerin mit bahnbrechenden Studien zum Feminismus von der Aufklärung bis heute. Sie sind also nicht "irgendjemand", und in England sind ihre Anmerkungen sicher für die Lage der Gesellschaft und den innergesellschaftlichen Umgang der Menschen miteinander wichtig.

In fünf Kapiteln kreisen sie mit ihrem Essay um die Geschichte der Freundlichkeit, beschreiben ihr Wirkungsfeld, spüren in Anlehnung an Freud einem "Freundlichkeitstrieb" nach  und kommen endlich zu einem verhalten optimistischen Schluss:
"Die Freuden der Freundlichkeit sind also nicht mit den Freuden moralischer Überlegenheit oder bevormundender Wohltätigkeit oder einem Erpressungsmittel für gute Gefühle zu verwechseln. Freundlichkeit, Güte, Mitmenschlichkeit und Wohlwollen entspringen keinem Willensakt, verlangen keine heroische Anstrengung oder moralische Höchstleistung. Sie resultieren aus dem, was Freud - in einem anderen Zusammenhang - 'Nacherziehung' nennt, die etwas, was man bereits fühlt und weiß, bewusst macht und erneuert. Und diese Nacherziehung, für die wir einen Baustein liefern, bedeutet auch, Freundlichkeit und Mitmenschlichkeit als Versuchung anzuerkennen, die wir im Alltag jederzeit und überall wahrnehmen können, der wir aber nur allzu oft widerstehen: keine Versuchung, uns selbst zu opfern, sondern uns mit anderen zusammenzuschließen; keine Versuchung, unsere aggressiven Anteile zu leugnen oder zu ignorieren, sondern in der Freundlichkeit die Solidarität mit der menschlichen Bedürftigkeit zu erkennen, den äußerst paradoxen Eindruck, ohnmächtig und mächtig zu sein, den menschliche Bedürftigkeit hervorruft. Akte von Freundlichkeit nehmen uns in andere Formen von  zwischenmenschlicher Auseinandersetzung hinein; unser Widerstand gegen solche Auseinandersetzungen lässt vermuten, dass wir an ihnen in höherem Maße interessiert sind, dass wir uns von ihnen mehr erwarten, als wir uns selbst zugestehen wollen."

Ein wichtiges Buch, das leise daherkommt und doch so viel zu sagen hat. Wenn jeder einigermaßen gebildete und zivilisierte Bürger auch nur etwas davon in seinen Alltag übernähme, sähen unsere Gesellschaften anders aus, und es wäre angenehmer und menschlicher darin zu leben; für alle.

(Winfried Stanzick; 03/2010)


Adam Phillips, Barbara Taylor: "Freundlichkeit.
Diskrete Anmerkungen zu einer unzeitgemäßen Tugend"

(Originaltitel "On Kindness")
Übersetzt von Susanne Held.
Klett-Cotta, 2009. 163 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:

Ulrich Wickert: "Das Buch der Tugenden. Große Texte der Menschheit - für uns heute ausgewählt"

Von Aristoteles bis Max Frisch, von Aesop über Goethe bis Camus: In der gesamten Weltliteratur hat Ulrich Wickert die Antworten auf die Frage gesucht, die jedes Leben bestimmt: Was ist gut. (Piper)
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Leseprobe:

Kapitel 1
Warum ist Freundlichkeit so suspekt?


Freundlichkeit - oder genauer ihr Fehlen - entpuppt sich als Lieblingsthema der Medien. Selbsternannte Kenner der Branche beklagen zwar den Egoismus unserer Zeit, aber zugleich berichten regelmäßig großflächig aufgemachte Artikel über Fälle wie beispielsweise den eines vermögenden Börsenmaklers, der - auf dem Höhepunkt seiner Karriere - sich der Idee verschrieb, ehrenamtlich seine freien Wochenenden mit Kindern aus sozial schwachen Schichten zu verbringen: "Diesen Kindern zu helfen", gab er seine Gefühle euphorisch wieder, "macht mich überglücklich. Ich fühle mich wie neugeboren."

Variiert klingt dieses Erstaunen auch in den Schlagzeilen zur Frage "Was macht einen Menschen glücklich?" an, eine Frage, die akademisch untersucht wurde und ergab, Freundlichkeit rangiere auf der Glücksskala entschieden höher als selbstbezogenes Verhalten.

(...)

Wie aber konnte diese allgemein selbstverständliche Meinung aufkommen? Und warum glauben wir, es gäbe größere Wonnen als die Freundlichkeit?

Genau das wollen wir in unserem Buch darlegen - und davon sind wir überzeugt: dass nämlich nicht Sex, nicht Gewalt, nicht Geld unsere unterdrückten Leidenschaften sind, sondern Freundlichkeit und im weiteren Sinne: Empathie und Sympathie, Entgegenkommen und Zuvorkommenheit, Güte und Liebenswürdigkeit, Mitgefühl und Mitleid sowie humane Gesinnung, Milde und Innigkeit, Wohlwollen, Großzügigkeit und Altruismus, ja selbst Höflichkeit. Was sagt uns das über moderne Gesellschaften, in denen Freundlichkeit als Gefahr erachtet wird?

