Gernot Candolini: "Das geheimnisvolle Labyrinth"

Mythos und Geschichte eines Menschheitssymbols


Quadratur des Kreises

Das vorliegende Buch möchte uns 'Mythos und Geschichte eines Menschheitssymbols' (Untertitel) näherbringen - wobei sozusagen als Losung gilt: "Das Labyrinth ist ein Rätsel, ein heiliges Zeichen, ein uraltes Symbol." Vorneweg gilt es mit einer begrifflichen Unsauberkeit aufzuräumen, indem wir genau unterscheiden zwischen Labyrinth und Irrgarten. Ein Labyrinth hat nur einen Weg, der allerdings verschlungen ist. Ein Irrgarten hat Umwege und Sackgassen. Labyrinthe verfolgen eher einen spirituellen Zweck, indem sie den Lebensweg symbolisieren und zur Entdeckung des eigenen Ichs führen sollen. Ein Irrgarten will den Besucher möglichst in die Irre führen - früher womöglich ernsthaft, heutzutage eher spielerisch. Ziel bei beiden ist es, in die Mitte zu gelangen. Eine v.a. in skandinavischen Ländern überlieferte Sonderform des Labyrinths sind die sogenannten Trojaburgen, meist aus Steinsetzungen gelegt. Jedenfalls war bereits das sogenannte Labyrinth des Minotaurus eigentlich ein Irrgarten - nun werden wir uns mit dem vorliegenden Buch hoffentlich endgültig den Unterschied merken. Die Konstruktion jedenfalls wird eingängig erläutert, dass man ausgehend von einem Kreuz mit eingefügten vier Ecken und vier Punkten, beginnend an der oberen Linie jeweils einen Bogen zur nächsten Linie bzw. zum nächsten Punkt führt - und so ein klassisches Labyrinth erhält.

Das älteste datierbare Labyrinth stammt aus Pylos in Nordgriechenland, das 7 x 6 cm große Tontäfelchen muss aus der Zeit um 1200 v. Chr. stammen, da der Palast damals niederbrannte und dabei der Ton offensichtlich dauerhaft gehärtet wurde. Vom Mittelmeerraum aus verbreitete sich das Symbol des Labyrinths in diversen Varianten über die ganze Welt. Aus dem keltischen wurde das gotische Labyrinth (mit elf statt sieben Umgängen) entwickelt, das römische wich bereits vom Grundprinzip ab (indem jeweils vier Quadrate der Reihe nach durchschritten werden). Im Labyrinth erfüllt sich also quasi die Quadratur des Kreises - Erde (Quadrat) und Himmel (Kreis) sind in der Mythologie verbunden zur Ganzheit des Universums. Dass sich Labyrinth (Weg zur Mitte) und Irrgarten (Urangst vor dem Verlorengehen) eigentlich in ihrem Prinzip widersprechen, hindert die Leute nicht daran, die beiden Begriffe bzw. Konstruktionen zu vermengen.

Seit der Minotaurus-Sage gibt es Interpretationen des Labyrinths als "Heldenweg" hinein und als "Liebesweg" hinaus. Daidalos hatte für König Minos auf Kreta das Labyrinth entworfen - die Befreiung aus dem Labyrinth, in welchem er quasi innerlich gefangen ist, hat einen hohen Preis: auf die Kreativität aus Neid folgt die Demut. In zahlreichen Kulturen war der Stier Mittelpunkt diverser Rituale: immer wieder ging es darum, die Urgewalt des Stieres zu besiegen bzw. sich anzueignen - im Labyrinth zu bannen. Irgendwie witzig mag erscheinen, dass das Christentum den Labyrinthmythos übernommen und umgedeutet hat: Christus als der wahre Theseus besiegt das Teuflische im Labyrinth der Seele. Und so kommt es zu zahlreichen Labyrinthdarstellungen in Kirchen und Klostergärten. Und Candolini sagt über das gotische Labyrinth: "Nirgendwo besser als beim Gehen werden die Botschaften des Labyrinths spürbar." Dabei ist zu konzedieren, dass das gotische Labyrinth mit seinen elf Kreisen (11 ist die Zahl der Unvollkommenheit) und 28 Kehren (so viele wie ein Mondmonat Tage hat) so ziemlich die raffinierteste Konstruktion auf diesem Gebiet ist - man legt 240 Meter zurück, wo nur 6 Meter Abstand von außen zur Mitte sind (zu sehen und zu begehen in der Kathedrale von Chartres (nördliches Frankreich) - als Fingerlabyrinth von 50 cm Durchmesser zu finden am Dom von Lucca (nördliche Toscana).

