(...)
Der letzte Sonnenaufgang
Zack!
Ich kippe hintenüber und sehe nur noch Sterne. Ein Stück Nachtblau schwingt
mir zwischen die Beine. Was macht der Himmel da? Dort hat er nichts zu suchen.
Genausowenig wie meine nackten Füße in den Zweigen des Feigenbaums. Das soll
normal sein? Da blühen Zehen. Milchkaffeebraune Blütenblätter. Kein sehr eleganter
Blumenstrauß... Aufgepaßt, Söhnchen! Hier wächst alles ganz von allein. Schließlich
bist du nicht irgendwo. Du bist in Algerien, in Fort de l'Eau. Im Garten Eden...
Na, ich danke für den Empfang. Jetzt kann ich gut verstehen, warum
Adam und
Eva hier weggegangen sind. Der Garten Eden, das
Paradies? Sonst stimmt das schon.
Aber heute geht Wind. Allerdings kein Schirokko... Der Beweis, Söhnchen: Du
pflanzt eine Espadrille, und es wächst ein Paar Reiterstiefel... Von wegen!
Ich habe es am Meer unten versucht, mit meinen Strandlatschen. Nichts ist gekommen,
weder Stiefel noch Reiter. In diesem Land übertreiben alle. Ein wahrer Volkssport.
Und der Typ im gestreiften Unterhemd, der mich »Söhnchen« nennt, spielt wohl
in der Übertreiber-Oberliga... Du weißt nicht, wie man's macht. Oder dir
fehlt der grüne Daumen, das Händchen für den Sand, das Händchen für die Oase;
die Hand des Mannes aus Mahón! Muß man hier die Schuhe vierhändig pflanzen?
Da kann ich mich gleich mit Maryse und Martine, meinen beiden kleinen Schwestern,
ans Klavier
setzen... Mach dich nicht lustig. Du pflanzt einen Pfirsichkern, und am nächsten
Morgen hast du einen Becher Pfirsich Melba in der Milk-Bar! Das ist die Hand
des Mannes aus Mahón!... Alles Märchen! In der Milk-Bar in Algier wächst nur
die Rechnung ganz von allein... Sagt die M'am. Wir sind schon mit der M'am in
dieser Bar gewesen. Am Eingang haben sie uns durchsucht... Ihr dürft euch was
wünschen, Kinder, ihr werdet zum ersten Mal durchsucht... Auf der einen Seite
die M'am und meine beiden kleinen Schwestern mit einer Dame in Marineblau. Auf
der anderen ich mit einem schnurrbärtigen Dünnen. Er hat mich abgetastet. So
en passant hat er meinen Kuba-Kuckuck unter der kurzen Hose befummelt. Sein
goldener Vorderzahn hat darüber gelacht. Stimmt schon - ich bin für mein Alter
etwas klein geraten. Mit vierzehn sehe ich gerade mal aus wie zwölf, wenn ich
die Schultern hochziehe... Das ist nicht weiter schlimm, es liegt an den Drüsen...
Die M'am weiß immer etwas, um mich zu trösten. Aber der Lüstling hat gegrinst
und seiner Kollegin zugezwinkert. Passiert! Jetzt weiß es die ganze Bar. Und
morgen ganz Algier.
In diesem Augenblick dachte ich, daß es richtig war, zwei von meinen Jahren
verschwinden zu lassen. Ich hatte das insgeheim beschlossen, im Flugzeug, vor
der Landung. Diese beiden Jahre gehören nur mir. Ich kann damit anstellen, was
ich will. So habe ich aus vierzehn zwölf gemacht... Wenn das Modell nicht mit
dem Plan übereinstimmt: ändere den Plan!... So macht es der P'pa doch bei den
Flugzeugen, die er bei der Air France baut. Warum dann nicht ich auch?... Dein
Vater sagt das nicht über die
Flugzeuge,
sondern über die Edelstahl-Sachen, die er mir in der Fabrik macht ... In Ordnung,
M'am. Aber es kann doch nicht schwieriger sein, mich zu korrigieren als eine
Schneckenpfanne. Also: Ich bin zwölf. Das heißt, ich werde zwölf, in drei Monaten.
