Leseprobe:

    Ihm reichte bereits, dass sich seine aufgeklärte, weltaufgeschlossene Köchin jeden 15. April in eine ganz dem Heiland ergebene Stigmatisierte verwandelte. Einen vollen Monat dauerte dann dieser Spuk, in dem die Klementine täglich außer Montag vierstündige Ekstasen durchlebte, in denen sie die Ereignisse am Kalvarienberg schaute. Große katholische Brocken. Ekstase ist ein Wort griechischer Herkunft und bedeutet Außer-sich-sein, aber was Klementine dann täglich Punkt 18 Uhr durchlebte, war schon fast Besessenheit, fast geil. Ihre Lippen pressten sich zusammen, bald zog sie sie hinauf, bald blähten sie sich furchtbar. Das ganze Spektrum möglicher Ausdrücke lief über ihr Gesicht. Mal wirkte es gedunsen, mal ausgezehrt. Blut floss aus ihren Augen. Sie schrie entsetzlich. Nimm mich, ja, hob den Oberkörper, streckte flehentlich die Hände. Kreischte. Ihr Antlitz war verzerrt wie eine Maske. Jesus, zuckte ihr Körper. Jesus bleib, nicht stirb für uns. Nicht jetzt. Sie erlebte die Geißelung des Herrn, litt mit, mit jedem Stoß. Und plötzlich, wie die Häscher Christus die Dornenkrone auf das Haupt stießen, sprangen die Wunden auf, färbte sich ihr Kopftuch rot. Sie durchlebte die Leiden Christi, große Blöcke Schmerz. In ihr. Heraus. Wunden sprangen ihr ins Fleisch, die wie glasiert aussahen, beinahe leuchteten, und von denen ein balsamischer Geruch ausging. Gotti. Wie eine Prügelschrift. Sie eiterten nicht und heilten nicht, als wären sie nur zum Ansehen da. Reklame. An Händen und Füßen blutete sie. Mein Gott. Ebenso am Herzen, wo die Lanze des Pontius Pilatus den Jesus durchbohrt hatte. (...)

    Klementine Zitzelfeigler schrie während der Ekstasen ein Kauderwelsch von unverständlichen Rufen, in denen bekannte Sprachforscher aber, die das Phänomen untersuchten, unzweifelhaft aramäische Sätze erkannten: Elai, Elai, lema schebaktami. Kadosz! Kadosz! Kadosz! Ihr war das unangenehm. Der Heiland spricht ja eine Sprache, die ich selbst gar nicht verstehe. Sagt mir, was er durch mich sagt. Ein Ausländer. Aramäisch wurde zur Zeit Christi gesprochen.
    Selbst aß und trank sie während des ganzen Monats nichts und war zur Propheterie fähig. So sagte sie zum Beispiel wiederholt voraus, dass Pfarrer Hutwelker Papst werden würde. Auch gelang es ihr, geweihte von ungeweihten Hostien zu unterscheiden, echte und unechte Reliquien zu trennen und vieles mehr, was auch Illusionisten könnten. Sie selbst betrachtete sich als gefügiges Werkzeug des Erlösers, das keinen Willen hat, als zu dienen, zu gehorchen. Alles wünschte sie in Gott und für Gott. Nur beim ersten Ausbruch ihrer Wunden schrie sie auf, als liefe ihrer Wirklichkeit was über: Das brauche ich ja nicht. Jesus. Wozu ist das gut. Das hat auch die heilige Theresia vom Kinde Jesu nicht gehabt. Warum ich? Zehn Zwerge auf dem Pferd. Worauf kommt es denn an? Doch nur darauf, zum Heiland zu gelangen. Heiland. Dich allein sollen wir lieben. Austernmenschen, die wir sind. Du bist unser Öffnen, unser Schlürfen. Dich für immer, immer lieben. Ja, ich will. Doch diese Wunden? Dieses Brechen? Muss das sein?
    Regelmäßig am 15. Mai verschwanden die Wunden und Ekstasen und aus der gottschauenden Klementine wurde wieder die dem Leben aufgeschlossene,
rindfleischsiedende Pfarrersköchin. Sie war somit die erste Temporär-Stigmatisierte in der Geschichte der römisch-katholischen Kirche, die bislang gezählte 343 Stigmatisierte kannte, wovon 65 heiliggesprochen worden sind. Und alleine deshalb war das zuständige Episkopat eher vorsichtig mit einer vorschnellen Anerkennung. (...)


Aus dem Roman "Scala Santa oder Josefine Wurznbachers Höhepunkt" von Franzobel; erschienen im Paul Zsolnay Verlag.