Martin Walser: "Leben und Schreiben"

Tagebücher 1951-1962


Ein naiver Zyniker

"Noch kann mich niemand kennen. Ich bin noch nicht da", schreibt Walser in diesen frühen Jahren, lange bevor seine ersten wichtigen Werke erscheinen. Der inzwischen gealterte Schriftsteller (78) erscheint uns hier quasi noch in seiner Unschuldsphase - als Rundfunkschaffender, Reisender und fleißiger Notierer erster literarischer Einfälle in nuce. So erwächst eine Art "Porträt des Künstlers als junger Mann" (vgl. Joyce), eine Mischung aus Privat- und Arbeitsjournal. Die Frage bei solcherlei Unternehmungen ist ja immer: Was muss davon einen Leser interessieren und wie sehr.

Als 24-Jähriger denkt Walser auch an die schönen Dinge des Lebens: "In diesem Café war keine Bedienung, mit der man hätte schlafen wollen, deswegen Exitus!" Öfters tauchen ernüchternde Feststellungen auf, wie: "Aus Erfahrung weiß ich, dass kaum ein Mensch imstande ist zu sagen, was er sagen möchte." Das erinnert uns doch an Max Frischs erstes grandioses Tagebuch (1946-49), wo dieser notierte: "Unser Anliegen, das eigentliche, lässt sich bestenfalls umschreiben, und das heißt ganz wörtlich: man schreibt darum herum."

Die Einträge hier beginnen am 15.9.1951 und enden am 31.12.1962 - dazwischengestreut sind des Autors eigene Zeichnungen und Kritzeleien. Im September 1952 notiert Walser: "Mein Dasein und mein Schreiben berühren sich nur ganz selten und dann nur flüchtig und mit Scham" - das hätte man aus der Kenntnis des späteren Walser nicht vermuten wollen - man sieht, es gibt auch positive Entwicklungen.
Zwischen quasi äußerlichen Terminnotizen räsoniert und grübelt Walser - wobei nicht immer sicher ist: Spricht hier der authentische Martin oder ist es eine künftige Romanfigur.

In den Jahren 1953/54 hatte Walser offensichtlich am heftigsten gezeichnet - davon hätte aber etliches nicht veröffentlicht werden dürfen! Am 25.1.1955 erfolgt eine überraschende Bemerkung: "Gegen mich müsste geschrieben werden. Ich habe Züge einer negativen Romanfigur." Das passt noch gar nicht so recht ins Bild des Frischlings. Sehr viel später wird Walser ja genügend Kritiker haben, die gegen ihn schreiben. Ende April 1955 erfahren wir, dass Walser an den "Ehen in Philippsburg" schreibt, wovon im weiteren Verlauf immer wieder Einfälle eingestreut werden.

Im März 1957 während eines Krankenhausaufenthalts war Walser schlecht drauf. Er bezeichnet nämlich sein Tagebuch als "Aufzeichnungsgrab" und mutmaßt, dass regelmäßige Tagebuchschreiber zu "fürchterlichen Lügnern" werden müssten: "Nichts schlimmer als das regelmäßige Tagebuch (...) Mich kotzt es an, mich mit diesem Papier unterhalten zu müssen." Statt aufzuhören mit Schreiben schildert Walser aber sehr minuziös seinen Krankenhausaufenthalt mit Untersuchungen und Operation. Aber Mitte Juli 1957 bekommt er wieder richtig Lust zu schreiben.

Ende Juni 1958 hat Walser abermals eine fatalistische Anwandlung: "Schreiben ist nur dann gerechtfertigt, wenn man es auch täte, ohne je Aussicht auf Veröffentlichung zu haben. Kein Autor kann verlangen, dass er gelesen wird. Heutzutage darf man keinem Menschen zumuten, dass er Bücher liest." Wenn das nicht naiv-zynisch ist?! Und Walser konnte auch richtig ordinär werden: "Die Shorts der amerikanischen Mädchen sind wie Wursthäute, die zeigen sollen, wie fett und prall die Würste sind." Zum gleichen Datum - 7.7.1958 - notiert er noch: "Ich lerne allmählich wieder zu hassen." War der Mann an dem Tag noch zurechnungsfähig?