Jetzt fühle ich mich besser. Leichter. Jetzt bin ich 50 geboren. Runde Zahl.
Ich muß es Maryse und Martine sagen, damit sie ihr Alter auch ändern. Ich habe
keine Lust, ihr kleiner Bruder zu werden. Die beiden Hexchen wären in der Lage,
das auszunutzen.
In der Milk-Bar haben wir jeder eine Karte bekommen. Nie die Karte lesen, sonst
weiß man nicht, was man nehmen soll. Ich habe ein Johannisbeer-Sorbet bestellt
... Nein, hier nimmt man keine roten Früchte. Das paßt nicht ... Warum denn,
M'am? ... Psst! Wegen der Farbe ... Diese Familienmarotte, zu flüstern, wenn
Leute in Hörweite sind! Als wäre die Farbe des Johannisbeer-Sorbets ein Militärgeheimnis!
Um mir zu erklären warum, muß die M'am eine Pantomime aufführen, das hat sie
davon. Noch so eine Familienmarotte. Und Rot pantomimisch darzustellen ist gar
nicht so leicht. Ich begreife nichts und bestelle zwei Kugeln Vanilleeis. Das
ist wenigstens weiß. Auf dem Rückweg habe ich Serge gesagt, er soll mir ohne
Pantomime erklären, warum man in der Milk-Bar keine roten Früchte bestellen
darf. Er hat etwas von »Plastikbomben« erzählt, von mehreren. Ich habe das schon
ein paarmal gehört, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie eine Bombe aus Plastik
Beine und Arme ausreißen, Leiber zerfetzen und einen sogar töten soll ... Das
hättest du mal sehen sollen, alles war rot. Alle möglichen Rots durcheinander.
Erdbeer, Heidelbeer, Johannisbeer und Blut. überall
Blut!
Deswegen soll man dort keine roten Früchte bestellen ...
Rrrums! Mein Kopf knallt auf den Boden. Jetzt haben sie mir den Kopf mit einer
Plastikbombe weggesprengt. Blut sprudelt in meinen Mund. Ich falle unsanft aus
einem Stück Himmel. Hilfe, sie versuchen, mich bei den Haaren einzupflanzen!
Söhnchen, hüte dich vor der Hand des Mannes aus Mahón! Die würde sogar einen
Schädel dazu bringen, daß er anwächst. Darum haben wir hier keine Kokospalmen.
Sonst würden ja lauter Neger wachsen! ... Ich verstehe nicht, was das heißen
soll. Ich will nur noch schreien, kreischen, blöken ... Hört auf, mich zu schlagen!
... Aber meine Zunge kringelt sich in meinem Hals wie eine Fastnachtströte ...
Alaki! Alaki! Fünf Lose für hundert Franc, zwölf für zweihundert! ... Außerdem
phantasiere ich. Das muß das Fieber des Mannes aus Mahón sein. Das wenigstens
ist praktisch hier in Fort de l'Eau, alles kommt aus Mahón: die Hand, das Fieber,
der Boden, die Leute, die Stadt. Und schon seit immer. Wo liegt dieses Mahón
noch gleich? Auf Mallorca
oder auf Menorca? Ich habe das schon hundertmal erklärt bekommen.
Paff! Die Faust, die mich eben voll im Gesicht getroffen hat, hilft mir auch
nicht gerade, die Balearen auseinanderzuhalten. Ich hätte auf den P'pa hören
und mit Boxen anfangen sollen. Dann hätte ich ausweichen gelernt und besäße
elastischere Gelenke ... Den Kopf! Beweg den Kopf! ... Der Schmerz klettert
auf dem Nasenrücken hoch und explodiert unter den Augenbrauen. Zong! Unterwegs
schlucke ich noch eine Mundvoll Henna und Kautabak. Später kann ich auch mal
so stark ausspucken, daß im Staub Sandrosen wachsen. Dazu braucht man nicht
aus Mahón zu stammen. Ich taumele gegen eine Platane in der Nähe des Boule-Feldes.
Wie heißt das Wort, wenn man mit dem Rücken die Rinde eines Baumes abschält?
... Halt dich nicht mit Vokabeln auf, halt lieber mit der Kugel drauf, was du
kannst! ... Der P'pa hat recht. Ich merke mir seinen Rat dafür, wenn ich auf
eine gegnerische Kugel ziele, aber auf die kleine Zielkugel spiele ich lieber.
