Vorab

Dieser Bericht steht in einer alten Tradition. Seit mehr als tausend Jahren existiert der literarische Typus einer Reiseerzählung über die Hadsch, auf arabisch Rihla, auf persisch Safarnameh genannt – Zeugnisse einer Pilgerschaft als Kulmination aller Sehnsüchte, als einzigartige Aus-Zeit, so reich an Mühsal und Zermürbung wie an Belohnung und Beglückung. Ob Naser-e Khusrau, Ibn Jubayr, Ibn Battuta, Mohammed Farahani, Hossein Kazemzadeh oder Muhammad Asad – um einige der berühmtesten zu nennen –, die Autoren versuchten zu informieren und zu erleuchten, ohne ihre Erfahrungen zu beschönigen oder ihre Leiden zu verschweigen. Auch sparten sie nicht mit Kritik an den vorgefundenen Zuständen und dem gelebten Islam. Auf der Hadsch klafft seit jeher eine Kluft zwischen Verheißung und Verwirklichung, die den Berichten eine besondere Spannung verleiht. Es ist dem Autor ein Anliegen sowie eine Ehre, in dieser Tradition zu stehen.
Gemeinsam ist allen muslimischen Autoren, daß sie die eigenen Gefühle nicht in den Vordergrund stellen, daß sie nur selten aus dem Brunnen der eigenen Befindlichkeit schöpfen. Der Reiseerzähler, der die Welt um seine Physis und Psyche kreisen läßt, ist ein neueres, ein westliches Phänomen, das wesentlich dazu beigetragen hat, die Reiseerzählung als literarische Form zu diskreditieren. Unter dem gut halben Dutzend nicht-muslimischer Hadsch-Autoren – so verschieden in ihrem Charakter wie in ihren Alibis oder Maskeraden (Sklaven, Konvertiten auf Zeit, Forscher und Abenteurer) – ragen die Berichte des Schweizers Johann Ludwig Burckhardt sowie des Briten Sir Richard Francis Burton heraus. Sie bemühen sich um Genauigkeit und sind von ideologischer Verleumdung und rassistischer Gehäßigkeit weitgehend frei. Bezeichnend ist, daß beide Autoren wenn nicht als »gute« Muslims, so doch zumindest als Sympathisanten des ideellen Islam gelten. Allah bedeutet auf arabisch Gott und wird in diesem Sinn von arabischen Muslims und Christen gleichermaßen benutzt – so wie auch die Franzosen einen Gott haben, den sie Dieu nennen. Die Verwendung von Allah in einem deutschen Text steigert nur die Befremdung und legt einen islamischen Gottesbegriff nahe, der sich von dem geläufigen christlichen wesentlich unterscheidet. Dieses Mißverständnis gipfelt in der unsinnigen, aber gängigen Übersetzung der ersten Kalima, des Glaubensbekenntnisses, als:
Es gibt keinen Gott außer Allah. Da es keinen anderen Gott gibt außer Gott, da er namenlos ist, weil nicht faßbar, werde ich den Begriff Allah nur in den Zitaten verwenden.

Aufbruch

Vor der ersten Kontrolle wartete eine lange Schlange von Menschen, die alle gleich gekleidet waren. Die Schlange wand sich durch das Terminal, bis zum Ausgang und darüber hinaus. Wenige Schritte entfernt trennte eine gläserne Wand die Wartenden von ihren Verwandten, die, in den Farben des Alltags gewandet, aufgeregt, ausgelassen, dichtgedrängt Ausschau hielten nach einem letzten Winken, einer letzten Geste der Zuversicht. Draußen war es – obwohl mitten in der Nacht – warm und feucht, drinnen blies der kühle Atem der Klimaanlage, und den Wartenden war kalt, denn die Männer trugen nur zwei weiße Tücher, das eine um die Hüfte geschlungen, das andere um die Schultern gelegt. Die Frauen waren in ihren langen weißen Kleidern, die ihren ganzen Körper bedeckten, etwas besser geschützt. Draußen, inmitten eines Basars aus Erwartung und Erregung – das Gepäck umringt von Großfamilien, der Weg versperrt von Reissäcken und Körpern –, herrschte laute Festlichkeit, durchsetzt von einem schleichenden Gefühl der Ungewißheit. Drinnen war die feierliche Atmosphäre ausgedünnt: Wir standen in einer einzigen ordentlichen Reihe und schoben unsere Wägen ruckweise voran, ruhig, als wüßten wir, was uns erwartet.

