Vesna Goldsworthy: "Heimweh nach Nirgendwo"
Eine Lebensgeschichte
Eine
junge, gerade einmal 41-jährige Frau, Mutter eines dreijährigen Sohnes,
erkrankt lebensgefährlich an Brustkrebs. Nach einer schwierigen Operation mit
sehr unsicheren Heilungschancen beschließt sie, hauptsächlich für ihren Sohn
Alexander, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Eine außergewöhnliche
Lebensgeschichte einer außergewöhnlichen Frau und Schriftstellerin.
Vesna Goldsworthy wird 1961 in Serbien geboren und wächst als klassisches Kind
des jugoslawischen Kommunismus auf. Einer Spielart der Diktatur, die bis in die
siebziger Jahre auch in linken SPD-Kreisen als lobenswerte Alternative zum
Betonkommunismus Moskauer oder Pekinger Prägung hochgelobt und durch Besuche
hochrangiger Funktionäre auch lange unterstützt wurde.
In ihren Erinnerungen, die sie bewusst nicht chronologisch angelegt hat,
verfolgt sie
ihre Wurzeln in der väterlichen und mütterlichen Linie. Sie
stellt Zusammenhänge her mit ihrem eigenen Leben, ihren Wünschen und Träumen.
Schon früh fängt sie an Gedichte zu schreiben und macht innerhalb der
kommunistischen Jugend literarisch Karriere. Anders als so viele andere im
Kommunismus aufgewachsene Schriftsteller denunziert sie aber ihre Vergangenheit
nicht, sondern stellt sich ihr. Auch den blutigen und archaischen Konflikt in
ihrem geliebten Jugoslawien, der schon vor ihrer Auswanderung nach England
absehbar ist, beschreibt sie aus der Distanz betont sachlich, und doch ist in
jeder Zeile der unendliche Schmerz darüber zu spüren, was sich Menschen da
gegenseitig antun. Menschen, mit denen sie aufgewachsen ist und mit denen sie
ihre Träume und Hoffnungen geteilt hat.
Vesna Goldsworthy kommt in ihrer Lebensgeschichte vollkommen ohne
Schuldzuweisungen aus. Es sind für sie nicht die Serben oder die
Bosnier, die den Konflikt zu verantworten haben. Sie beschreibt, was sie sieht
und spürt ein großes und tiefes "Heimweh nach Nirgendwo".
Nachdem sie 1986 auf einem Seminar in Sofia einen englischen Journalisten,
Simon, kennen lernt, wandert sie bald darauf nach England aus. Gerade als sie
nach etwa 15 Jahren beginnt dort wirklich heimisch zu werden, erkrankt sie an
Brustkrebs, der sie fast das Leben kostet. Als sie ihr Manuskript abschließt
(wohl 2004) atmet ihre Sprache ein wenig Hoffnung, doch sie rechnet damit, bald
zu sterben.
Vesna Goldsworthys Buch ist ein bewegendes Zeugnis aus dem Herzen Europas, ein
trauriges Epos über den Verlust einer Kultur, die für die Betroffenen eben
doch mehr war als ein liberal-kommunistischer Überwachungsstaat; es ist ein
Buch über ein Land, das auch Heimat war und ihr Wurzeln schenkte, die im neuen
Land nur mühsam wieder wachsen können.
Wie schön wäre es, wenn diese wunderbare Schriftstellerin weiterleben könnte
und uns noch weitere Bücher mit dieser großartigen Sprachmacht schenkte.
(Winfried Stanzick; 08/2005)
Vesna Goldsworthy: "Heimweh nach Nirgendwo"
(Originaltitel "Chernobyl Strawberries")
Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow.
Deuticke, 2005. 224 Seiten.
ISBN 3-552-06002-2.
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Leseprobe:
Der Name der Mutter
In den achtziger Jahren, als junge Braut, nannte ich mich Vesna Bjelogrlic-Goldsworthy.
