Tan Twan Eng: "Der Garten der Abendnebel"


Teoh Yun Ling war jahrelang Richterin in Malaysia und hat in dieser Zeit viele Menschen gesehen und auch einen nicht unbeträchtlichen Teil zu längeren Gefängnisstrafen, oder sogar zum Tod, verurteilt. Nun aber merkt sie, dass ihr Erinnerungsvermögen nachlässt, und nach einigen Untersuchungen im Krankenhaus beschließt sie, dass sie die ihrem Geist verbleibende Zeit nutzen möchte, um die Dinge in ihrer Vergangenheit, die ihr wichtig sind, festzuhalten.

Zu diesem Zweck zieht sie in den "Garten der Abendnebel", eine Gartenkunstschöpfung des Japaners Nakamura Aritomo, der einst der Kaiserliche Gärtner in Tokio gewesen sein soll, bevor er sich wegen eines Auftrags mit der Kaiserlichen Familie überworfen hat. In dieser Gartenkunstschöpfung hat Yun Ling lange gelebt und sie außerdem unter Aritomos Anleitung mit aufgebaut.

Dies hat sie aber nicht so sehr aus eigenem Interesse am Gartenbau getan, sondern, um ihre in einem japanischen Lager gestorbene Schwester zu ehren, die ihre Zeit als "Komfortfrau" in erster Linie durch die Erinnerung an die schönen japanischen Gärten und die Hoffnung, dereinst selbst einen anlegen zu können, überstanden hat.
Als Aritomo ihr Ansinnen, einen solchen Garten für sie zu planen und aufzubauen, ablehnt - wie er dies aber in den letzten Jahren schon bei vielen getan hat - einigen sich die beiden schließlich darauf, dass er Yun Ling anlernt, damit sie am Ende ihren eigenen Garten planen und anlegen kann.

Und so wird die ehemalige Insassin eines japanischen Arbeitslagers Befehlsempfängerin eines Mannes aus jenem Volk, das einen Teil ihrer Familie vernichtet und ihr unglaubliches Leid zu gefügt hat; als eine Chinesin, die in Malaysia während des "Emergency" genauso fremd und bedroht ist wie ihr japanischer Lehrmeister, dessen Volksgenossen etliche Malayen auf dem Gewissen hatten, und von denen Yun Ling damals als Staatsanwältin etliche an den Galgen geschickt hat.

Doch Erinnerungen und Schuldfragen sind überaus komplex, und in einer Ex-Pat-Gemeinde mit Mitgliedern aus allen Ländern der Welt, die jeweils ihre eigene brutale Geschichte mit sich bringen, kommen der Japaner und die Chinesin zu einer ganz ungewöhnlichen und unerwarteten Beziehung, die aber am Ende viele Fragen unbeantwortet lässt.

Was ist Schuld? Was sind Erinnerungen? Und wieviel können wir über andere Menschen wirklich wissen?
Als Yun Ling im hohen Alter und mit der Demenz vor Augen ihre eigene und Aritomos erkundigt, rührt sie auch an den Vergangenheiten vieler anderer Menschen und lässt diese in  ihren Aufzeichnungen ausgiebig zu Wort kommen, was gerade auf die letzten Tage und Wochen des Zweiten Weltkriegs aus japanischer Sicht noch einmal ganz andere Lichter wirft, je nachdem, welche Perspektive gerade eingenommen wird.

All dies findet sich in diesem soliden und mit Lesebändchen versehenen gebundenen Buch in einer ausnehmend dichterischen Sprache wiedergegeben, wobei diese auch sehr grausige Ereignisse und Handlungen noch anschaulicher macht - obwohl die Sprache (auch in der Übersetzung) selbst eine schöne Satzblüte nach der anderen bietet.
Insofern hat der Roman sehr viel mit dem Anlegen eines japanischen Gartens, dem Anfertigen eines Holzschnitts oder dem Stechen einer großflächigen Tätowierung gemein; alles Kunstfertigkeiten, denen in diesem wunderschönen und nachdenklich zurücklassenden Buch große Bedeutung zukommt.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 02/2015)


Tan Twan Eng: "Der Garten der Abendnebel"
(Originaltitel "The Garden of Evening Mists")
Übersetzt von Michaela Grabinger.
Droemer, 2015. 462 Seiten.
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Tan Twan Eng, geboren in Penang, studierte Jura an der Universität von London und hat lange in einer der angesehensten Kanzleien Kuala Lumpurs gearbeitet. Für "Der Garten der Abendnebel" erhielt er den "Man Asian Literary Prize" 2012 und den "Walter Scott Prize for Historical Fiction" 2013. Tan Twan Eng lebt in Malaysia und in Südafrika.