Stunden zuvor hatten sie mich zu Hause abgeholt. Sie waren bewegt, überdreht, aufgeregter noch als es Verwandte oder Freunde bei einem solchen Anlaß sind, denn sie selbst hatten mich in den Monaten zuvor auf diese Reise vorbereitet, sie hatten meine Fragen beantwortet und meine Vorfreude mit mir geteilt – sie waren Zeugen meiner Entwicklung zum Pilger gewesen. Sie hatten den Ihram, jene zwei weißen Tücher aus Frottee, für mich gekauft; nun halfen sie mir, ihn anzulegen. Sie umringten mich für das obligate Foto und verscheuchten das Lächeln aus ihren Gesichtern wie ein aufsässiges Kind.
Nach einem kurzen einsamen Gebet stand ich mitten im Zimmer und fühlte mich ausgeliefert; die Freunde begutachteten mich, äußerten ihre Zufriedenheit, und doch spürte ich zwischen uns eine gewisse Distanz. Mit dem Anlegen des Ihram war ich in den Zustand des Pilgers getreten und als solcher ihnen nicht mehr gleich. Nicht nur, weil ich in beneidenswerter Weise gesegnet war, für mich galten von nun an in vielem die umgekehrten Regeln als für sie, die »normalen« Gläubigen. Im Ihram war es mir verboten, Haare und Nägel zu schneiden, genähte Kleidung oder Kopfbedeckung, feste Schuhe oder Socken zu tragen, Parfüm zu benutzen, das Gesicht zu verdecken, Geschlechtsverkehr zu haben, Tiere zu töten (von einigen gefährlichen und giftigen Ausnahmen abgesehen), zu kämpfen und zu streiten. Mit dem Ende der Pilgerschaft würde ich zu den Freunden und den gewohnten Normen zurückkehren, ausgezeichnet allerdings als Hadschi, als jemand, dem Respekt gebührt, weil er die Pilgerreise nach Mekka abgeleistet hat. Kannst du das Labbayk aufsagen? fragte mich einer der Freunde, und ich stimmte die erste Zeile an, etwas zaghaft anfangs, aber zunehmend sicherer, sobald die anderen in meine Rezitation einfielen und wir gemeinsam, im sechzehnten Stock eines Hochhauses in Bombay, den Pilgerruf sprachen:

Labbayk, Allahumma, labbayk;
labbayk, laa scharika laka, labbayk;
inna-l-hamda wa nimata laka walmulk;
laa scharika laka!

