Stefan Weidner: "Fes"

Sieben Umkreisungen


Gratwanderung zwischen islamisch geprägter Tradition und Moderne westlichen Stils

Fes, die frühere Hauptstadt Marokkos, Zentrum islamisch-arabischer Kultur und Brücke zum einst von ihr beherrschten und befruchteten Andalusien: Eine Gruppe deutscher Schriftsteller, die zum Austausch mit einheimischen Dichtern nach Marokko gekommen ist, besichtigt die alte Königsstadt einen Tag lang, geführt von Nassib, einem dort geborenen Dichter, der den Gästen mehr als nur einen oberflächlichen Blick auf die Sehenswürdigkeiten von Fes bieten möchte. Nassib ist gefangen im Zwiespalt zwischen dem Bestreben, Gemeinsamkeiten seiner Kultur mit jener der Gäste zu suchen und zu vermitteln, und dem Bedürfnis zur Abgrenzung. Vielleicht meint er es zu gut, jedenfalls kommt es zu einer hässlichen Auseinandersetzung mit einem der deutschen Teilnehmer.
R., ein weiteres Mitglied der Gruppe, ist mit diesem Ausgang nicht zufrieden. Nassibs Ausführungen dienen ihm als Grundlage für einen Besuch in der anderen marokkanischen Königsstadt, Marrakesch. Seine Eindrücke des alten und neuen Marrakesch ermöglichen es ihm, den Tag in Fes mit anderen Augen zu sehen und Nassibs schwierige Position zwischen islamisch geprägter Tradition und moderner Ausrichtung nach Europa zu erkennen, hat er doch diesen Widerspruch überall in Marokko gefunden, auch in Rabat, auch in Nassibs jetzigem, aus touristischer Sicht bedeutungslosem Wohnort Mohammedia. Wie ein gläubiger Muslim sieben Mal die Kaaba umrundet, so umkreist R. in sieben Kapiteln, von denen drei aus sorgsam ausgewählten Fotos bestehen, den kulturellen Konflikt, den Fes repräsentiert. Sollten der Islam und die europäische Kultur tatsächlich These und Antithese sein, so gelingt es R. allmählich, sich durch seine weiträumigen Umkreisungen der Synthese behutsam anzunähern.

Behutsamkeit ist überhaupt ein Merkmal dieses Romans. Während R., der zweifellos den in den Islamwissenschaften ausgebildeten Autor repräsentiert, über Nassib und Nietzsche nachsinnt und sich in verschiedene islamische Schriften von erlesener, rätselhafter Schönheit versenkt, ziehen die modernen, ihre sexuellen Reize ausspielenden Marokkanerinnen an ihm vorüber, beobachtet er auch die westliche Hast, die hier Eingang gefunden hat: schicke Wohnhäuser und Einkaufszentren entstehen und vergehen fast in einem Atemzug. Der Widerspruch ist allgegenwärtig und lässt die Reste der alten Kultur fragil erscheinen, noch mehr aber die Menschen, die ihren Platz im modernen Marokko suchen. Aufmerksam und aufgeschlossen, vorsichtig vorantastend und mit großer Beobachtungsgabe begegnet ihnen der Autor in seinen Porträts, sich nicht vor der Konfrontation scheuend, aber vor allem auf der Suche nach einer Begegnung durch Entgegenkommen. Wenn der Autor Nassibs deutschem Gegenspieler übliche Klischees in den Mund legt, so mag das zunächst etwas platt erscheinen, doch lassen sich von diesen Klischees ausgehend bemerkenswerte Gedankengänge konstruieren und allmählich, mit zunehmender Enge der Umkreisungen, sogar Brücken schlagen.

Der Islam sorgt derzeit für negative Schlagzeilen. Stefan Weidner zeigt, dass es "den Islam" in diesem Sinne nicht gibt, dass schon in einem einzigen Land wie Marokko viele Strömungen das religiöse Leben bestimmen. Marokko, wohl näher an Europa als jedes andere arabische Land und entsprechend intensiv dorthin ausgerichtet, kann dem Europäer manche Entdeckung bieten. Die unterschiedlichen Gesichter ein und derselben Stadt, wie R. sie in Fes und Marrakesch beobachtet hat, führen zu einem farbigen, spannenden Miteinander, das die Fotos erahnen lassen.
Ein anrührender Roman über ein stark emotional besetztes Thema, der durch stilistische Brillanz und die bereits erwähnte Beobachtungsgabe ebenso besticht wie durch einen wissenschaftlich fundierten Hintergrund.

(Regina Károlyi; 08/2006)


Stefan Weidner: "Fes"
Ammann Verlag, 2006. 205 Seiten.
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Stefan Weidner, 1967 geboren, studierte Islamwissenschaften, Germanistik und Philosophie in Göttingen, Damaskus, Berkeley und Bonn. Er arbeitet als Autor, Übersetzer, Literaturkritiker und seit 2001 als Chefredakteur der Zeitschrift "Fikrun wa Fann/Art & Thought", die vom Goethe-Institut für den Dialog mit der islamischen Welt herausgegeben wird. Er hat zahlreiche Lyriker aus dem Arabischen übersetzt. 2006 erhielt er den "Clemens Brentano Preis" der Stadt Heidelberg.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Mohammedanische Versuchungen"

Als Siebzehnjähriger von den Mysterien des Islams angelockt, bereit, sich während einer abenteuerlichen Reise durch Nordafrika vom Koran begeistern zu lassen und Muslim zu werden, stößt der Erzähler rasch an die Grenzen seines Einfühlungsvermögens. Schon die Respektsbekundungen durch die erforderlichen Waschungen vor Lektürebeginn schüren seinen Widerstand. Will das autoritäre Regelwerk des Korans die Erkundung durch einen Nichtgläubigen überhaupt zulassen? "Mohammedanische Versuchungen" ist eine Auseinandersetzung mit dem Islam, die sich über weltanschauliche Tabus hinwegsetzt. Changierend zwischen Erzählung und Essay, schärft sie den Blick dafür, dass jede ernsthafte Begegnung mit dem "morgenländischen" Anderen auch den eigenen Standpunkt zutiefst in Frage stellt. (Ammann)
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