Sie schaut immer nur ein bißchen hervor. Wie die Sonne bald. Gleich geht sie
auf und bringt ein bißchen Ordnung in die Landschaft. Damit endlich wieder das
Unten unten ist, das Oben oben und Mahón
auf Menorca.
Die Sonne! Genau, auf die habe ich heute früh in aller Ruhe gewartet, als mich
die Ohrfeige vom Ast gewatscht hat. Die Sonne! Zum letzten Mal. Das steht in
der ›Dépêche d'Algérie‹ von heute: Samstag, 4. August; Sonnenaufgang 5 Uhr 12
... Ich schaue auf meiner Uhr nach. Ich habe noch Zeit. Von wegen »meiner Uhr«!
Das ist die Uhr vom P'pa. Ich habe sie heute nacht stibitzt, als ich heimlich
aus dem Haus geschlichen bin. Sie hängt immer an demselben Nagel über dem Nachttisch.
Dabei weiß ich, daß der P'pa sie brauchen wird, weiß, daß sein Aufbruch in die
Fabrik oder zum Angeln so geregelt vor sich geht »wie nach Noten«. Sagt er.
Ich weiß doch, P'pa. Aber heute morgen brauche ich deine Uhr einfach. Ich brauche
alle Karat deiner Lip, all ihre Rubine, ihre minutengenauen Minuten und vor
allem den fluoreszierenden kleinen Zeiger, der die feinen Sekundenscheibchen
abtickt.
Der letzte Sonnenaufgang ist für mich nämlich wichtig, P'pa. Ich darf ihn auf
keinen Fall verpassen. Dieser 4. August ist ein historischer Tag. Das sagen
alle. Ich habe noch nie einen historischen Tag miterlebt. Du hast ja schon den
Krieg gehabt und de Gaulle. Aber ich? Zwölf Jahre ist genau das richtige Alter
dafür. Vierzehn wäre schon zu alt.
Im Dunkel des Schlafzimmers meiner Eltern bin ich immer dem Ticktack nachgegangen.
Der P'pa schnarcht und brummt wie der Motor einer DC-4. Die restliche Familie
schläft in der Schlafzimmer-Garage, wo wir in diesen Ferien wohnen. (...)
(aus "Schwimmstunde
mit Marilyn" von Daniel Picouly)
Roman. Aus dem Französischen von von Hinrich Schmidt-Henkel
Der kleine Erzähler aus ›Fängt ja gut an, das Leben‹ ist wieder da. Diesmal
macht er mit seiner Familie Ferien am
Meer.
Und das ausgerechnet in Algerien, wo es 1962 alles andere als ruhig zugeht.
Der 4. August, der Tag an dem Ben Bella mit seinen Truppen vor dem Einzug in
Algier steht, ist der Tag, an dem der phantasievolle, milchkaffeebraune Protagonist
uns alles erzählt von diesen Ferien mit seiner Familie am Strand. Von einer
Tracht Prügel wegen vierzehn Scheiben Salami. Vom Schwimmunterricht mit einer
überaus schönen Mademoiselle. Von Monsieur Fernando mit seiner Lotterie, in
der buntgefärbte Paradies-Vögel aller Arten zu gewinnen sind. Von seinem Freund
Lamia, der ihn in das dunkle Geheimnis von Marilyn einweiht. Und davon, wie
er selbst am Ende fast noch zum richtigen Helden wird. Und irgendwie erwachsen,
auch wenn das eigentlich gar nicht in seiner Absicht lag.
Daniel Picouly wurde 1948 in Villemomble als elftes von dreizehn Kindern eines
Flugzeugschlossers von den Antillen und einer französischen Mutter geboren.
Als Schüler ein Faulenzer, träumte er davon, Box- und Fußballweltmeister
zu werden; tatsächlich wurde er Lehrer an einem Pariser Gymnasium. Er veröffentlichte
in Frankreich zwei Kriminalromane und ein Kinderbuch, ehe er mit ›Fängt ja gut
an, das Leben‹ (dtv 12561) über Nacht berühmt wurde. (dtv)
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