Anne Michaels: "Wintergewölbe"


Anne Michaels ist wieder ein meisterhaftes Buch gelungen, das von Vertreibung und Zerstörung, vom Segen des Neuanfangs, vom Schmerz der Trauer und der Tragik des Verlust sowie von der Liebe als alles heilende Kraft und Macht erzählt.

Lange, lange hat man sehnsüchtig auf den zweiten Roman von Anne Michaels, der kanadischen Autorin, deren erster Roman "Fluchtstücke" in 30 Sprachen übersetzt worden ist und Millionen von Menschen begeistert hat, gewartet. Und das Warten hat sich gelohnt. Mit "Wintergewölbe" legt sie ihren zweiten Roman vor, für den sie jahrelang recherchiert hat und den man sich erarbeiten muss. Viele haben damals "Fluchtstücke" mehrmals gelesen, um die Tiefe des Buches auszuloten; mit "Wintergewölbe" wird man das auch tun müssen, um der Autorin dieses erneuten Meisterwerkes gerecht werden zu können.

Anne Michaels erzählt in diesem Roman mit einer wunderbaren und poetischen Sprache vordergründig von einer großen Liebe. Einer Liebe, die sich, und das ist das Ungewöhnliche und Bezaubernde an diesem Buch, hauptsächlich dadurch äußert, dass sich die beiden Liebenden völlig öffnen und sich ihr jeweiliges Leben und all ihre Gedanken gegenseitig mitteilen:
"Avery sah Jean an. Das Haar fiel ihr über die nackten Arme, ein Streifen Schatten. Zu welchem Zeitpunkt war die Verwandlung eingetreten - zu welchem Zeitpunkt in den Jahren ihres Zusammenseins war diese Frau, diese Jean Shaw, zu Jean Escher geworden ? Er wusste, dass es nichts mit der Ehe zu tun hatte, nicht einmal mit Sex, sondern dass es irgendwie mit all diesen Gesprächen zu tun hatte, mit diesen Gesprächen, die sie gemeinsam in die Welt setzten."

Ja, sie setzen Gespräche in die Welt, und erfinden sie damit und sich selbst neu. Sie entwickeln durch ihre gegenseitig Öffnung eine Intimität, wie sie keine Sexualität geben kann.

Die Geschichte von Avery und Jean wird vor dem Hintergrund der beruflichen Tätigkeit Jeans, der im Jahr 1964 als Ingenieur daran beteiligt ist, den 3000 Jahre alten Tempel von Abu Simbel abzubauen und ihn etwas entfernt, 60 Meter höher, neu aufzubauen, erzählt. Nötig geworden ist dieser dramatische Eingriff in eine alte Kultur durch den geplanten Bau des Assuan-Staudamms. Für die Zeit dieser Bauarbeiten lebt Avery mit seiner Frau Jean in einem Hausboot auf dem Nil.

Hier entfaltet Anne Michaels den zweiten Hauptstrang des Buches neben der Liebesgeschichte, immer aber eng mit ihr verwoben, was sich jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt zu entschlüsseln beginnt. Sie erzählt von den Lebensbedingungen vor 3000 Jahren und von heute, von der Zerstörung einer uralten Natur und von den dramatischen ökologischen Folgen für den Wasserhaushalt in der Wüste.

Avery und Jean setzen sich mit diesem Teil von Averys Arbeit immer wieder auseinander. Schon als sie einander kennengelernt haben, damals in Kanada, war Avery an den Arbeiten zu einem Stausee am St.-Lawrence-Strom beteiligt. Immer wieder wird diese Zeit in dem Buch reflektiert, mit berührenden Beschreibungen das Schicksal der Menschen gezeigt, die durch die Flutung ihre Heimat und ihre Toten verlieren, (denn manche wollen nicht, dass ihre Vorfahren auf den untergehenden Friedhöfen umgebettet werden), unterschiedliche Kindheitserinnerungen der beiden Liebenden wechseln sich ab mit Überlegungen zur Zerstörung der Natur und zum Schicksal der betroffenen Menschen.

Anne Michaels wechselt häufig die Szenen, geht weit zurück bis ins Dritte Reich, springt zwischen Familienerinnerungen der beiden Protagonisten und politisch-geschichtlichen Informationen hin und her. Man muss sich schon mühen, um da den Faden nicht zu verlieren.

Als Jean in Ägypten schwanger wird und das Kind in ihrem Leib stirbt, ist auch die Ehe zwischen den beiden gestorben. Man kann nachvollziehen, dass ein solches Unglück eine Beziehung töten kann, dennoch kommt es für den Leser überraschend, zumal die beiden vorher als ein Paar geschildert worden sind, das über alles reden kann.

Anne Michaels erzählt nun eine neue Geschichte, mit neuen Lieben und neuen Figuren, mit denen es ihr allerdings erneut gelingt, den Leser zu fesseln. Denn er bangt bis zum Schluss mit den beiden Liebenden und fragt sich die ganze Zeit über, ob sie vielleicht doch noch einmal zusammen finden. Doch das soll hier nicht verraten werden ...

(Winfried Stanzick; 06/2009)


Anne Michaels: "Wintergewölbe"
(Originaltitel "The Winter Vault")
Deutsch von Gerhard Falkner und Nora Matocza.
Berlin Verlag, 2009. 348 Seiten.
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Anne Michaels wurde am 1958 in Toronto geboren. Seit Jahren unterrichtet sie "Kreatives Schreiben" an der Universität von Toronto.

Ein weiteres Buch der Autorin:

"Fluchtstücke"

Der siebenjährige polnisch-jüdische Jakob wird Zeuge, wie seine Familie von deutschen Soldaten ermordet wird. Er flüchtet sich in die Ausgrabungsstätte der versunkenen Stadt Biskupin. Dort entdeckt ihn ein griechischer Archäologe, der ihn nach Griechenland schmuggelt. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs lebt Jakob mit Athos, der ihn alles lehrt, was er weiß: Geografie, Geologie, Dichtkunst, Botanik, Archäologie. Langsam taucht Jakob aus seiner Verstörung auf und kehrt in die Welt zurück.
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