Toyomi Iwawaki-Riebel: "Nietzsches Philosophie des Wanderers"

Interkulturelles Verstehen mit der Interpretation des Leibes

"Wer wirklich einmal mit einem asiatischen und überasiatischen Auge in die weltverneinendste aller möglichen Denkweisen hinein und hinunter geblickt hat - jenseits von Gut und Böse, und nicht mehr, wie Buddha und Schopenhauer, im Bann und Wahne der Moral -, der hat vielleicht eben damit, ohne dass er es eigentlich wollte, sich die Augen für das umgekehrte Ideal aufgemacht: für das Ideal des übermüthigsten, lebendigsten und weltbejahendsten Menschen."

(Friedrich Nietzsche)


Nietzsche hat der Nachwelt über sein philosophisches Vermächtnis eine stattliche Anzahl wirkmächtiger Metaphern hinterlassen, deren einige, so meint Toyomi Iwawaki-Riebel wohl zu Recht, wie etwa der "Übermensch" oder die "Herren-Rasse" und die "Blonde Bestie" (laut Felix Dahn ursprünglich eine römische Verunglimpfung des Germanen), beispielhaft für einen sorglosen Umgang mit potenziell irreführenden Begrifflichkeiten anzuführen sind. Im Vergleich dazu völlig unbedenklich nimmt sich Nietzsches Figur des "Wanderers" aus, welcher für ein leibhaftes Begreifen von Welt steht. Iwawaki-Riebel skizziert die Denkfigur des "Wanderers" als Heimatlosen ohne Ziel. Seine geistige Heimat ist die Einsamkeit, sein Pathos die Distanz, abgelöst von aller kultureller Bindung. Der Herkunft nach stammt der "Wanderer" aus Europa und ist Europäer, doch wendet er sich gegen die traditionellen europäischen Ideen der Wahrheit (der extreme Fall heißt "Gott ist die Wahrheit"), welche eine metaphysikfreie Welt notwendig verneinen.

Das metaphysische Streben seit der Antike beschreibt laut Nietzsche ein Flüchten in gespenstische Jenseitigkeiten, was eine interpretative Entwertung des diesseitigen Lebenssinns zur Konsequenz hat. Die Trennung der Leib-Seele-Einheit des Menschen im neuzeitlichen Denken, jene Entzweiung des Menschen mit sich selbst, mündet in den kulturellen Zustand eines krankmachenden Nihilismus, also in eine radikale Ablehnung von Wert, Sinn und Wünschbarkeit. Nietzsche entwirft nun die Handlungsfigur des "Wanderers" als alternative Lebensweise zur abendländischen Eigenart der Leibvergessenheit, welche als Entfremdung von dem eigenen Selbst ihren Ursprung in orientalischem Lebensverdruss hat. Also in einem gewissen Sinne eine Infizierung der ursprünglich gesunden heidnischen Gesittung des Europäers mit einem morgenländischen und quasi asketischen, weil die Lebensfreude verneinenden Ideal darstellt. An die Stelle eines dem "guten Europäer" wesensfremden Dogmatisierens von Wahrheiten und daraus resultierenden Wertschätzungen (im Sinne von Entwertung des Lebens) tritt mit dem "Wanderer" ein leiblicher Perspektivismus überkultureller Wesensart. Und er muss notwendig überkulturell sein, denn weder der europäische noch der asiatische Nihilismus darf ihm Heimat sein. Der Leib - man sollte ihn vorzugsweise weder naturalistisch noch biologistisch, sondern viel eher als Bescheidenheit des Bewusstseins und Rückbesinnung auf die Möglichkeit des Lebens denken - also dieser Leib bewandert die Erde in der Manier eines nie endenden Perspektivenwechsels. Seine Erkenntnishaltung vermittelt sich nicht über einen intrakulturellen, sondern über einen interkulturellen Dialog mit dem Dasein. Die Konzeption des "Wanderers" löst sich schlussendlich aus jeder kulturellen Befangenheit und konkretisiert sich u.A. in Nietzsches Polemiken gegen Kleinstaaterei und Schollenkleberei, was immer Vermassung unter repressiven Lebensverhältnissen, also "Verarmung des Lebens" bedeutet. Der Staat - soweit er nicht auf Glaube und Liebe, sondern auf Rechtsverhältnissen begründet ist - knechtet jeden aufwärts strebenden Lebenssinn. Und so negiert Nietzsche das Modell eines nach Zweckmäßigkeitserwägungen eingerichteten Staats und dessen demokratisch verbrämte Herrschaftsordnung als Antithese zu seinem Konzept aristokratischer Einsamkeit. Nietzsche fordert nicht nur die Überwindung des Menschen, sondern ebenso die Überwindung der Nationen. Die europäischen Völker mögen sich zu einer Mischrasse vermengen. Der Wanderer ist also nicht zuletzt eine kosmopolitische Tendenz, Ausdruck von "Großer Politik" im Zeichen "europäischer Politik". Ziel ist die Okzidentalisierung des Europäers (gegenüber einer Orientalisierung durch das Christentum) als Fortsetzung der "barbarisch" vorgestellten griechischen Lebensart der Vorsokratiker, ohne solcherart jedoch den Europäer in die Sackgasse einer europäischen Selbstgenügsamkeit geleiten zu wollen. Nietzsche nennt als Beispiele für den Europäer der Zukunft Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heine, Schopenhauer und Wagner.

