Leseprobe:
Am nächsten Tag fand die offizielle Beisetzung
statt. Wir Trauernden trugen alle weiße Kleider mit weißen Stirnbändern und
hübschen weißen Schleifen. Begleitet von Musik und Gesängen der buddhistischen
Priester folgten wir zu Fuß dem Sarg bis zum buddhistischen Tempel. Auf dem Weg
warfen Diener Papiergeld in die Luft, um die Geister zu besänftigen. Da Vater,
der sich noch immer verstecken musste, fehlte, übernahm mein Bruder Gregory den
Platz des ranghöchsten Trauernden. Er ging unmittelbar hinter dem Sarg, der auf
einem Wagen stand und von vier Männern gezogen wurde. Alle paar Schritte fiel er
auf die Knie und beklagte laut jammernd den Verlust seiner Großmutter. Dabei
schlug er mehrmals den Kopf auf den Boden, um seine Ehrerbietung zu zeigen. Wir
folgten Gregory schweigend und bewunderten seinen Auftritt.
Schließlich erreichten wir den Tempel. Der Sarg wurde auf einen Altar gestellt
und mit weißen Blumengestecken, weiteren Seidenbändern und Großmutters Lieblingsspeisen
geschmückt; dazu gehörten etwa sechzehn
Gemüsegerichte, Obst und Süßigkeiten.
Der Duft der Räucherstäbchen hing schwer in der Luft, Mönche sangen
Gebete.
Wir mussten Kotau machen, die chinesische Verbeugung, bei der man niederkniet
und wiederholt mit der Stirn den Boden berührt. Die Mönche brachten Papiernachbildungen
verschiedener Gegenstände, von denen man glaubte, dass Großmutter sie in der
anderen Welt benötigte: massenhaft
Gold- und Silberbarren, ein sehr kompliziertes
Auto aus Pappkarton, das aussah wie Vaters Buick, eine Menge Möbel und Gerätschaften,
sogar ein Mah-Jongg-Spiel. Diese Nachbildungen wurden in einer großen Urne verbrannt;
das gefiel uns Kindern, dabei vergaßen wir in der Aufregung völlig den Anlass
dieses Schauspiels und stritten uns um das Papierauto, das sehr fantasievoll
ausgeführt und mit glänzender Aluminiumfolie überzogen war. Viele Jahre später
erzählte mir Tante Baba, dass alles - auch die Spruchbänder, die Mönche, Blumen,
Musiker und Bilder - von einem Fachgeschäft gemietet worden war, das solche
"Ereignisse" mit allem, was traditionell dazugehörte, organisierte.
Ich weiß noch, dass ich zuschaute,
wie alle Papierbilder lodernd verbrannten und der Rauch in Spiralen aufstieg.
Ich stellte mir vor, dass er irgendwo im Himmel wieder zusammenfließen und die
Gegenstände allein zu Großmutters Gebrauch und Freude wieder zusammensetzen
würde.
Unsere Verwandten und Freunde kehrten mit uns nach Hause zurück, wo ein opulentes
Essen mit zahlreichen Gängen serviert wurde. Danach schickte man uns Kinder
zum Spielen in den Garten. Lydia baute eine behelfsmäßige Urne, wir bastelten
Herde, Betten und Tische aus Papier und veranstalteten unsere eigene Beerdigung
für Großmutter. Schon bald brannte die Urne, die aus einem hölzernen
Blumentopf
bestand. Ye Ye kam wütend heraus, drehte den Wasserhahn auf und spritzte uns
und unsere Bestattungszeremonie nass. Wir wurden ins Bett geschickt, doch der
Vorfall half uns, die Trauer und Bedrücktheit der letzten beiden Tage zu vergessen,
und wir hatten das Gefühl, dass Großmutter in der anderen Welt glücklich werden
würde.
(Aus "Fallende Blätter" von Adeline Yen Mah )