Miriam Gebhardt: "Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen"

Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert


Wie bereitet man den Nachwuchs am besten auf das Leben vor?

Nichts erst seit Michael Winterhoffs Erziehungserfolgstiteln "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" und "Tyrannen müssen nicht sein" ist sowohl in der Pädagogik als auch in der Ratgeberlandschaft für Eltern und Erziehende ein regelrechter Kulturkampf über die richtige Erziehung ausgebrochen. Verunsicherte Eltern und Erzieher, leidende Kinder ohne Vorbilder und Grenzen - die Zukunft wird schwarz gemalt, wenn, ja wenn nicht endlich Eltern Schluss damit machen, sich von den Bedürfnissen und den Ansprüchen ihrer Kinder bestimmen und gängeln zu lassen.

Die Thesen Winterhoffs und auch die von Bernhard Bueb eröffnete neue Debatte über die dringend notwendige Renaissance der Disziplin (vgl. sein Buch "Lob der Disziplin") sind heftig diskutiert worden und haben von vielen Seiten entsprechenden Widerspruch erfahren. Dennoch ist etwas hängen geblieben, worauf die beiden (und auch noch etliche andere Pädagogen und Psychologen) richtig hinweisen: Es ist in den letzten Jahrzehnten, etwa seit die Thesen der studentischen Protestbewegung in die Gesellschaft einsickerten, in der Erziehung unserer Kinder etwas grundlegend schiefgelaufen.

Im aktuellen und wohl auch noch lange nicht abgeschlossenen Streit um diese Thesen hilft das vorliegende Buch der Historikerin und Journalistin Miriam Gebhardt außerordentlich weiter. Denn sie zeigt mit ihrer Erziehungsgeschichte des 20. Jahrhunderts, dass viele der aktuellen Fragestellungen und Auseinandersetzungen durchaus historische Wurzeln haben. Sehr aufschlussreich beschreibt sie, dass etwa seit den frühen 20er-Jahren des 20.Jahrhunderts eine Phalanx aus Ärzten, Hebammen und Wissenschaftlern die jungen Eltern mit Thesen und Ratschlägen konfrontierten, die bei diesen den Druck, alles richtig zu machen, immer weiter anstiegen ließ bis zum heutigen Tag, wo kaum noch ein junger Vater oder eine junge Mutter auf eigene Gefühle und Impulse vertraut, sondern diese mindestens mit Hilfe entsprechender Ratgeber absichern muss, was meistens zu noch größerer Unsicherheit führt, zum erheblichen seelischen und entwicklungspsychologischen Nachteil der Kinder.

Insbesondere die Debatte um die zu setzenden Grenzen, um die nötige Strenge und Disziplin wurzelt im frühen 20. Jahrhundert. Nachdem nun die Kuschelpädagogik der letzten Jahrzehnte ihre klaren Mängel und Defizite gezeigt hat, ist es verführerisch, an alten Konzepten anzuknüpfen. Wie findet man die richtige Balance zwischen Norm und Liebe, zwischen Strenge und Verständnis?

Miriam Gebhardts empfehlenswertes und voller Details steckendes Buch hilft bei der nötigen historischen Einordnung jener wichtigen Debatte und bei der gut begründeten Neuorientierung von Erziehungszielen, die überlieferte Normen und Werte nicht mehr über Bord wirft, aber auch nicht der Versuchung erliegt, im Kind einen Partnerersatz zu sehen und es damit zu überfordern, sondern selbstreflexiv und selbstkritisch mit allen Schwächen und eigenen Fehlern dem Kind ein Vorbild zu sein bzw. es zu werden, an dem es sich orientieren und im Lauf seiner Kindheit, Jugend und Adoleszenz auch hin zu einer eigenen Persönlichkeit abarbeiten kann.

(Winfried Stanzick; 01/2010)


Miriam Gebhardt: "Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen.
Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert"

DVA, 2009. 336 Seiten.
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