Nikolai Gogol: "Die schönsten Erzählungen"


Großartige Geschichten von einem Meister des Bizarren

"Es gibt nichts Schöneres als den Newski Prospekt." Mit diesen Worten beginnt Gogols gleichnamige Erzählung "Newski Prospekt", die erste Geschichte dieses Bandes. Doch der Schein trügt. So wie hinter der illustren Scheinwelt des Newski Prospekts, Petersburgs Prunk- und Flaniermeile, eine höchst zerbrechliche, wenn nicht sogar kaputte Realität herrscht, so steckt in den modisch vornehmen Kleidern der dort Flanierenden oft auch ein gebrochener Mensch. Und auf der letzten Seite der Erzählung "Newski Prospekt" muss der Autor seinen Lesern dann eingestehen: "Doch nicht nur die Laternen hier, auch alles andere atmet Lug und Trug. Er lügt, er trügt zu jeder Stunde, dieser Newski Prospekt."

Nicht nur viele seiner literarischen Figuren, auch Nikolai Gogol selbst war ein gebrochener Mensch. Es ist davon auszugehen, dass Gogol an einer endogenen Psychose gelitten hat, denn psychotische Symptome wie beispielsweise Stimmenhören traten bei einigen Mitgliedern von Gogols Familie auf. Die "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen", die sich ebenfalls in diesem Erzählband finden, sind denn auch von einer Überzeugungskraft, die nur echten Wahnvorstellungen oder aber dem Genie entspringen konnte. Gogol hatte wohl beides. Dazu verfügte er über eine äußere Erscheinung, vor allem über eine Nase, die eine ideale Vorlage für Karikaturisten abgab. So überschreibt Adam Soboczynski dann auch sein erläuterndes und sehr informatives Nachwort mit "Gogol und die Hässlichkeit des Dichters."

Den Riss, der zwischen seiner dem Erhabenen und Schönen hingewandten Seele und seinem wenig einnehmendem Äußeren klaffte, den konnte Gogol nie kitten. Und im selben Jahr, in dem er das Manuskript zur Fortsetzung seines Hauptwerkes "Die toten Seelen" verbrannte, verweigerte er die Nahrungsaufnahme und starb daraufhin am 4. März 1852 in Moskau.

Viel wurde über Gogols Erzählung "Die Nase" geschrieben und da hineininterpretiert, eine Erzählung, die natürlich in dieser Sammlung nicht fehlen durfte. Adam Soboczynski sieht in Gogols "Nase" eine Vorwegnahme von Kafkas "Verwandlung". "Die Nase" war aber wohl auch ein durch den Autor an sich selbst diagnostizierter Makel, wie vielleicht auch manch Anderes in Gogols Erzählungen. Dennoch sollte man ihn keinesfalls als einen literarischen Paraphraseur seiner persönlichen Psychose abstempeln. Gogols Kunst ist nicht von Wahn und Krankheit getragen. Es ist vielmehr der Funke seines Genies, der Licht in die Abgründe der menschlichen Seele wirft. Durch sein unbestechliches literarisches Vergrößerungsglas betrachtet er Alltägliches und allzu Menschliches. Bei Gogols Tragödien, die zugleich allerdings auch immer etwas Komödienhaftes haben, handelt es sich zumeist um die Tragödien des kleinen Mannes, wie beispielsweise in der Erzählung "Der Mantel". Sie schildert die Geschichte eines kleinen Beamten, eines Schreibers, dessen ganzes Lebensglück im Erwerb eines neuen Mantels besteht, der ihm aber kurz darauf gestohlen wird. Doch damit ist die Geschichte natürlich noch nicht zu Ende. Den Schluss möchte ich hier nicht preisgeben und rate lieber dazu, dieses Buch zu erwerben, um gewiss glücklicher damit zu werden als der Schreiber Akaki Akakijewitsch mit seinem neuen Mantel.

In ihren grotesken Wesenszügen erinnern die Geschichten Nikolai Gogols stark an die fantastischen Erzählungen E.T.A. Hoffmanns. Und in bewundernswerter Weise - auch hier ähnlich wie Hoffmann - verbindet Gogol das Alptraumhafte mit dem Lächerlichen. Er trachtete danach, dem Bösen die theatralische Maske von Großartigkeit vom Gesicht zu reißen, um die gewöhnliche, banale Allerweltsfratze bloßzulegen, die sich dahinter verbirgt. Gogol selbst hat das so formuliert: "Mein ganzes Streben geht dahin, dass jedermann, der meine Werke gelesen hat, nach Herzenslust über den Teufel lachen kann."

Nikolai Gogol ist ein unterhaltsamer und origineller Erzähler. Vieles von dem Stoff, den er dichterisch verarbeitet hat, erhielt er von seinem älteren Freund Puschkin, der schon früh Gogols Genie erkannt hatte. Doch auch mit seiner eigenen langen Nase spürte er Geschichten auf, wenn er in St. Petersburg den Newski Prospekt hinauf und hinunter promenierte. Mit der ihm eigenen dichterischen Intuition spürte er sie auf und formte und gestaltete sie zu literarischen Kabinettstücken des Bizarren, wie wir sie in diesem Band vorfinden. Texte, denen eine geistige Grandezza hohen Zuschnitts anhaftet. Gogol schaute tief in die Seelen der Menschen, aber er führte sein Sezier- oder Beckmesser mit einem nachsichtigen Lächeln in deren verschrobenen Hirnwindungen spazieren. Wohl zeichnet er mit spitzer Feder die diplomatischen Feinheiten des russischen Beamtenalltags nach, um sie mit einem ätzend ironischen Kommentar zu versehen, aber seiner Ironie haftet stets etwas Aristokratisches an. Dennoch - manchmal hinterlassen seine Geschichten beim Leser auch einen beklemmenden Eindruck.

Neben Puschkin, Tolstoi und Dostojewski führt Nikolai Gogol bei der Rezeption durch das breite Lesepublikum leider immer noch so eine Art von Schattendasein, und mein Rechtschreibprogramm liefert einen sichtbaren Beweis dafür, da es die Namen der drei erstgenannten Dichter als bekannt identifizieren kann, den Namen Gogol aber mit einem roten Strich versieht. Vielleicht kann diese Neuausgabe des Aufbau-Verlages, die einige der besten Geschichten Gogols beinhaltet, ein wenig dazu beitragen, dass Nikolai Gogols Werk mehr Aufmerksamkeit erfährt. Sechs wirklich großartige Geschichten, ausgewählt von Christina Salmen und im Nachwort kommentiert von Adam Soboczynski, warten hier auf den Leser. Bei diesen Erzählungen handelt es sich im Einzelnen um: "Der Newski Prospekt", "Das Porträt", "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen", "Die Nase", "Die Kalesche" und "Der Mantel". Biografische Notiz und Textnachweis beschließen den empfehlenswerten Band.

(Werner Fletcher; 03/2009)


Nikolai Gogol: "Die schönsten Erzählungen"
Aus dem Russischen von Georg Schwarz.
Aufbau-Verlag, 2009. 300 Seiten.
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