Auf dem Papier wirkt der Name länger als seine neun Silben. Der sperrige
Doppellader war ein Kompromiss zwischen Patriotismus, dem reflexartigen
Feminismus einer Belgrader Prinzessin und jenem romantisch-unterwürfigen
Impuls, der Frauen wie mich - zwei Drittel
Simone de Beauvoir, ein Drittel
Tammy Wynette - dazu veranlasst, Gehorsam zu geloben, bis dass der Tod uns
scheidet. Den Namen zu buchstabieren, wurde allerdings bald sehr lästig. Meine
serbischen Landsleute, die nicht gewillt waren, Goldsworthy auch nur in Erwägung
zu ziehen, bevorzugten Goldsvorti, Golsforti, Golzuordi und sogar Golsvorti, in
Anlehnung an den Schriftsteller John Galsworthy, dessen hohes literarisches
Ansehen in Serbien dadurch dokumentiert wird, dass im Norden Belgrads eine Straße
nach ihm benannt ist. Selten machte ich mir die Mühe, dort irgend jemanden zu
korrigieren, wie ich auch in England niemanden je verbessert habe, der sein
Erstaunen über den serbischen Namen Vanessa zum Ausdruck bringt. Immer noch
besser als Vesta oder Vespa. Vanessa ist, namenskundlich betrachtet, meine
Tarnkappe.
Bjelogrlic, Bjelogerlitsch ausgesprochen, entpuppte sich für die Engländer
bald als Hindernislauf. Dabei handelt es sich um ein zünftiges slawisches
"Itsch",
wie Evelyn Waugh einst bemerkte, und wer Ivlin Vo heißt, kennt sich aus mit zünftigen
Namen. Bjelogrlic bedeutet "Sohn der weißen Kehle", was zugegebenermaßen
eher an einen Sioux-Häuptling denken lässt, auf Serbisch jedoch völlig
harmlos klingt, sogar einen Hauch distinguiert. An meinem Hochzeitstag im
November 1986 holte der Standesbeamte in Hammersmith jedesmal tief Luft, wenn er
sich dem Namen näherte, und brachte es tatsächlich fertig, ihn kein einziges
Mal zu bewältigen. Der arme Mann tat mir leid. Die Braut, der Bräutigam und
die beiden Trauzeugen (somit die gesamte Hochzeitsgesellschaft) schnappten
gemeinschaftlich nach Luft, wann immer er zum B. kam. Was für eine Strapaze!
Seitdem haben wenige beherzte Zeitgenossen das Experiment gewagt. Blog-litch war
das übliche Ergebnis. Nach einiger Zeit ließ ich den Namen fallen. Ich bewies
mir nichts mit den endlosen, ermüdenden Wiederholungen - B wie Beat, J wie
Jesus, E wie England, L wie Lust, O wie O Gott - und ihren Varianten. Ich
hatte zu viele Namen, um an einem so sehr zu hängen. Selbst Goldsworthy ist
mehr, als man seinen Mitmenschen normalerweise zumuten sollte. Gelegentlich
jedoch - heute, zum Beispiel - packt mich jäh das Bedürfnis, der ganzen
Welt beizubringen, wie man Bjelogrlic richtig ausspricht.
Der erste Bjelogrliç war tatsächlich - oder angeblich tatsächlich - der
Sohn einer "weißen Kehle". Das gehört zur matriarchalischen Geschichte
meiner Patriarchen. Im frühen neunzehnten Jahrhundert floh meine Urmutter mit
zwei kleinen Söhnen vor einer fast vergessenen montenegrinischen Blutfehde in
die osmanische Herzegowina und weigerte sich fortan, ihren Namen preiszugeben.
Sie ließ sich in Lipnik nieder, einem Bergdorf, das gerade mal einen Steinwurf
vom Land ihrer Vorväter entfernt war, aber jenseits der Stammesgrenze lag, die
sie von einem unverständlichen Streit trennte, der das Leben ihrer Söhne
bedrohte. Die Kleider der jungen montenegrinischen Witwe zeigten mehr Hals als
jene ihrer orthodoxen herzegowinischen Schwestern, deren Bekleidung sich kaum
von der Kopf-bis-Fuß-Bedeckung muslimischer Frauen unterschied. Die bevorzugte
Farbe war Schwarz: ideal für Trauer und Tarnung. Dies war keine Welt, in der
Schönheit nur Ärger brachte.
