(...) Die Verkündigung Nietzsches, wonach 
  "Gott tot ist", stellt nicht nur oder in erster Linie ein Bekenntnis zum Atheismus 
  dar, so als sagte man: Gott existiert nicht. Eine derartige Behauptung, die 
  Nichtexistenz Gottes, kann Nietzsche nicht formulieren, denn sonst würde die 
  behauptete absolute Wahrheit dieser Behauptung für ihn immer noch soviel bedeuten 
  wie ein metaphysisches Prinzip, eine wahre "Struktur" des Realen, welche dieselbe 
  Funktion hätte wie Gott in der traditionellen Metaphysik. Dort, wo es ein Absolutes 
  gibt, und sei es auch die Behauptung der Nichtexistenz Gottes, gibt es immer 
  noch die Metaphysik, das höchste Prinzip, und das heißt eben gerade jenen Gott, 
  dessen Überflüssigkeit Nietzsche entdeckt zu haben glaubt. 
  Kurz gesagt, Gott ist tot, das bedeutet für Nietzsche, dass es kein letztes 
  Fundament gibt, und nichts anderes. Wenngleich Heidegger das nicht anerkennen 
  will, hat auch seine Polemik gegen die von ihm so genannte Metaphysik, das heißt 
  die gesamte europäische philosophische Tradition seit Parmenides - welche meint, 
  sie könne ein letztes Fundament der Realität in Form einer objektiven Struktur 
  bestimmen, die wie ein 
Wesenskern 
  oder eine mathematische Wahrheit außerhalb der Zeit gegeben ist -, eine 
  analoge Bedeutung. So wie Nietzsche nicht behaupten kann, dass Gott nicht existiert 
  (damit müsste er ja sagen, dass er die wahre Struktur des Realen kennt), so 
  kann Heidegger nicht die Metaphysik bestreiten und behaupten, dass das Reale 
  eine andere - nicht objektive, veränderliche usw. - Struktur habe, denn auf 
  diese Weise würde er immer noch eine Struktur behaupten. 
  
  Tatsächlich leugnet Heidegger die metaphysische - objektive, dauerhafte, strukturelle 
  - Konzeption des Seins nur im Namen der Erfahrung der Freiheit: 
  Wenn wir existieren, als Projekte, Hoffnungen, Absichten, Ängste, kurz, als 
  endliche Wesen, die eine Vergangenheit und eine Zukunft haben und nicht nur 
  Erscheinungen sind, dann kann Sein nicht in Begriffen der objektivistischen 
  Metaphysik gedacht werden. Diese Ablehnung der Metaphysik drückt in Wirklichkeit 
  die Haltung eines großen Teils des - nicht nur philosophischen, sondern auch 
  künstlerischen, literarischen und religiösen - Denkens der ersten Jahrzehnte 
  des 20. Jahrhunderts aus, als die humanistische Kultur das Bedürfnis zu verspüren 
  begann, sich gegen jene "totale Organisation" der Gesellschaft aufzulehnen, 
  die mit der Rationalisierung der Arbeit und dem Triumph der Technologie durchgesetzt 
  wurde. Nach Ansicht eines großen Teils der Philosophie des 20. Jahrhunderts 
  lässt sich Sein nicht mehr als Fundament denken, und dies nicht nur deshalb, 
  weil man Gefahr liefe, dass dieser Objektivismus die totalitäre Gesellschaft 
  und, zum bösen Schluss, Auschwitz oder den Gulag vorbereitet. 
  Tatsache ist, dass es der europäischen Kultur zum Bewusstsein gekommen ist, 
  dass es andere Kulturen gibt, die sich nicht einfach als "primitiv" einstufen 
  lassen, das heißt als solche, die auf dem Wege des "Fortschritts" hinter uns 
  Westlern hinterherhinken. Das 19. Jahrhundert ist die Epoche, in der sich die 
  historischen Wissenschaften, aber auch die Kulturanthropologie entwickelten: 
  Es reifte das Bewusstsein, dass es nicht nur einen einzigen Gang der Geschichte 
  (der dann angeblich in der westlichen Zivilisation kulminiert), sondern verschiedene 
  Kulturen und Geschichtsverläufe gibt. Dieses Bewusstsein erhielt später entscheidende 
  Anstöße durch die Befreiungskriege der Kolonialvölker. Der Aufstand Algeriens 
  gegen Frankreich und dann, zu Beginn der Siebziger, der 
Krieg 
  um das Erdöl, das sind die letzten Episoden des nicht nur theoretischen, 
  sondern praktischen und politischen Zusammenbruchs des Eurozentrismus, und das 
  heißt der Idee einer einzigen menschlichen Zivilisation, deren Leitstern und 
  Gipfelpunkt vorgeblich Europa darstellt. 
