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Einer musste sterben an jenem Tag – aber wer? Harkat, ich oder der Panter?
Schwarze Panter sind eigentlich Leoparden. Von nahem kann man auf ihrem Fell schwache Flecken erkennen.
Aber ich warne euch: Außer im Zoo sollte man lieber nicht zu nah an einen Panter herangehen! Panter gehören zu den gefährlichsten Raubtieren überhaupt. Sie bewegen sich flink und lautlos. Kämpft ein einzelner Mensch mit einem Panter, gewinnt fast immer Letzterer. Wegrennen nützt nichts, weil sie zu schnell sind, und sich auf einen Baum zu flüchten bringt auch nichts, weil sie prima klettern können. Am besten geht man ihnen ganz aus dem Weg, falls man nicht zufällig ein erfahrener Großwildjäger ist und ein Gewehr dabeihat.
Harkat und ich waren noch nie auf Panterjagd gegangen, und außer ein paar Steinmessern und einem langen Ast mit stumpfem Ende, der als Keule diente, hatten wir keinerlei Waffen. Trotzdem duckten wir uns jetzt neben einer Grube, die wir am Vortag ausgehoben hatten, ins Gebüsch, beobachteten das Reh, das wir als Köder an einen Pflock gebunden hatten, und warteten auf den Panter.
Wir lagen schon seit Stunden auf der Lauer, die primitiven Waffen griffbereit, als ich zwischen den Bäumen einen lang gestreckten, schwarzen Umriss erspähte. Hinter einem Baumstamm erschien eine Schnauze mit langen Schnurrhaaren und witterte prüfend – der Panter. Ich stupste Harkat an. Mit angehaltenem Atem und starr vor Angst beobachteten wir die große Raubkatze. Nach einer Weile machte sie wieder kehrt und trottete in den dichten Dschungel zurück. Wir berieten uns im Flüsterton. Ich vermutete, dass der Panter die Falle gewittert hatte und nicht mehr zurückkommen würde, Harkat war anderer Meinung. Er war überzeugt, dass sich der Panter, wenn wir weiter weg wären, beim nächsten Mal richtig heranwagen würde. Daher zogen wir uns zurück und machten erst Halt, als wir schon fast am Rand des Dickichts waren. Von hier aus konnten wir das Reh kaum noch erkennen.
Wieder vergingen ein paar Stunden. Wir sprachen nicht miteinander. Eben wollte ich das Schweigen brechen und sagen, dass wir nur unsere Zeit verplemperten, als ich ein großes Tier näher kommen hörte. Das Reh sprang panisch umher. Ein kehliges Knurren ertönte. Es kam von der anderen Seite der Grube. Ausgezeichnet – wenn der Panter das Reh von dort aus angriff, würde er vielleicht in unsere Falle stürzen und sich den Hals brechen. Das ersparte uns einen Kampf!
Zweige knackten, als sich der Panter an seine Beute anschlich. Dann hörten wir es krachen, als das schwere Tier durch die Abdeckung der Grube brach und auf den spitzen Pfählen landete, die wir in den Boden gerammt hatten.
Ein letztes Aufheulen, dann war alles still. Harkat stand langsam auf und spähte über das Gebüsch. Auch ich stand auf. Wir wechselten einen Blick. »Es hat geklappt«, sagte ich zögernd.
»Das hört sich ja an, als hättest du … nicht damit gerechnet «, erwiderte Harkat grinsend.
»Hab ich auch nicht«, bestätigte ich lachend und wollte das Versteck verlassen.
»Pass auf«, warnte mich Harkat. »Vielleicht lebt er noch.«
Er drängte sich vor, ging nach links und bedeutete mir, nach rechts zu gehen. Ich zückte mein Messer und entferntem mich in einem großen Bogen, dann näherten wir uns von beiden Seiten vorsichtig der Falle. Harkat hatte ein paar Schritte Vorsprung, deshalb blickte er als Erster in die Grube. Er machte ein verdutztes Gesicht und blieb stehen. Im nächsten Augenblick sah ich, warum. Auf den Pfählen hing ein Tier, und aus seinen vielen Wunden tropfte Blut. Aber es war kein Panter – sondern ein roter Pavian.
»Das verstehe ich nicht«, sagte ich kopfschüttelnd. »Wir haben doch einen Panter knurren gehört, keinen Affen.«
»Aber wie ist …« Plötzlich schnappte Harkat nach Luft. »Sieh dir den Affen an! Ein Raubtier hat ihm die Kehle zerfetzt! Der Panter muss …«
Weiter kam er nicht. Durch die Baumkrone über mir glitt ein Schatten. Ich fuhr herum und sah gerade noch etwas Großes, Schwarzes mit ausgefahrenen Krallen und aufgerissenem Maul auf mich zufliegen – dann war der Panter über mir und brüllte triumphierend.
Einer musste sterben an jenem Tag.
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(aus "Der See der Seelen" von Darren Shan)

Roman. Band 10: Durch ein magisches Portal gelangen Darren Shan und Harkat Mulls in eine fremde Welt, in der viele Gefahren lauern und Abenteuer auf sie warten. Die beiden Freunde müssen sich ihnen stellen, denn nur so haben sie die Chance, den legendären See der Seelen zu finden - und das Geheimnis von Harkats Herkunft zu lüften ...
Hinter dem Pseudonym Darren Shan verbirgt sich der irische Schriftsteller Darren O'Shaughnessy. Seine Romane über den Halbvampir Darren Shan sind zu internationalen Bestsellern geworden. Derzeit bereitet Warner Bros. die Verfilmung der dunklen Abenteuer vor. (Droemer Knaur)
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