Spätestens an dieser Stelle beginnt für Toyomi Iwawaki-Riebel der interkulturelle Diskurs zu greifen, welcher in seiner äußersten Konsequenz auf ein schlechthin überkulturelles Verstehen globaler Dimension abzielt. Vom Aspekt der Leiblichkeit her kommend symbolisiert der "Wanderer" eine Abwendung vom europäischen (oder eurozentrischen) Sonderweg metaphysischer Rationalität, wie er in der griechischen Antike bei Sokrates und Platon seinen Ausgang nimmt. Seine Wanderschaft findet sich nicht zuletzt in den Gefilden asiatischen Erlebens von Wirklichkeit wieder.

Im Zentrum von Iwawaki-Riebels Betrachtungen der Kulturphilosophie Nietzsches steht in diesem Zusammenhang dessen Buddhismus-Verständnis in Bezug auf die Leiblichkeit. Dabei tut sich eine Problemzone auf, denn Nietzsche bezeichnet den für das christliche Abendland diagnostizierten Nihilismus als einen "europäischen Buddhismus". Hat demnach also Nietzsche, von der leiblichen Perspektive her verstanden, den Buddhismus als Nihilismus verkannt und als lebensfeindlich abgelehnt?

Iwawaki-Riebel untersucht die erwähnte Problematik und stellt fest, dass sich Nietzsche - der bekanntlich nicht besonders bemüht im Recherchieren von Fakten war - bei seiner Buddhismuskenntnis mit dem früheren indischen Buddhismus, d.h. mit dem frühen Hinayana- oder Theravada-Buddhismus begnügte, hingegen der spätere - weitaus facettenreichere - Mahayana-Buddhismus (mit seiner krönenden Verzweigung zum Zen-Buddhismus) von Nietzsche unbeachtet blieb. Der Theravada-Buddhismus enthalte nun, so Iwawaki-Riebel, zwar tatsächlich als nihilistisch interpretierbare Aspekte, doch könne man davon unmöglich auf eine insgesamt lebensfeindliche buddhistische Grundhaltung schließen.

Nietzsches Sachkenntnis des Buddhismus scheint also einseitig und dürftig, gespeist von Schopenhauers pessimistischer Mitleidsethik, die dem Buddhismus lediglich sehr ähnlich, jedoch nicht mit ihm identisch ist (Schopenhauer selbst verneinte den Verdacht, unter buddhistischem Einfluss gestanden zu sein, doch leugnete er nicht die Geistesverwandtschaft seiner Weltdeutungen mit dem fernöstlichen Selbsterlösungskult), aber auch orientiert an der Buddhismus-Auslegung Carl Schaarschmidts, dessen Student Nietzsche im Sommersemester 1865 an der Universität Bonn war und welcher den Buddhismus als "pantheistischen Nihilismus" charakterisierte. Nietzsche orientierte sich wohl insbesondere an Schopenhauers pessimistischer und leider gar wirkmächtiger Deutung des Nirvana als bloße Weltverneinung, doch dürfte er, trotz seines partiellen Unwissens und im Gegensatz dazu, das Nirvana zugleich in seinem lebens- und leiblichkeitsbejahenden Momenten erahnt haben.

