Gitta Sereny: "Das deutsche Trauma. Eine heilende Wunde"


Die Recherchen sind tief greifend sowohl bei den Interviews als auch bei den Prozessbeschreibungen. Die Autorin schreibt darüber, wie sie als Angehörige der Kriegsgeneration die sogenannte Hitlerzeit erlebte und nach dem Krieg mithalf, das Thema aufzuarbeiten. Bei den Interviews versucht sie stets die Ursachen von der Wurzel her zu ergründen. So beginnt sie auch über den eigenen Lebenslauf von frühester Jugendzeit an zu berichten.

Als Tochter einer einst gefeierten Schauspielerin führte sie in Wien ein beschauliches Leben mit guter schulischer Ausbildung in Österreich und später in einem englischen Internat. Nach der Grundschule, mit 14 Jahren, wollte sie in die Fußstapfen ihrer Mutter treten und nahm am Max Reinhardt Institut Schauspielunterricht.

Der Anschluss an Hitlerdeutschland beendete ihre Jugendträume. Sie musste die Erniedrigung ihrer jüdischen Bekannten mit ansehen, wie diese mit Zahnbürsten die Straßen schrubben mussten. Trotz der damit verbundenen Gefahr setzte sie sich ad hoc für diese Personen ein. Die Mutter war verlobt mit dem österreichischen Nationalökonom Friedrich von Mieses. Dieser fühlte sich vom NS-Regime bedroht und emigrierte zeitgerecht nach Genf. Um Mieses Rückkehr zu erwirken, setzte das Regime nun die Mutter der Autorin unter Druck. Es gelang ihr jedoch, zusammen mit der Tochter ebenfalls nach Genf zu fliehen. Die Autorin kam letztlich bei einer Freundin in Paris unter. Bald jedoch wurde auch Frankreich durch deutsche Truppen besetzt. Da sie folglich mit Mitgliedern der Resistance in Verbindung kam, musste sie gezwungenermaßen, um der Verhaftung zu entgehen, erneut flüchten. Durch die Warnung eines deutschen Besatzungssoldaten entging sie nur knapp der bevorstehenden Verhaftung und flüchtete in der folgenden Nacht über die Berge nach Spanien und weiter nach Amerika.
In Amerika wurde sie unter anderem Mitarbeiterin der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration). Nach dem Krieg kam sie durch diese Organisation wieder nach Europa zurück. Die UNRRA hatte den Auftrag, in Europa bei der Repatriierung jener osteuropäischen Kinder mitzuhelfen, welche in der NS-Zeit für Zwecke rassistischer Assimilierung oder zwecks Versklavung geraubt worden waren. Die Nazis hatten während des Krieges diese osteuropäischen Kinder vorerst in den Heimen der Organisation "Lebensborn" untergebracht.
In den Heimen teilte man die Kinder nach den Kriterien "lebenswert", "eindeutschungswert" oder "arbeitswert" ein. Entsprechend dieser Einteilung gab man sie entweder zur Adoption an deutsche Eltern frei oder man "verwendete" sie eben für andere, weniger edle Zwecke. Die kräftigeren etwa zehnjährigen Kinder wurden als Arbeitskräfte - im Klartext als Sklaven - eingesetzt. Wie problematisch die damalige Repatriierung war, wird an einem Fall geschildert. Die deutschen Adoptiveltern, an die Kinder gewöhnt, wollten nicht nur die Rückgabe sondern auch der Kinder Identitätsklärung verhindern. Die UNRRA konnte trotz aller Schwierigkeiten bis zu ihrer Auflösung am 1.Juli 1947 an die 40.000 polnische Kinder repatriieren.

Die Kriegsgeneration versuchte das Trauma "Hitler und NS-Diktatur" zu verdrängen. Hitler war eben in der Geschichte der einzige Diktator, der in Deutschland von der deutschen Bevölkerung auf demokratische Weise in sein Amt gewählt worden war. Dieser Umstand wurde und wird immer noch vom Großteil der deutschen Bevölkerung verdrängt. Die Alliierten und das spätere souveräne Deutschland konnten und durften nicht verdrängen, sondern mussten und müssen aufarbeiten. Im "Nürnberger Prozess" wurde nicht nur gegen die verbliebene NS-Spitze seitens der Alliierten vorgegangen, sondern es wurden auch Gerichtsverfahren gegen Einzelpersonen durchgeführt. Die deutschen Behörden hatten nach Wiedererreichung der Souveränität gegen 61.741 Personen wegen NS-Verbrechen Untersuchungen eingeleitet. Leider brachten viele Verfahren nicht immer den gewünschten Erfolg, nämlich die Überführung und gerechte Bestrafung der Täter. Insbesondere konnte man den so genannten "Schreibtischtätern" ihr schuldhaftes Verhalten oft nicht so weitgehend nachweisen, dass es für ein strafrechtliches Verfahren ausgereicht hätte. Es gab nur wenige Ausnahmen, wie beispielsweise den Bürokraten Adolf Eichmann.

Die Autorin beschäftigt sich schon lange mit dem Thema "NS-Deutschland".
Sie schrieb sowohl allgemein gehaltene Texte zum Zeitgeschehen, als auch spezifisch an einzelnen NS-Größen orientierte Bücher. Im vorliegenden Buch zeigt sie in Interviewform die Greueltaten der Täter und den damit verbundenen, von Mitschuld zu befreien suchenden, Verdrängungseffekt auf. Auch hier geht sie in die Jugendzeit der NS-Täter zurück, um die Ursachen zu erforschen. Wo dies nicht möglich war, wurden Gespräche mit deren Kindern über das frühere Familienleben geführt. Dabei musste festgestellt werden, dass die Nachkommen dieser Personen meist äußerst erschüttert waren und nicht fassen konnten, welch Scheusale ihre NS-Väter, Groß- oder Urgroßväter gewesen waren. Sie fühlen sich heute noch für deren Taten verantwortlich und glauben die Schuld sühnen zu müssen. Beispiele hiezu sind: Martin Bormann, dessen Vater Hitlers Sekretär war: er wurde Priester; weiters der Neffe von Reinhard Heydrich, Thomas Heydrich, der sich als Sänger und Liedermacher auf jüdische Lieder spezialisierte.

Im großen Ausmaß und fast bis ins kleinste Detail gehend wird über die vier Vernichtungslager (Treblinka, Sobibor, Lublin, