- Als die Astrologen im 145. Jahr der hedschra, der Auswanderung, Abu Ja'afar al-Mansour verkündeten, dass die Sterne für seine Pläne günstig ständen, legte der abbasidische Kalif am rechten Ufer des Tigris den Grundstein für die geplante Stadt. Die Bauarbeiten dauerten drei Jahre, von 762 bis 765 unserer Zeitrechnung. Kann mir jemand sagen, wie die Stadt gebaut wurde? Richtig. Mit konzentrischen Ringmauern und Toren in alle vier Himmelsrichtungen. Ein paar Jahre später ließ al-Mansour Münzen prägen, mit der Aufschrift Dar al-Salam, Stadt des Friedens. Trotzdem blieb Souk Bagdad, der Name eines alten persischen Dorfes am Tigris, irgendwie hängen. Ich brauche euch wohl nicht von der Pracht Bagdads während des abbasidischen Kalifats zu erzählen, davon, wie die Stadt in der goldenen Blütezeit unter al-Mansours Sohn Harun al-Raschid wuchs und gedieh und dieser gefeiertste aller Kalifen Paläste und Moscheen, Archive, Bibliotheken und Akademien errichten ließ. Vergesst nicht, dass an eben diesen Akademien Aristoteles und Sokrates ins Arabische übersetzt und ihre Texte so vor der Zerstörung bewahrt wurden.

Nach dieser Einführung darf ein schläfriger Schüler weiter vom vergangenen Glanz des islamischen Reiches erzählen. Meine Uhr sagt mir: noch eine Viertelstunde. Man kann Dutzende von Jahrzehnten in eine Schulstunde packen, und die Zeit vergeht trotzdem nicht schneller. Meine Nachbarin stupst mich, reicht mir einen Zettel weiter. Ich entfalte ihn.

"Ist Haqqi krank, oder hat er sich in eine bessere Welt abgesetzt?" Obwohl der Zettel keine Unterschrift trägt, erkenne ich sofort Selmas große Handschrift. Mit missbilligend gerunzelter Stirn drehe ich mich um. Wenn der Zettel unserem Lehrer in die Hände gefallen wäre? Selma hätte ihre Frage verschlüsseln oder den Satz einfach unvollendet lassen sollen. Ich hätte sofort verstanden, weil ich mir genau dieselben Sorgen mache wie sie. Unfähig, ihr über die Entfernung Vorwürfe zu machen, zucke ich nur die Schultern. Nein, ich habe nichts gehört. Selma reckt vier Finger hoch, deutet zum leeren Pult zwei Reihen rechts von mir. Ich weiß, ich weiß. Haqqi fehlt schon den vierten Tag.

- In Bagdad wurde auch die Madrassa al-Mustansiryah gegründet, erste islamische Universität und eine der ältesten der Welt. Denkt jetzt aber nicht, Bagdad sei nur ein wissenschaftliches Zentrum gewesen, es war ebenso ein Zentrum des Handels und des materiellen Wohlstands. Obstgärten und Parks wurden angelegt, Basare dehnten sich aus und zogen Händler aus allen Teilen des arabischen Reiches an - eines Reiches, das sich vom Indus bis zum Mittelmeer und vom Kaspischen Meer bis zum Arabischen Golf erstreckte.

Ich stütze den Kopf in die Hand und wünsche mir, Hulagu würde mit seinen wilden Horden unsere Geschichte stürmen, die große Metropole zerstören, die Paläste plündern, die Gärten in ein Flammenmeer tauchen. Das Massaker war so unbarmherzig, sagt man, dass innerhalb von Stunden die Straßen rot von Menschenblut waren und nach wenigen Tagen die unbestatteten Überreste Tausender hingeschlachteter Einwohner zum Himmel stanken. Der Tigris war so dunkel wie die tiefste Nacht, gefärbt von der Tinte der Manuskriptberge, die die Mongolen in den Fluss geworfen hatten. Der Direktor kommt ins Klassenzimmer, ohne zu klopfen und ohne die Tür hinter sich zu schließen. Wir erheben uns sofort - ein routinemäßiger Gehorsam, den unsere Lehrer für Respekt halten. Der Geschichtslehrer unterbricht seine Schilderung der Handelswege, die unter Raschids Herrschaft entstanden, und verbeugt sich vor dem Direktor. Dann zieht er sich zum Fenster zurück, überlässt das Podium seinem Vorgesetzten.
- Eure Physikstunde am Nachmittag fällt aus!
Das vertraute Pausenklingeln unterbricht ihn und erlöst uns diesmal gleich von zwei Stunden. Hinter mir ist ein ungehemmter Jubelschrei zu hören. Irgend jemand kichert. Zwei Gefühlsäußerungen zu viel, und das in Gegenwart des Direktors! Der steckt die Hände in die Taschen, steht stocksteif da und wartet mit starrem Gesicht, dass wieder Stille eintritt.


(Aus "Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom" von Mona Yahia.
Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle.)

Das Wolfszahn-Amulett ihrer syrischen Kinderfrau, die Streiche, Kämpfe und Freundschaften in der jüdischen Schule, das jährliche Wettschwimmen im Tigris, die Gesänge der Beduinenfrauen im Soukh, der Duft nach Orangenschalen auf dem Herd im Winter: Linas Alltag im Bagdad der sechziger Jahre ist voller Gerüche, Geschichten, Sprachen und Geräusche. Doch je älter sie wird, desto deutlicher bemerkt sie die Zeichen der Veränderung: arabische Männer, die eine mit Hose bekleidete Frau beschimpfen, weil sie auf der Straße ein Lied singt. Die leeren Bänke in der Schule, wenn wieder eine Freundin über Nacht ins Ausland verschwunden ist. Als Flugblätter in arabischer Sprache vom Himmel regnen und den glorreichen Sieg der Revolution verkünden, weiß auch Lina, dass sich das weltoffene Bagdad vor den grauen VW-Käfern der Geheimpolizei fürchten muss ...
Die sprachmächtige Beschwörung einer vergessenen Welt voller Lebensfreude und Fantasie und zugleich der literarische Triumph über die Melancholie der Erinnerung: Mona Yahias preisgekrönter Roman ist voller Einsicht und Witz, brillant und poetisch, und lässt an der Sehnsucht der Autorin nach ihrer Heimat keinen Zweifel.
Buch bestellen