Der Mahayana-Buddhismus versteht Samsara und Nirvana - anders als in Schopenhauers dualistischer Interpretation - nicht als Gegensatzpaar, sondern als unterschiedliche Wahrnehmung von Wirklichkeit; für den nicht Erleuchteten ist die Welt Samsara, für den Erleuchteten Nirvana. Nietzsche kannte diese feine Differenzierung zum früheren Buddhismus nicht, wie ihm überhaupt der Mahayana-Buddhismus kein Begriff war, doch nähert er sich nach Meinung des Forschers Ryogi Okochi über seinen Gedanken des "amor fati" ("Liebe zum Schicksal") ganz von selbst der mahayana-buddhistischen Lebensbejahung an. Kogaku Arifuku bezieht als Philosoph der Kyoto-Schule den gleichen Standpunkt, wenn er Nietzsches Konzept des "Übermenschen" in Bezug zu Buddha (im Sinne des "Erwachten") setzt. Iwawaki-Riebel findet die angedeutete Neigung der Kyoto-Schule, gewagte Vergleiche zwischen fremden Kulturen zu ziehen, fragwürdig und zitiert dazu Günter Wohlfart: "Die vergleichende Philosophie ist kein Schmelztiegel, in dem fremde Horizonte verschmolzen bzw. eingeschmolzen werden sollen. Vielmehr geht es darum, das Fremde vor erdrückenden Umarmungen und Vergewaltigungen durch das Eigene zu schützen bzw. Fragen vor schnellen Antworten in Schutz zu nehmen."

Wie schon ausgeführt: Nietzsches Wissen um den Buddhismus war gemäß seinem bloßen Kenntnisstand sicherlich mangelhaft - jetzt einmal abgesehen von seinem vertieften intuitiven Verstehen der Sache, welches ihn - so bekundete es der Nietzsche-Kenner Univ. Prof. Johann Figl von der katholisch theologischen Fakultät der Universität Wien bei Gelegenheit seiner religionswissenschaftlichen Vorlesungen - als durchaus profunden Interpreten des Buddhismus auszeichnet. Für Iwawaki-Riebel scheint jedoch auch primär nicht Nietzsches Wissen oder auch Unwissen wesentlich, sondern der buddhistische Aspekt an Nietzsches Denken diskussionswürdig zu sein, welcher eine interkulturelle Perspektive manifestiert. Außerdem, Nietzsche ist definitiv nicht Religionswissenschafter sondern Kulturphilosoph. Auf den Buddhismus blickt Nietzsche im Interesse des Gottlosen, schreibt Iwawaki-Riebel, im Bezugsrahmen eines Titanenkampfes gegen das idealistische christliche Denken und Leben, dem der Nihilismus gefolgt ist.

Es liegt auf der Hand. Toyomi Iwawaki-Riebel geht es primär um Nietzsches Bezug zum Buddhismus bzw. um buddhistische Elemente in seiner Philosophie. Nach einer ebenso umfassenden wie gediegenen Einführung zur Charakteristik der Figur des "Wanderers" tritt diese mit Fortlauf des Buchtextes zusehends zu Gunsten der Buddhismusdeutungen in den Hintergrund, um zeitweilig völlig aus dem Blickfeld zu verschwinden. Der unbedarfte Leser mag sich sodann fragen, ob das Buch nicht besser als "Nietzsches Philosophie im Lichte des Buddhismus" betitelt gewesen wäre, doch scheint es angemessen, den "Wanderer" zur Leitfigur der Abhandlung zu erwählen, denn die intensive Hinwendung des Philosophen zur Welt asiatischer Kulturen und - wenn auch idealtypisch aufgefassten - Lebenspraxen wird eben nur aus der kulturellen Unbehaustheit des zwischen und jenseits der Kulturen wandelnden "Wanderers" in dieser Form denkbar. Dass dem Buddhismus dabei eine besondere Schwerpunktsetzung zukommt, ist nicht in der Neigung der Buchautorin, sondern in Nietzsches Entscheidung zur asiatisierenden Terminologie begründet, immerhin sprach Nietzsche von der Notwendigkeit eines "europäischen Buddhismus" und griff - bei aller entschiedenen Ablehnung des Buddhismus als décadence-Religion - auch eine Menge sympathischer Bezugspunkte auf. So sei die Lehre Buddhas im Unterschied zu den unduldsamen monotheistischen Religionen (Christentum, Islam, Judentum) ressentimentfrei (Buddha fordert auch nicht den Kampf gegen Andersdenkende) und hätte gleich einmal - ein Aspekt spiritueller Hygiene - gottlos begonnen. Eine erfreuliche Gemeinsamkeit mit Buddha sieht Nietzsche auch in der Verwerfung des grammatikalischen Vorurteils vom Seelen-Aberglauben, der als Subjekt- und Ich-Aberglaube dem einfacheren Gemüt die Illusion eines Täter-Ich vorgaukelt, wo doch in Wirklichkeit nur Wille sein kann. (Dem Buddhismus geht es in diesem Kontext jedoch tatsächlich mehr um die Überwindung der Wahnidee eines Dualismus von Individualseele und Weltseele.) Weiters wirkt verbindend die Idee der Ehelosigkeit, und das nicht wie bei den "Leibverächtern" aus Sinnenfeindlichkeit, sondern als Weg zur optimalen Entfaltung freien Geistes. Und dass der Buddhismus zwar so wie das Christentum einer Mitleidspraxis frönt, dabei jedoch der zelebrierten Anständigkeit und der Verbrämung von Leid als Sünde konsequent entsagt, zeichnet ihn nach Meinung Nietzsches jedenfalls noch vor dem Christentum aus. "Der Buddhismus", so betont Nietzsche, "ist hundert Mal kälter, wahrhafter, objektiver. Er hat nicht mehr nöthig, sich sein Leiden, seine Schmerzfähigkeit anständig zu machen durch die Interpretation der Sünde, er sagt bloß, was er denkt 'ich leide'." Der Buddhismus steht also für eine wesentlich vornehmere Haltung als die Ressentiment-Moral des paulinischen Christentums. Wozu Toyomi Iwawaki-Riebel mit Recht anmerkt, dass Nietzsches Ausführungen keinen Anspruch auf religionswissenschaftliche Gültigkeit beanspruchen können. Was aber offenbar auch nicht seine Absicht gewesen sei. Vielmehr diene der Vergleich mit dem indischen Gelehrten Siddhartha Gautama, in erster Linie dem einen großen Thema seiner Philosophie: die Kritik des christlichen Glaubens, welcher ist 'Dekadenz im Prinzip'.

