Das ganze Theater um die Unschuld 
hat mich immer kaltgelassen. Ich bin kein Immoralist, doch die Tugend 
interessiert mich nicht. Als meine kleinen Schwestern anfingen, über ihre 
Menstruation zu tuscheln, habe ich mich angewidert abgewandt. Als meine Freunde 
anfingen, sich mit ersten Erfolgen zu brüsten, von denen blutige Streifen auf 
weißen Laken zeugten, habe ich mich angewidert weggewandt. Ich habe nie 
verstanden, weshalb man eine Unschuld verlieren oder bewahren soll. Außerdem: 
Die Unschuld ist tot. Sie ist unmerklich gestorben, irgendwann in den sechziger 
Jahren des 20.Jahrhunderts. Ihr Tod ist nicht von pompösen Phrasen begleitet 
worden wie von jener über jenen 
Gott, der tot sei 
und der doch immer wieder aufstand wie ein Demiurg und die Kirchen füllte. Sie 
bekam keine Fanfaren, keine Tücher und Fahnen auf ihrem letzten Geleit. Wir 
verabschiedeten sie ohne Totenmusik und Todesmärsche, ohne Regen und 
rotgefrorene Füße. Längst war sie aus ihren Behausungen vertrieben, den 
jungfräulichen Gärten, den stillen Klöstern, den weißen Mädchenzimmern, die ihre 
Jahrhunderte möbliert hatten. Blaßblau gestrichen oder weiß getüncht, Zimmer mit 
Musselinvorhängen, die das Draußen verhängten. Die nur Geheimnisse hüteten, in 
die jede Mutter ihre Nase hätte stecken können, wenn sie eine Schublade aufzog. 
Sie sind verschwunden. Das Wort Mädchen trug längst bei der Hochzeit Schwarz, 
obwohl vor den Kirchenportalen nach wie vor weiße Roben ausgestellt werden. Ich 
bin fast sechzig, und 
Hochzeiten haben mich nie interessiert. Ich verfüge weder 
über den Zynismus des Spießers noch über den Tugendkatalog des Verführers. Meine 
Geliebten hatten alle das gleiche Alter - die Frau von dreißig Jahren. Nichts 
hat mich zu ihr gezogen, nichts hat mich von den Frauen ferngehalten. Nur die 
Unschuld hat mich nie angezogen, ebensowenig wie die Raffinesse. In der Liebe 
liebe ich die hohe Simplizität. Vielleicht ist das der Grund, weshalb manche 
Frauen denken, ich wäre nicht fähig zur Leidenschaft. Leidenschaft, die sich 
ausstellt, bekommt leicht den Geruch des Perversen. Auch die Perversion ist mir 
zuwider. Vielleicht mangelt es mir an einer gewissen Besessenheit. Auch die 
Obsession, die manche Liebenden dazu treibt, allein oder mit dem anderen in 
tödliche Gewässer zu springen, ist mir fremd. Ich kenne die Unruhe der 
Leidenschaft, die nicht nur den Körper, sondern auch Seele und Geist an den Rand 
der Verzweiflung bringt. Aber es stimmte nicht, wenn ich sagte, daß ich sie erst 
spät im Leben, mit Equilibre, kennengelernt hätte. Und es ist wohl richtig, daß 
mich jener Verlust der Unschuld zu beschäftigen begann, als ich Equilibre 
begegnet war.
Es gibt kein Zurück, und damit ist auch Verführung 
unmöglich geworden. Um die Doppelbödigkeit dieser Formulierung nicht auf die 
Spitze zu treiben: Ich meine den Mythos der Unberührtheit, der gestorben ist in 
der Gesellschaft. (Nebenbei: Auch Equilibre war keine Jungfrau mehr.) Eine 
Verführung ist häufig eine Sache von zwei Whiskys oder drei Zigaretten, nicht 
länger jene langsame und strategische Operation, die nicht ohne Grund mit 
militärischen Metaphern umschrieben wird. Eine Eroberung, eine Belagerung, bei 
der die Belagerte eine Bastion nach der anderen verliert. Was wäre in dem Roman 
von 
Choderlos de Laclos Valmont, was Kierkegaard als Autor des Tagebuch des 
Verführers ohne die Hürde der Jungfräulichkeit? Aber mir liegen Vergleiche 
nicht. Und für mich läßt sich die körperliche Liebe nicht den Taktiken von Krieg 
oder Sport anpassen. Die Rede vom Kampf der Geschlechter halte ich für die 
Angeberei von Impotenten. Und ich wende mich auch angewidert weg, wenn ältere 
Herren feinschmeckerisch junge Mädchen passieren lassen, behauptend, sie wären 
noch nicht geweckt. Welch schrecklicher Uhrenschlag risse ein bis zu diesem 
Zeitpunkt schlafendes Mädchen aus welchem Traum? Auch die Schulen der Liebe, die 
Einführungsrituale in die Geheimnisse des Körpers grenzen für mich an jenen 
Bereich der Perversion, dessen Hautgout die Liebe für viele so interessant 
macht, deren Impotenz die Perversion nötig hat. Die alten Frauen, die 
Kupplerinnen und Gevatterinnen, nennen das Liebe machen. Die verlorene Unschuld. 
Obwohl ich fast sechzig bin, ist mir der Sinn für das Drama verschlossen 
geblieben, das das Leben so vieler Frauen ruiniert hat. Doch nun, da 
verschwunden ist, was früher höchste Attraktion war, da die Virginität keine 
Rolle mehr in der Gesellschaft spielt, muß ich nun wirklich in die 
Schwanengesänge älter gewordener Herren mit einstimmen, die im Verschwinden 
dieses Tabus den Untergang der weiblichen Zivilisation sehen? Ich breche in 
Gelächter aus, wenn ich an das Objekt dieses tausendjährigen Kultes denke. Ein 
kleines Häutchen, das Hymen, dessen unzeitiger Riß über Leben und Tod entschied. 
War es nicht längst, bevor es starb, ein alter Hut? Ein verstaubter Ladenhüter? 
Aber das Material war zu winzig, als daß man auch nur einen Filzhut daraus hätte 
arbeiten können. Wie jenen alten Hut, den ein junges Mädchen von fünfzehn auf 
einem Schiff in Indochina trug, um ihn einem Verbotenen, dem Liebhaber, zu 
übergeben. Als eine alte Dame, eine russische Prinzessin und Emigrantin mir 
sagte, dieses Mädchen, deren Geschichte sie gelesen hatte, sei nichts als ein 
kleines Hürchen, ein altes Flittchen, wandte ich mich angewidert ab. Nichts war 
hinreißender, als wenn ich Equilibre durch die offene Tür allein in ihrem Zimmer 
sah und selbstvergessen vor sich hin singen hörte. Ich wollte nicht lauschen, 
ich wollte nichts hören, ich wollte nie ihre selbstvergessenen Augenblicke 
stören. Aber manchmal, an regnerischen Tagen, wenn wir beide in unseren Zimmern 
blieben, die nebeneinanderlagen, hörte ich sie doch. Nicht nur ihre kindliche 
Stimme, die Töne, sondern auch die Worte: "Einst glaubte ich, als ich noch / 
unschuldig war / und das war ich einst grad so wie du / vielleicht kommt auch zu 
mir einmal einer / und dann muß ich wissen, was ich tu." 
Sie wußte es 
nicht. Sie wußte es genausowenig wie andere 
Verliebte, aber am Ende blieb ich 
allein.
(Aus dem Roman "Der verschlossene Garten" von Undine Gruenter.)