Auf der Fahrt zum Flughafen sammelte ich die Gebetswünsche meiner Brüder ein. Gebete, die für einen Mitmenschen gesprochen werden, sind wirkungsvoller als Gebete, die man ichbezogen formuliert. Am mächtigsten aber sind die Gebete, die für einen anderen Muslim vor der Kaaba in Mekka und am Grab des Propheten (Sallallahu alaihi wa-sallam – saw) in Medina vorgetragen werden. Ich versprach, für die Mutter und die hochschwangere Frau, für die frisch Verheirateten und den jüngst Verstorbenen zu beten.
Am Terminal 2, zu dieser Jahreszeit »Hadsch-Terminal« genannt, verabschiedeten wir uns voneinander. Burhan, der mir bei der Vorbereitung sehr geholfen hatte, nahm mich konspirativ zur Seite. Du wirst Sachen erleben, sagte er, die dir seltsam vorkommen werden. Die Hadschis benehmen sich manchmal wie Verrückte. Vielleicht wirst du den Sinn mancher Rituale anzweifeln: das Hinundherlaufen zwischen den Hügeln oder das Bewerfen der Säulen mit Steinen. Und du wirst dich über das Verhalten mancher Hadschis wundern. Aber du mußt verstehen, daß alles aus Liebe geschieht. Der Liebende tut manchmal unvernünftige Dinge, um seine Gefühle zu äußern, um dem Geliebten zu gefallen. Er ist heftig und hemmungslos. Worauf mich Burhan heftig umarmte, und ich mich der Warteschlange anschloß.
Zuerst fiel mir die grüne Farbe auf, dann die Aufschrift: Cosmic Travel. Vor mir der Herr mit kleinem Sohn – sein Wohlstand äußerte sich in einem Ihram aus feinem Stoff und einer eleganten Brille – schob einen Wagen mit grünem Gepäck. Eine Familie saß etwas abseits auf dem Boden, umringt von Cosmic-Travel-Taschen. Um mich herum waren viele, die so wie ich eine größere und eine kleinere grüne Tasche mit der Aufschrift des Reisebüros trugen. Wir gehörten alle zu einer Gruppe, wir waren alle abhängig von unseren Reiseleitern, die das Privileg hatten, jedes Jahr auf Hadsch zu fahren. Am vertrautesten von ihnen war mir Hamidbhai, ein Kettenraucher mit Tränensäcken und einer vorstehenden Unterlippe, der beim Reden den Eindruck erweckte, sogleich in den Schlaf der Gerechten zu fallen, selbst wenn es um ihn herum tobte. Er konnte schmunzeln; tief in seinen Augen schlummerte eine grundsätzliche Belustigung über die Menschen und die Welt, die gelegentlich – eher selten – in wachen Witzen zu Tage trat. Es war nicht einfach, ihn auf Anhieb sympathisch zu finden, und es war unmöglich, ihn nach einiger gemeinsam verbrachter Zeit nicht zu mögen.
Hamidbhai stand am Check-in-Schalter und dirigierte die Gepäckaufnahme. So leichtbekleidet die Pilger waren, so schwerbeladen machten sie sich auf den Weg. Handel zu treiben während der Hadsch ist seit jeher erlaubt; in vorislamischer Zeit strömten die Beduinen nach Mekka, nicht nur um die Götterschreine, sondern auch um den großen Markt zu besuchen, und der Prophet (saw) – die menschlichen Bedürfnisse mehr bedenkend als viele andere Religionsstifter – erlaubte diese Tätigkeit, die geeignet war, die Reise zu motivieren und zu finanzieren. Die Basmati-Säcke stapelten sich vor dem Air-India-Schalter; die Gepäckwagen waren so überladen, daß sie sich kaum bewegen ließen. Und es waren so viele, daß die nicht handeltreibenden Pilger über Kisten und Säcke steigen mußten, um zum Schalter zu gelangen. Auch in einer Epoche, in der man in wenigen Stunden ganze Zeitzonen überspringen kann, war der Weg nach Mekka mit einigen Hindernissen gepflastert.
Hamidbhai überreichte mir eine der besseren Bordkarten. Obwohl bei Hadsch-Flügen formell nicht zwischen Business und Economy unterschieden wird, sind die Sitze auf dem oberen Deck der Boeing 747 stets bequemer; ich freute mich über das Versprechen einer geruhsamen ersten Nacht auf einer Reise, die Schlaflosigkeit garantierte. Ein Mitarbeiter des Reisebüros, der sich von Herzen mit mir gefreut hatte, als ich das Visum erhielt, bat mich inständig um ein Gebet darum, daß es ihm vergönnt sein möge, im nächsten Jahr auf Hadsch zu gehen. Ich nahm die Aufgabe an – es würde reichlich Gelegenheit geben, alle Versprechen einzuhalten. Die anderen Passagiere im Terminal 2 – Geschäftsleute mit Destination Singapur, Yoga-Touristen, die nach Paris heimkehrten – starrten uns an, verblüfft über die Männer in archaischer Bekleidung, die auf ihren Handys letzte Telefonate erledigten, während sie sich in die gewundene Schlange vor der Paßkontrolle einreihten. (...)


aus "Zu den heiligen Quellen des Islam. Als Pilger nach Mekka und Medina" von Ilija Trojanow
Unter Hunderttausenden moslemischer Pilger nahm der Schriftsteller Ilija Trojanow an der Hadsch, der größten Glaubensbezeugung des Islam, teil. Sein ebenso aufregender wie poetischer Bericht steht in der großen Tradition der Reiseerzählungen über die Hadsch: Ein europäischer Schriftsteller vollzieht die innersten Rituale des Islam. Dabei erlebt er eine über tausend Jahre alte Tradition und eine persönliche Pilgerschaft als Kulmination aller Sehnsüchte, als einzigartige Auszeit, so reich an Mühsal und Zermürbung wie an Belohnung und Beglückung.
Ilija Trojanow, geboren 1965 in Bulgarien, erhielt nach seiner Flucht über Jugoslawien und Italien politisches Asyl in Deutschland. Er lebte zehn Jahre in Kenia, fünf Jahre in Bombay und zog 2003 nach Kapstadt. Der Schriftsteller sieht sich als Reisender zwischen den Welten, als Suchender zwischen den Kulturen und Religionen. (Piper)
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