Resümierend ist zu sagen, dass, obwohl Toyomi Iwawaki-Riebel partiell kritisch und zuweilen sogar ausgesprochen kritisch zum deutschen Philosophen des "Willen zur Macht" positioniert ist, sie doch ein relativ freundliches, weil weltoffenes und postmodernes Bild von Nietzsche zeichnet, dessen perspektivistische Kulturphilosophie europäischer ebenso wie asiatischer Provenienz auf einen sowohl übereuropäischen wie auch überasiatischen Begriff von Lebensethik hinausläuft. Und ein wenig gerät Toyomi Iwawaki-Riebel dabei in Verdacht, sich in die lange Reihe von Nietzsche-Enthusiasten einzugliedern, die in Nietzsche hinein interpretieren, was nicht Nietzsche ist, zumal das leibhafte interkulturelle Verstehen in seiner konkreten Verkörperung des "Wanderers" unscharf und fraglich, wenn nicht sogar substanzlos bleibt. Johannes Hirschberger rechnete in seiner "Geschichte der Philosophie" in diesem Sinne mit Nietzsche ab, als er schrieb: "Das aber muss man sagen, dass seine Philosophie reine Negativität ist und dass er den Nihilismus nicht überwunden, sondern vergrößert hat. Er hat die Werte umzuwerten versprochen, aber er hat nur das Bestehende abgewertet, ohne etwas Positives dafür bieten zu können, geschweige denn etwas Besseres."
Ist nun denn Nietzsches "Philosophie des Wanderers" mit ihrem Buddhismus-Bezug tatsächlich interkulturelles Verstehen mit der Interpretation des Leibes oder nicht doch nur die Ausweitung einer destruktiven Gemütsgestimmtheit zu globaler Wirksamkeit? Nietzsche verwirft christliche Sozialtugenden wie Demut und Barmherzigkeit und verspottet den Sozialismus als Sammelsurium pöbelhafter Instinkte, zugleich preist er den Buddhismus ob einer - von Nietzsche so gesehenen - egoistischen Tendenz, die es sich eingesteht, dass man mit den Anderen nicht so recht kann und ein einsames Wanderleben der Geselligkeit vorzuziehen ist. Was einer Sozialverweigerung das Wort redet, die in Anbetracht von Nietzsches Biografie eines eher missglückten und deswegen unglücklichen Lebens eigentlich wie das Wort eines recht Vergrämten klingt. So könnte man zu seiner Person spekulieren, deren Schicksal bekanntlich prägend für seine Philosophie war. Einerseits also bejahend, andererseits verwirft Nietzsche den Buddhismus als Verneinung lebensbejahender Herren-Instinkte. Wirkliche Begeisterung und inhaltliche Übereinstimmung bekundet Nietzsche - was seinen Asienbezug betrifft - einzig gegenüber dem Brahmanismus bzw. dessen Weiterentwicklung zum Hinduismus, der - freilich so nur in der tendenziösen Auslegung Nietzsches - seiner romantisierenden Vorstellung einer vornehmen starken kriegerischen Herren-Moral weitgehend entspricht. Könnte es demnach also nicht so sein, dass Hirschberger mit seiner zuvor schon ausgeführten Kritik richtig liegt und sich vermittels Nietzsches Herren-Ethik in der Tat lediglich kleinbürgerliche Asozialität, Herrschsucht und Lebensneid wortmagisch und deswegen verführerisch als Philosophie hohen Rangs inszeniert?

