Kurt Singer: "Zivilcourage wagen"

Mangelware "Sozialer Mut"?


Besteht unsere Gesellschaft in erster Linie aus unkritischen Mitläufern? Haben wir unsere Fähigkeit, zu hinterfragen, zu kritisieren, zu protestieren, aus purer Bequemlichkeit bei Seite gelegt? Wo stehe ich, wenn meine Meinung und mein tatkräftiges Eingreifen gefragt sind? Vor mir liegt ein neues Buch mit dem interessanten Untertitel "Wie man lernt, sich einzumischen".
Kurt Singer, selbst aktiv in der Friedens- und Umweltbewegung, lehrte als Professor für Pädagogische Psychologie mit Schwerpunkt Lehrerausbildung an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Heute ist er als freischaffender Psychotherapeut und Supervisor tätig. Er verfasste zahlreiche Fachbücher, unter anderem "Die Würde des Schülers ist antastbar", ein Plädoyer für konstruktive Auseinandersetzungen in unseren Schulen. "Zivilcourage wagen" erschien erstmals 1992, und liegt jetzt in der dritten, überarbeiteten Auflage vor.
Kurt Singers Buch ist ein einziger grosser Appell! Sein persönliches Engagement wirkt glaubwürdig, seine Botschaft ist eindringlich: Auf knapp zweihundert Seiten überzeugt er uns davon, dass wir unsere Umwelt durch sozialen Mut und persönliche Einmischung verbessern können: "Nur von Gefühlen bewegte Menschen können für einen Wandel des Bewusstseins eintreten!"
An Hand aktueller Beispiele zeigt der Autor auf, wie Anpassung in unserer Gesellschaft systematisch gelehrt wird. Er stellt die Frage in den Raum, ob Obrigkeitsfurcht und Anpassungsbereitschaft zu "Loyalität" idealisiert werden, und zitiert Vaclav Havel: "Der Mensch versteckt sich hinter der Fassade der Loyalität. Dies bietet ihm die Illusion, er sei eine mit sich identische, würdige und sittliche Persönlichkeit."
Singer ruft dazu auf, aus der Sorge um die Zukunft heraus tätig zu werden. "Die Angst ist eine Kraft!" ruft er uns zu, und erzählt von Menschen, "die aus ihrer Angstwahrnehmung die Kraft bezogen, optimistisch etwas verändern zu wollen".
Hin und wieder wird sein Ton etwas missionarisch: "Menschen, die sich politisch einmischen, müssen der formelhaften Politikersprache und bürokratischen Amtssprache entgegentreten, indem sie beweglich denken, lebendig urteilen und sich kraftvoll ausdrücken."
Ganz stark sein Kapitel zum Thema "Zivilcourage in der Schule"! Er prangert das Unrecht an, das vielen Schülerinnen und Schülern noch heute durch ein unpädagogisches Autoritätssystem angetan wird, und ermutigt zu neuen Wegen. Seine Skizzen einer humanen und demokratischen Schule verdienen unbedingte Aufmerksamkeit!
Singers Credo lautet: "Zivilcourage ist keine Verhaltensweise, die man als Technik einüben kann. Sie ist eine Tugend: eine Gesinnung und innere Haltung!" An dieser Stelle ist die vielleicht einzige Kritik anzubringen: Neben der grossen, überzeugenden Predigt verblasst das kleine Kapitel "Wie man Zivilcourage lernt - Schritte zu sozialem Mut". Man kann sich fragen, ob der Psychoanalytiker Singer der Verhaltensänderung im Sinne von klar strukturierten Lernschritten nicht etwas mehr Gewicht hätte geben sollen. Dem eingangs erwähnten Untertitel "Wie man lernt, sich einzumischen" wird der Autor damit nur teilweise gerecht.

Trotzdem ist das Fazit zu ziehen, dass sein fundamentales Werk Erziehenden als Pflichtlektüre dienen sollte!

(André Kesper)


Kurt Singer: "Sozialer Mut "
Ernst Reinhardt Verlag, München 2003
ca. EUR 14,90.
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Kurt Singer: "Die Würde des Schülers ist antastbar"
Rowohlt TB 1998
252 Seiten
ca. EUR 8,90.
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Empfehlung:

Wolfram Wette: "Zivilcourage"
320 Seiten; Fischer 2004
Im Zweiten Weltkrieg hat es vereinzelt Soldaten und Polizisten gegeben, die sich der Gewalt des rassistischen Vernichtungskrieges der Wehrmacht nach Kräften entgegengestellt haben. Nach dem Widerstand des 20. Juli 1944 sowie den Deserteuren und "Wehrkraftzersetzern" tritt damit eine neue Form der Widerständigkeit ins Blickfeld: der Rettungswiderstand.

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