Rasenlabyrinthe waren im Mittelalter Kinderspielplätze, Tanzplätze der Jugend und Festplätze für Handwerksgilden und kirchliche Feiertage. In Deutschland gibt es noch drei erhaltene alte Rasenlabyrinthe, eines davon der "Schwedenhieb" in Graitschen a. d. Höhe (nördlich von Jena), welches das Labyrinth sogar im Ortswappen führt. An den Küsten der Nord- und Ostsee gibt es über 500 alte Steinlabyrinthe, sogenannte Trojaburgen - normannische Seefahrer brachten die Form wohl aus dem Mittelmeerraum zunächst nach Schweden. Labyrinthe finden sich auch in Russland, Indien, Pakistan, Indonesien - und auch bei den Indianern Nordamerikas - und man mutmaßt, dass die Hopi-Indianer die Form des Labyrinths auch nach Südamerika brachten. Bei den von Candolini vorgestellten sogenannten Heckenlabyrinthen handelt es sich übrigens meist um Irrgärten.

Ein Kapitel widmet sich der "universellen Sprache der Symbolik" - hier werden verschiedene Deutungen erläutert: das Labyrinth als Symbol für den Kosmos, den Lebensweg, ein Gefängnis, die Angst, das Böse, den Tod, die Mitte oder den Tanz - oder als Initiationssymbol. Leider zeigt uns Candolini nur wenige Beispiele von Labyrinthen in der Kunst (Lars Raun, Ernst Steiner, Rudolf Hausner, Ingrid Mantscheff). Dabei nennt er als einen Grund für die Faszination von Labyrinthen die Wortlastigkeit unserer modernen Informationsgesellschaft - im Labyrinth geschehe etwas mit uns ohne Worte. Das Buch präsentiert uns zahlreiche Beispiele von Labyrinthen in Farbfotos und Beschreibungen - am Ende gibt es noch ein alphabetisches Verzeichnis neuerer Labyrinthe in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Mein Favorit ist das Lavendellabyrinth in Kastellaun (Rhein-Hunsrückkreis), das dürfte das intensivste Erlebnis sein, im Duft zu lustwandeln und seinen Lebenswegen nachzumeditieren. Und dann gibt es da noch neben all den kirchlich missbrauchten Labyrinthen und Irrgärten (immerhin sind die ja heidnisches Erbe!) den 'Joseph-Beuys-Gedächtnisgarten' mit dem sogenannten 'Forum im Labyrinth' in Ostrhauderfehn (Ostfriesland) des Kunstmeisters Hartmut T. Reliwette - wobei dieses Labyrinth eigentlich ein Irrgarten ist, aber nicht weitersagen, oder?! Ach ja, und wer beides will: im Park des Schlosses Schönbrunn (Wien) finden sich ein Labyrinth und ein Irrgarten nebeneinander!
Und verwirrende Variationen sehen wir im 'Labyrinthus Touraine' zwischen Tours und Loché (Mittelfrankreich).

Insgesamt ist dies ein ungeheuerlich inspirierendes Buch, welches uns mit einem Spruch versöhnt: "Der Irrgarten fordert uns heraus, den richtigen Weg zu finden. Das Labyrinth lehrt uns, dem eigenen Weg zu vertrauen."

(KS; 04/2008)


Gernot Candolini: "Das geheimnisvolle Labyrinth. Mythos und Geschichte eines Menschheitssymbols"
Pattloch Verlag, 2008. 256 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Gernot Candolini, Jahrgang 1959, ist Biologe und arbeitet als Lehrer an einer Montessori-Schule. Seit vielen Jahren sammelt er Bilder und Geschichten über Labyrinthe in europäischen Gärten, Parks und Kirchen. Er entwirft und baut Labyrinthe und hat eine Reihe von erfolgreichen Büchern zu diesem Thema veröffentlicht.