Natürlich birgt Freundlichkeit ein gewisses Moment der Gefährdung, beruht sie doch darauf, für Andere empfänglich zu sein, auf der Fähigkeit also, sich mit den Freuden und Leiden der Mitmenschen zu identifizieren. Es kann bisweilen ausgesprochen unbequem sein, sich, wie es die Redewendung vermittelt, die Schuhe eines Anderen anzuziehen oder in die Haut eines Anderen zu schlüpfen, sich also in das Gegenüber hineinzuversetzen. Auch wenn die Freuden der Herzlichkeit - was im Übrigen für alle echten menschlichen Freuden gilt - im Innersten mit einem hohen Risiko behaftet sind, gehören sie doch andererseits auch zum Befriedigendsten, was wir kennen.

Wie konnte es dazu kommen, dass sie derart als Schwäche abgewertet wurde? Schon im Jahr 1741 verlor David Hume die Geduld, als er von einer zeitgenössischen philosophischen Strömung erfuhr, die den unheilbaren Egoismus des Menschen auch noch propagierte. Hume erklärte, jeder Mensch, der so töricht sei, die Existenz menschlicher Freundlichkeit zu leugnen, habe schlicht "die Bewegungen seines Herzens vergessen", könne mithin nicht mehr spüren, dass und wie seine wirklichen Gefühle ihn berühren. Wie kann es dazu kommen, dass offensichtlich so viele Menschen die Bedeutung der mitmenschlichen Zuwendung und die tiefe Befriedigung, die mit ihr einhergeht, aus dem Auge verlieren?

Auf diese Frage wollen wir - eine Historikerin und ein Psychoanalytiker - in diesem Buch antworten. Die verhängnisvollen Folgen mangelnder Zuneigung sowie, von einem historischen Standpunkt aus, die Besonderheit des modernen Verhältnisses zum Phänomen Freundlichkeit werden dabei ausführlicher zur Sprache kommen. In nahezu der gesamten Menschheitsgeschichte, bis hin zur Zeit David Humes, dem sogenannten Anbruch der Moderne und darüber hinaus, galt es als selbstverständlich, sich selbst Freundlichkeit zuzuschreiben. Wann und aus welchen Gründen hat sich dieses Bewusstsein verflüchtigt? Welche Konsequenzen zog das Verschwinden zwischenmenschlicher Zuneigung nach sich? Sobald wir nämlich aufhören, freundlich zu denken und keinen gesteigerten Wert mehr auf unsere Handlungen zu legen, die der Herzlichkeit und Liebenswürdigkeit entspringen, berauben wir uns damit eines Vergnügens, das wir doch eigentlich für unser inneres Wohlbefinden gar nicht missen können. "Wir gehören zueinander", meint der Philosoph Alan Ryan, und ein Leben, das man mit Recht ein gutes Leben nennen kann, "reflektiert diese Wahrheit", die uns entglitten ist. Unabhängigkeit und Selbstständigkeit bezeichnen unsere großen Ziele. "Zusammengehörigkeit" oder Solidarität werden verschämt bei Seite getan und gehören zu den eklatanten Tabus unserer Gesellschaft. Warum eigentlich?

Um diese Frage zu beantworten, werfen wir zunächst einen Blick auf die Vorstellungen von Freundlichkeit seit der klassischen Antike. Die ursprüngliche Bedeutung von Freundlichkeit (kindness) als Verwandtschaft (kinship) oder Gleichheit, oder auch Freund wie im Deutschen, hat sich im Laufe der Zeit zu einem Bedeutungsspektrum erweitert, das Gefühle und Haltungen wie Sympathie, Großzügigkeit, Altruismus, Wohlwollen, humane Gesinnung, Mitgefühl, Mitleid und Empathie umfasst. In der Antike wurde der Gehalt mittels anderer Begriffe, vor allem philanthropia (Menschenliebe) und caritas (Nächstenliebe, Bruderliebe), ausgedrückt. Die genauen Begriffsbedeutungen variieren - letztlich bezeichnen sie aber alle das, was im viktorianischen Zeitalter "Offenherzigkeit" genannt wurde: die von Mitgefühl getragene Einbeziehung der Mitmenschen, die Berührung und Verbindung des eigenen Selbst mit dem Selbst der Anderen.

"Nicht weniger willkürlich und allgemein verbreitet als die Entfremdung zwischen den Menschen ist der Wunsch, diese Entfremdung zu durchbrechen", notierte Theodor W. Adorno. Unsere Entfremdung von den Mitmenschen, der Abstand zwischen ihnen und uns verleiht uns zwar ein Sicherheitsgefühl, doch ist es freudlos, bekümmert, trauerbeladen, weil Einsamkeit offenbar die unvermeidliche Folge der Sorge um die eigene Person ist. (...)

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