Friedrich Dürrenmatt: "Labyrinth. Aus den Stoffen I-III"

Ausgewählt und gelesen von Wolfgang Reichmann
(Hörbuchrezension)


Der doppelte Minotaurus

Ausgewählt und gelesen von Wolfgang Reichmann hören wir hier Auszüge aus der Buchausgabe von 1979 - so dass man sich auch fragen könnte: Warum gibt es solch ein Hörbuch eigentlich erst jetzt? Dürrenmatt verweigerte ausdrücklich eine stringente Autobiografie und konzipierte stattdessen eine Art literarisches Testament, indem er eine persönliche Poetik vorlegt mit Rückkoppelung an diverse Lebenssituationen. Seit den 70er Jahren hat er diese "Dramaturgie der Phantasie" (vgl. Kindler) konsequent dokumentiert. Ähnlich wie Frisch in seinen Tagebüchern notiert Dürrenmatt seine Stoffe, die ihn verfolgen und begleiten. Diese Mischung aus Quasi-Autobiografie und Reflexion wurde von der Kritik damals schon insgesamt hochgeschätzt. Es entsteht nämlich ein erzählerisches Labyrinth, in dem sich der Rezipient aber nie wirklich verirren wird, weil Dürrenmatt beflissen an der Aussage dessen, was ihm wichtig ist, arbeitet.

Er ist ja nicht nur Dramatiker und Krimiautor, sondern auch Zeichner und Maler - das Grundthema Labyrinth hat ihn immer wieder literarisch und zeichnerisch beschäftigt: "Das Labyrinth verstehe ich als Urbild für die totale Ausweglosigkeit: alle Fluchtwege erweisen sich als Illusion: es gibt keine Lösungen, nur Irrwege." Das Labyrinth als Metapher durchzieht Dürrenmatts Werk und kulminiert in der Ballade 'Minotaurus' (1985). Das Labyrinth ist im Inneren des Menschen und in der ihn umgebenden Welt, der Mensch ist Minotaurus und Theseus zugleich. Und so sind Dürrenmatts Werke quasi labyrinthische Visionen der paradoxen Welt, die nur durch das Paradoxe darstellbar ist.

Die hier nun akustisch zu vernehmenden 'Stoffe', die etliche Gattungsgrenzen ignorieren, gelten als Vermächtnis und Schlüsselwerk - und sollten Anstoß sein, das etwas nachgelassene Interesse an Dürrenmatt wieder neu zu beleben. Wie sich der Büchner'sche Geschichtsfatalismus in Dürrenmatts Grundeinstellung wiederfindet, so werden die Widersprüchlichkeit, die Unkontrollierbarkeit und die Unbegreiflichkeit der Welt zu seinen eigentlichen Waffen: dass daraus nämlich kein absurder Nihilismus, sondern die groteske Komödie resultiert, macht die große Trotzkraft dieses Autors aus. Man sollte diese Texte ganz einfach immer wieder einmal hören bzw. lesen.

(KS; 10/2006)


Friedrich Dürrenmatt: "Labyrinth. Aus den Stoffen I-III"
Ausgewählt und gelesen von Wolfgang Reichmann.
Diogenes, 2006. 2 CDs, Laufzeit 124 Minuten.
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