Katharina Tiwald: "Die erzählte Stadt"

Unbekanntes St. Petersburg


Ein Reisebericht mit außergewöhnlichen Schwerpunkten

Sankt Petersburg, diese wunderbare, vom Wasser geprägte Stadt, sollte man besucht haben. Diesen Eindruck vermag natürlich jeder Reiseführer zu vermitteln. Und der Pauschalreisende hat ein paar Tage damit zu tun, alle Sehenswürdigkeiten angemessen abzuklappern. Ob er danach jedoch Sankt Petersburg, das ehemalige Leningrad, verstanden hat und kennt? Nach der Lektüre von "Die erzählte Stadt" wird man das bezweifeln oder vielmehr verneinen.
Die junge österreichische Schriftstellerin Katharina Tiwald hat in Sankt Petersburg vielfältige Kontakte geknüpft und ungewöhnliche Orte besucht und lässt den Leser an ihren Erfahrungen und Erkenntnissen teilhaben. Er trifft mit ihr am Flughafen ein, durchquert die Stadt, kommt bei Freunden an. Mit der Autorin und Nikolai Gogol flaniert man über den berühmten Newski Prospekt, aber nicht lange. Denn abseits der Prachtstraßen warten scheinbar zweitrangige Entdeckungen, zum Beispiel eine Tänzerin, die das neue künstlerische Russland repräsentiert und nebenbei zum Bestreiten ihres Lebensunterhalts Mathematik unterrichtet; das Phänomen des öffentlichen Verkehrs; die Dokumentation und Aufarbeitung der deutschen Belagerung - Blockade - Leningrads im Zweiten Weltkrieg in Museen, Ausstellungen und Kunst, jener schrecklichen und im Bewusstsein der Petersburger präsent gebliebenen Jahre, in denen es nicht selten zu Kannibalismus unter der ausgehungerten Bevölkerung kam. Frau Tiwald spürt dem Umgang Petersburgs mit dem Tod nach: Grabmale Prominenter, Massengräber aus der Zeit des Großen Terrors, der Tod im Mittelpunkt des Werks eines avantgardistischen Filmkünstlers. Der Leser verfolgt die Rolle des Wassers im Petersburg der Vergangenheit und der Moderne; die Komposition der Farben im Stadtbild; das Phänomen Kälte, in Petersburg selbstverständlich, eine mit Erfindungsgeist und Gleichmut ertragene Widrigkeit. Die Autorin erkundet unterschiedliche Gotteshäuser der Stadt mit Schwerpunkt auf der jüdischen Gemeinde, und sie folgt den Spuren der großen Dichter Sankt Petersburgs, Puschkin und Achmatowa beispielsweise, macht sich Gedanken über die Bedeutung der Musik in der Stadt, über den Stellenwert von Tieren, den alltäglichen und den Zootieren. Abschließend präsentiert sie das Verhältnis dreier großer Russen zur Stadt, Peters des Großen, Lenins und Putins. Sie alle haben Sankt Petersburg ihren Stempel aufgedrückt beziehungsweise tun es immer noch. Und das Buch schließt mit einer Anekdote voll von russischem Humor.

Katharina Tiwald erzählt gut, dynamisch und doch anschaulich, sie leiht dem Leser ihre Sinne, nimmt ihn mit auf ihre ungewöhnliche Reise, sofern er vor den manchmal skurrilen Themen nicht zurückscheut. Die Autorin hat einen Blick für das nur scheinbar Alltägliche und scheut sich nicht, unangenehmen Fragen nachzugehen. Vor allem überträgt sich ihre Faszination auf den Leser, das anfängliche Befremden weicht rasch einer behutsamen Vertrautheit. Dies ist nicht das ehrwürdige, diskret verfallende Leningrad, das ich 1989 kennen lernte, auf Schritt und Tritt überwacht vom russischen Reiseleiter und uniformierten Repräsentanten des Staates, aber Frau Tiwalds Sankt Petersburg ist die Erweiterung, die Vertiefung meines Leningrads, das Produkt einer rasch fortschreitenden Evolution und doch im Kern über den Gang der Zeit erhaben. Den meisten früheren Besuchern der Stadt wird es vermutlich ähnlich ergehen.
Die vielen stimmungsvollen, ausdrucksstarken Schwarzweißfotos des Petersburger Künstlers Vladimir Kustov illustrieren den Text ideal. Layout und Verarbeitung sind sehr ansprechend. Eine interessante und ungewöhnliche Reisevor- oder -nachbereitung, oder ganz einfach ein spannender Ausflug in eine Stadt voller Flair, Dynamik und Gegensätze.

(Regina Károlyi; 03/2006)


Katharina Tiwald: "Die erzählte Stadt"
Herbig, 2006. 222 Seiten.
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Katharina Tiwald, geboren 1979 in Wiener Neustadt, studierte Sprachwissenschaft und Slawistik in Wien, Sankt Petersburg und Glasgow. Im Herbst 2005 wurde sie für ihre literarischen Texte und Theaterstücke mit dem Jugendkulturpreis des Landes Burgenland ausgezeichnet. Ihr Kurzgeschichtenband "Schnitte, Porträts, Fremde" erschien in der edition lex liszt 12.

Noch ein Buchtipp:

Gala Naumova: "Die Stadt der tausend Stimmen"

"Venedig des Nordens" heißt die Kulturmetropole Sankt Petersburg häufig. Und so liegt und strahlt diese Stadt: am westlichsten Zipfel des russischen Reiches, am baltischen Meer, durchzogen von glitzernden Kanälen, überglüht von goldenen Kuppeln. Sanfte Melancholie umgibt ihre Straßen und Plätze, die Schauplatz und Entstehungsort einer überaus reichen, weltweit beliebten Literatur sind.
Gala Naumova, die selbst aus Sankt Petersburg stammt, erzählt auf lebendige, vielfach bewegende Art die facettenreiche Geschichte dieser Literatur: vom Goldenen Zeitalter Puschkins, Gogols, Turgenjews und Dostojewskijs über die späteren Meister Mandelstam, Block, Pasternak bis hin zu Majakowski, Nabokov und Brodsky oder zur großen Liebesdichterin Anna Achmatowa. Ein spannender Blick auf die Literaturszene der 1960er- und 70er-Jahre und ein Besuch bei den Neo-Klassizisten von heute runden das Bild ab.
Die europäischste unter den Literaturstädten Russlands: ein bewegtes Porträt von Sankt Petersburg und seinen Dichtern - von der Romantik bis heute. (Artemis & Winkler)
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