Lipnik lag im Hoheitsgebiet des Smail Aga Cengic, eines für seine Blutrünstigkeit
berüchtigten Feudalherrn, von dem ein kroatisches Versepos aus dem neunzehnten
Jahrhundert erzählt. Auch meine Vorfahren, inzwischen Paradeexemplare der
christlichen rajas, der Untertanen des glorreichen türkischen Reiches, sollten
darin bald eine Rolle spielen - mit ausgestreckten Händen "Brot, Herr,
Brot"
bettelnd, bevor sie sich dem heldenhaften Aufstand anschlossen, in dem Smail Aga
(englisch Smile Aga ausgesprochen) brutal ermordet wurde. Das war wohl nicht
mehr und sicher nicht weniger, als er verdient hatte.
Der Bericht von Smail Agas Enthauptung - zufällig durch die Hand der
Stammesbrüder meiner montenegrinischen Großmutter - war und blieb eine ihrer
liebsten Gutenachtgeschichten. Über die Jahre hatte Großmama, einer
christlich-orthodoxen Scheherezade gleich, zwei
Schelmenroman-Varianten
desselben Vorgangs ersonnen. Eine große Schlachtfeldszene, in der nach dem kräftigen
Schwung eines montenegrinischen Schwerts ein Kopf mit Turban wie ein vom Schläger
getroffener Kricketball durch die Luft fliegt. Und eine insgesamt saftigere,
aber unwahrscheinlichere Version, in der Smail von tanzenden Montenegrinerinnen
und der Aussicht auf Musik und Leckereien von den Truppen weggelockt wird. Das
Ende ist dasselbe.
Der Kopf des "Türken" wurde dem Fürstbischof am montenegrinischen Hof bei
Cetinje als Geschenk dargebracht und derart auf einem Gestell befestigt, dass er
sich jedesmal, wenn der Herrscher die Tür öffnete, vor ihm verneigte. Wenn
seine Untergebenen auch nur entfernte Ähnlichkeit mit meiner Großmutter
hatten, dann dürfte der Fürst, ein Dichter und Mönch, kaum gewagt haben, sich
über dieses Geschenk zu beschweren.
"Mama", beschwor meine Mutter sie, "das ist doch keine Geschichte für
Kinder. Sie werden die ganze Nacht nicht einschlafen können." Ihrem Bemühen,
ihre Töchter vor diesen ausgesprochen unbürgerlichen Versionen der
Balkangeschichte zu bewahren, war niemals ungetrübter Erfolg beschieden.
Viele Jahre später regte sich Mutter erneut entsetzlich auf, als Großmama
meinen englischen Gatten darüber aufklärte, wie man Menschenköpfe
konserviert. Ihre Diskussion, bei der ich als Dolmetscherin fungierte, kreiste
um die Vorteile des Pökelns gegenüber dem Salzen des abgetrennten Hauptes,
eine erfrischende Variante von "Omas Lieblingsrezept". Selbstredend hatte Großmama
keine Erfahrung mit der Kopfjagd, ahnte aber, was mein Mann, der vor kurzem sein
Studium der Geschichte des Balkans abgeschlossen hatte, hören wollte, außerdem
fand sie, dass eine klitzekleine Drohung ihren exotischen Schwiegerenkel zur
Achtsamkeit anhalten würde.
Sie verbreitete ihre Ansichten mit mädchenhaftem Blinzeln und einem
ausholenden, köpfenden Schwung ihrer runzligen Hand, während sie sich damit brüstete,
dass ihr wilder Stamm als ultimative Auszeichnung von seinen türkischen Feinden
als "Hurensöhne" bezeichnet worden sei. Für eine Frau, die mit kaum zehn
Jahren in eine feine, elegante Stadt des einstigen österreichisch-ungarischen
Reiches übersiedelt war, schien mir ihre Verbindung zum osmanischen Balkan des
neunzehnten Jahrhunderts doch erstaunlich lebendig zu sein, so als wäre nichts
von dem, was sich im gesamten zwanzigsten Jahrhundert zugetragen hat, so recht
mit der triumphalen Bezwingung des Sultans vergleichbar, bei der ihr eigener Großvater
eine kleine Rolle gespielt hatte.