  
Wie passen nun alle diese Dinge, und das heißt 
Nietzsche, Heidegger, das Ende des Kolonialismus und der christliche Glaube, 
zusammen? Mir scheint ganz einfach, dass man sagen kann, die Epoche, in der wir 
heute leben und die zu Recht postmodern heißt, ist die Epoche, in der man sich 
die Wirklichkeit nicht mehr als eine fest in einem einzigen Fundament verankerte 
Struktur denken kann, wobei es die Aufgabe der Philosophie wäre, diese zu 
erkennen, und die Aufgabe der Religion vielleicht, sie anzubeten. Die 
tatsächlich pluralistische Welt, in der wir leben, lässt sich nicht mehr mit 
einem Denken interpretieren, das sie im Namen einer letzten Wahrheit um jeden 
Preis in eine Einheit bringen will. Ein solches Denken würde unter anderem jedem 
demokratischen Ideal zuwiderlaufen, es müsste behaupten - wie wir es von 
zahlreichen katholischen Politikern, zumindest in Italien, gehört haben -, dass 
ein von der Mehrheit gewolltes Gesetz, das aber ohne Wahrheit sei (oder das im 
Widerspruch zu den Lehren der Kirche stehe), keine Legitimität besitzt und 
daher, so muss man schließen, nicht den Gehorsam der Bürger verdient. Von diesem 
Punkt aus kann man auf verschiedene Weise fortschreiten.
Beispielsweise lässt 
sich fragen, wie es noch möglich ist, rational zu argumentieren, wenn wir auf 
den Anspruch verzichten, ein absolut letztes Fundament zu erfassen, das jenseits 
der kulturellen Unterschiede für alle gilt. 
  Hierauf könnte die Antwort lauten: Der universelle Wert einer Behauptung wird 
  geschaffen, indem man den Konsens im Dialog konstruiert und dabei nicht behauptet, 
  man habe das Recht auf Zustimmung, weil man über die absolute Wahrheit verfügt. 
  Und ein dialogischer Konsens wird geschaffen, indem man das anerkennt, was wir 
  als kulturelles und historisches Erbe sowie auch als dasjenige von technisch-wissenschaftlichen 
  Errungenschaften gemeinsam haben. Meine Absicht ist eher zu zeigen, wie es der 
  postmoderne Pluralismus (mir, aber ich glaube, auch im allgemeinen) gestattet, 
  den christlichen Glauben wiederzuentdecken. Schließlich ist, wenn Gott tot ist, 
  und das heißt, wenn die Philosophie zur Kenntnis genommen hat, dass sie das 
  letzte Fundament nicht mit Gewissheit ergreifen kann, auch die "Notwendigkeit" 
  des philosophischen Atheismus beendet. Nur eine "absolutistische" Philosophie 
  kann sich ermächtigt fühlen, die religiöse Erfahrung zu leugnen. Doch Nietzsches 
  Verkündigung vom Tode Gottes lässt sich vielleicht etwas noch Wichtigeres entnehmen. 
  Gott ist tot, schreibt Nietzsche, 
  weil seine Gläubigen ihn getötet haben - das heißt, sie haben gelernt, nicht 
  zu lügen, weil er es ihnen gebot, und zum Schluss haben sie herausgefunden, 
  dass Gott selbst eine überflüssige Lüge ist. Das aber bedeutet im Lichte unserer 
  postmodernen Erfahrung: Eben weil Gott als letztes Fundament, und das heißt 
  als absolute metaphysische Struktur des Wirklichen, nicht mehr vertretbar ist, 
  eben deshalb ist es von neuem möglich, an Gott zu glauben. Allerdings nicht 
  an den Gott der Metaphysik und der mittelalterlichen Scholastik, der jedenfalls 
  nicht der Gott der Bibel ist, das heißt des Buches, das gerade die moderne rationalistische 
  und absolutistische Metaphysik nach und nach aufgelöst und geleugnet hatte. 
  Und weiter: Wenn es keine Philosophie mehr gibt (keine historizistische wie 
  den Hegelianismus und den Marxismus; und auch keine positivistische wie die 
  verschiedenen Formen des Szientismus), welche meint, sie könne die Nichtexistenz 
  Gottes beweisen, dann sind wir wieder frei, 
das Wort 
  der Heiligen Schrift zu hören. (...)
(Aus "Jenseits des 
Christentums
Gibt es eine Welt ohne Gott?" von Gianni Vattimo.
Aus dem 
Italienischen von Martin Pfeiffer.)
Gibt es einen postmodernen Gott? 
Nietzsches Botschaft, Gott sei tot, ist Allgemeingut geworden. Aber wer ist an 
seine Stelle getreten? Der Philosoph Gianni Vattimo plädiert für eine neue Form 
der Christlichkeit: es könnte ein christlicher Glaube sein, der sich von allen 
Dogmen befreit hat. 
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