"Zwischen 10. und 15. Oktober einen Roman angefangen" - und dann kommt auch noch etliches Familienleben dazwischen. Walser streut sogar Gedichte ein, teils deutsch, teils englisch. Er entwickelt in zahlreichen Schüben seinen Anselm Kristlein, Ende März 1959 steht der Titel "Halbzeit" für den ersten großen Roman fest. Wie es sich gehört, setzt sich Walser auch zwischendurch mit dem Tod auseinander und mit Gott: "Wenn ich allein bin, glaube ich, dass ich an Gott glaube. In der Kirche, wenn der Pfarrer von Gott spricht, sehe ich ein, dass ich ungläubig bin." Das kann doch nicht nur an Walser liegen?!

Ab Ende November 1961 arbeitet Walser an "Eiche und Angora", im Jahr 1962 präsentiert er Ansätze von "Der Schwarze Schwan" sowie von "Überlebensgroß Herr Krott". Dass Walser zwischendurch noch Wahlkampf für Willy Brandt gemacht hat, viel unterwegs war u.a. eben auch zu Lesungen und Vorträgen, erfährt man nur sehr verkürzt. Er äußert sich nicht direkt politisch und bedenkt die Intellektuellen mit ziemlichen Vorbehalten - was vielleicht auch nur ein Reflex auf die eigene Wirkungslosigkeit sein mochte.

Insgesamt ein gewichtiges Buch für Walser-Liebhaber allemal. Walser-Gegner finden hier andererseits noch wenig Reibungsfläche. Noch ist der Autor zu jung, zu naiv, zu harmlos. Sein Zynismus ist schüchtern und blüht nur im Herbst und im Winter auf. Interessant wäre freilich noch der Vergleich der Ansätze und Notizen mit den letztendlich veröffentlichten Werken. Der Rezensent muss gestehen: das Standard-Tagebuch von Format ist das anfangs erwähnte von Max Frisch: Selbiges ist kompakter, literarischer. Ein Satz von Frisch kann aber wohl für beide gelten: "Im Grunde ist alles, was wir in diesen Tagen aufschreiben, nichts als eine verzweifelte Notwehr." Nehmen wir die Herausforderung an und freuen uns auf die späteren Tagebücher Walsers, die wohl brisanter sein sollten.

(KS; 12/2005)


Martin Walser: "Leben und Schreiben. Tagebücher 1951-1962"
Gebundene Ausgabe:
Rowohlt, 2005. 667 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Rowohlt, 2007.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Schreiben und Leben. Tagebücher 1979-1981"

"Der Mensch ist ein Dichter. Und wenn er kein Dichter mehr ist, dann ist er auch kein Mensch mehr", schreibt Martin Walser im April 1979 in sein Tagebuch. Leben und Schreiben? So waren seine Tagebücher bisher überschrieben, aber nun, in diesem vierten Band, ist die Gewichtung eine andere. "Schreiben und Leben" heißt es jetzt: Das Schreiben erst gibt dem Leben seinen Sinn. Und es bringt Schönheiten hervor, die genauso Wahrheiten sind - dafür liefert dieses Tagebuch hinreißende Beweise. Und doch. Es wird gelebt, es wird erlebt, und dann erst wird geschrieben. Über Herbert Achternbusch, Thomas Bernhard, Heinrich Böll, Nicolas Born, Hilde Domin, Hannelore Elsner, Hans Magnus Enzensberger, Joachim Fest, Max Frisch, Manfred Fuhrmann, Günter Grass, Lars Gustafsson, Jürgen Habermas, Peter Hamm, Peter Handke, Wolfgang Hilbig, Wolfgang Hildesheimer, Rolf Hochhuth, Walter Jens, Uwe Johnson, Joachim Kaiser, Sarah Kirsch, Wulf Kirsten, Ruth Klüger, Herbert Marcuse, Freya von Moltke, Ivan Nagel, Gert Neumann, Joyce Carol Oates, Ulrich Plenzdorf, Fritz J. Raddatz, Marcel Reich-Ranicki, Gershom Scholem, Günter Schöllkopf, Edgar Selge, Manès Sperber, Thaddäus Troll, Werner Tübke, Joachim Unseld, Siegfried Unseld, die Töchter Alissa, Franziska, Johanna und Theresia Walser, Käthe Walser, Peter Weiss, Christa Wolf und viele Andere mehr. (Rowohlt)
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