Nun, Toyomi Iwawaki-Riebel gesteht Nietzsche eine grundsätzliche Seriosität zu, nimmt sein Denken ernst, erachtet es als würdig, eingehend bedacht zu werden, doch stellt sie ungeachtet der grundsätzlichen Anerkennung zweifelnde Fragen nach dem von Nietzsche verherrlichten Kult der Grausamkeit, der Irrationalität als Tugend, und wieso denn das Mitleid dem Vornehmen eine verächtliche und ihm unwürdige Haltung sein solle. Nietzsches leiblich-ästhetische Perspektive ist die Weltsicht eines Künstler-Gewissens, so Toyomi Iwawaki-Riebel an einer Stelle ihres Buches, und wohl auch nur in diesem Sinne akzeptabel, weil wie könnte man es anders wagen, Fakten geschichtlicher Herrschaft ihrer Ästhetisierung zuzuführen und damit verbundenes Leiden dann gar noch als Erhöhung des Menschen auszulegen? Immerhin behauptet Nietzsche dezidiert: "Das tiefe Leiden macht vornehm; es trennt." - und erntet damit bei der Buchautorin Unverständnis, denn sie fragt: "Heißt dies, dass das tiefe individuelle, von Anderen nicht verstehbare Leiden - nach Nietzsche ist es 'das Pathos der Distanz' - wert- und kulturschaffend ist? Und fordert dies notwendig die Trennung des Einzelnen von der Gesellschaft?"

Nietzsches Philosophie bleibt fragwürdig, und das wohl auch für Toyomi Iwawaki-Riebel. Der Buchautorin unmittelbarer Verdienst ist es, einen durchaus plausiblen und bis dato wenig beachteten leiblich vermittelten interkulturellen Charakterzug an Nietzsches Philosophie in kritisch reflektierender Manier in das Zentrum der Betrachtung zu rücken, womit zwar die bedenklichen wenn nicht gar gefährlichen Aspekte seiner aristokratisch verbrämten Herrenmoral weder ausgeblendet, geschweigedenn überwunden sind, jedoch sich solcherart nicht nur beiläufig eine davon abweichende Orientierung in Richtung eines terrestrischen Humanismus von globaler Reichweite auftut. Eine terrestrisch-humanistische Orientierung sozusagen, die den Menschen in seiner archetypischen Entworfenheit als körperlich modulierte leibseelische Wesensgesamtheit zum Thema hat und des Menschentiers lebensweltliche Herkunft als Erdengeschöpf primär nimmt. Toyomi Iwawaki-Riebel hat überdies mit ihrer Abhandlung zu "Nietzsches Philosophie des Wanderers" ein Buch zur bzw. über die Globalisierung und Existenzialisierung von Lebensphilosophie bzw. über die schlechthin fragliche Möglichkeit einer emanzipiert gelebten Auffassung von Philosophie im Kontext kultureller Unbefangenheit geschrieben. Es liegt uns somit eine Schrift vor, deren mittelbarer Zweck die - keineswegs aufdringlich postulierte - Wünschbarkeit von Interkulturalität in Zeiten zunehmender und teils eskalierender kultureller Konflikte auf überzeugende Art und Weise illustriert - ein Stück originelle Literatur also, welcher nicht zuletzt dieses humanistischen Globalisierungsgedankens wegen unbedingt die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums zu wünschen ist.

(Harald Schulz; 10/2004)


Toyomi Iwawaki-Riebel: "Nietzsches Philosophie des Wanderers"
Königshausen & Neumann, 2004. 190 Seiten.
ISBN 3-8260-2790-6.
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Toyomi Iwawaki-Riebel studierte Philosophie und Religionswissenschaft an der Universität Shinshu in Nagano/Japan. Weiters studierte sie Philosophie, Religionsgeschichte und Japanologie und promovierte 2003 an der Universität Würzburg.