Martin Walser: "Leben und Schreiben"

Tagebücher 1963- 1972


Selbstbeobachtung

Nach dem ersten Band der 'Tagebücher 1951-1962' liegen nun also die 'Tagebücher 1963-1973' vor - eine brillante Fortsetzung der unerschütterlichen Notizen dieses so gerne verkannten Großschriftstellers Jahrgang 1927 - ein echter Jubiläumskracher zum 80. Geburtstag. Das muss doch der Neid dem Walser lassen - Sprache kann er! In einem Interview zu seinem 80. Geburtstag konstatierte der Autor, er könne dem sogenannten Ruhestand nichts abgewinnen - dabei sei Schreiben "die passivste Tätigkeit" - und die "Liebe die wirkliche Produktionskraft." Überdies seien Beichten und Schreiben miteinander verwandt: "Im Beichtstuhl werden Erzähler geboren!" Zu seinen Tagebüchern meint Walser, ihm sei nichts peinlich - und überhaupt sei seine Methode: "Etwas so schön sagen, wie es nicht war." (vgl. "Focus", 24. 3. 2007).

Walser hat oft genug Leser und Kritiker polarisiert, weil ihm eine deutliche Aussage wichtiger war und ist als beschwichtigende Harmonisierung. Man muss sich beispielsweise nur an seine Rede 1998 anlässlich der Verleihung des 'Friedenspreises des Deutschen Buchhandels' oder an das Hickhack 2002 um seinen Roman 'Tod eines Kritikers' erinnern. Just in diesem Fahrwasser mag es wie eine Koinzidenz der beiden 80jährigen Großschriftsteller anmuten, dass sie sich nun beide einen Gedichtband herauszubringen bemüßigt fühlten, in dem sie jeweils mit ihren Kritikern abrechnen (Günter Grass, Dummer August - Martin Walser, Das geschundene Tier). Interessanter wäre es natürlich, wenn beide übereinander schrieben - da weiß man nämlich zu wenig, wie sehr sich Walser und Grass respektieren oder aus dem Weg gehen. Statt einer Streitschrift oder einer Satire wird nun also Lyrik bis zur Selbstentblößung offeriert. Bei Walser sind das 39 Balladen, die keine sind - wobei ja auch in seinen Romanen durchaus balladeske Passagen enthalten sein mögen. Walser soll auch einmal gesagt haben, es gebe keinen Autor, der nicht am liebsten Lyriker wäre. Dennoch hat er sich die Selbst- und Weltbeobachtung in seinen Tagebüchern nicht versagt.

Mit den Jahren 1963 bis 1973 umfassen die vorliegenden Tagebücher die spannendsten Jahre der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit. Für Walser geht es um die "Ermöglichung des Hierseins durch Schreiben." Er datiert hier Lesetermine und Theaterproben, er notiert Überlegungen zu Romanprojekten, schiebt mehr oder weniger originelle spontane Sentenzen dazwischen oder auch längere Gedichte, z.B. mit solchen Zeilen: "Regen könnte mir einfallen oder Regen, / vielleicht sogar, wenn ich Glück hätte, / Regen, aber in meiner Lage wär ich / schon dankbar, wenn mir / bloß Regen einfiele, / es muß ja nicht immer gleich Regen sein, / zur Not genügte auch Regen." Viel nachdrücklicher ließe sich wohl das Ringen des Autors um Ideen kaum schildern.

Ab Februar 1964 besucht Walser den Auschwitz-Prozess in Frankfurt/M., er tätigt beflissen Notizen, hält makabre Details fest. Im April 1964 gibt er eine Grundfeststellung ab: "Erzählen, der Versuch, mit geschlossenem Mund zu singen." Im Dezember notiert er zum Prozess: "Man weigert sich gegen die Begreifbarkeit. Man ist überwältigt von der Ungeheuerlichkeit. (...) Es ist keine Sprache vorstellbar für diese Vorgänge. (...) Auch die Statistiken sind kein Ausdruck für Auschwitz." Und dann wird Walser richtig politisch brutal: "Auschwitz war das Resultat einer langen Erziehungsarbeit, einer jahrhundertelangen Gegenaufklärung." Deutlicher kann man das Versagen und Verbrechen von Menschen an Menschen kaum noch formulieren. Wer heutzutage auf dem Hintergrund solcher und vieler ähnlicher Aussagen Walsers diesem Autor irgendetwas Rechtslastiges andichten möchte, ist schlichtweg ein Idiot. Als ob sich Walser nicht ohnehin mit genügend Worten zur moralischen Instanz gegen Rechts etabliert hätte. Freilich tat er das nie mit dem Dackelblick der Sonntagsredner.

Irgendwo zwischen Prosafetzen und Lyrik im Jahre 1970 plötzlich der Satz: "Alle Literatur ist Sklavensprache, das ist ganz sicher." Und im Jahr 1971 sticht ein Satz heraus: "Der Tod fickt das Leben. Oh ja." Freilich kann er sarkastisch sein, der Walser - aber zum Nihilisten taugt er nicht. Formuliert er doch eine feinsinnige Kapitalismuskritik: "Die, die 5 Mark verdienen pro Stunde, verstehen einander, und die, die 500 verdienen, verstehen einander auch. Wer wen versteht, das ist kein Sprachproblem." Diese Sentenz aus dem Jahr 1971 ist heute eher noch wahrer geworden, insofern Wahrheit etwas mit Brutalität zu tun hat. Und fast wird es ein wenig makaber, wenn Walser einfließen lässt, dass er seiner Putzfrau 5 DM die Stunde bezahlt. Dafür durchbebt ihn auf dem VS-Gründungskongress richtiggehende solidarische Euphorie: "Ich fühle mich wohler, wenn ich für etwas bin, als wenn ich gegen etwas bin. Ich weiß aus Erfahrung, daß es gesünder ist, für etwas zu sein. Am gesündesten ist es, mit vielen für etwas zu sein." Und all die Notizen münden mehr oder weniger direkt in das Eingeständnis: "Ich kann mir mich jetzt bald nicht mehr leisten."

In einer Art Nachwort mit dem Titel 'Die Hingeschriebenheit' verweist Walser auf eine interessante Unterscheidung: "Was ich ins Tagebuch schreibe, ist prinzipiell unverbesserlich. Erst wenn ich das Hingeschriebene in einer literarischen Form brauche, wird es verbesserbar." Und noch etwas gehört dazu: "Eine Situation muß einen Sprachreiz haben." Das wird allerdings die Frage bleiben, ob nicht eher ein gewiefter Autor einer Situation einen Sprachreiz quasi suggeriert und diesen nach seinem jeweiligen Genie auskostet und formuliert in unvergleichlichen Worten. Jedenfalls ist auch dieser Band äußerst lesenswert - Walser leistet sich wenige Banalitäten - und das macht die Lektüre eben so spannend.

(KS; 10/2007)


Martin Walser: "Leben und Schreiben. Tagebücher 1963- 1972"
Rowohlt Reinbek, 2007. 719 Seiten.
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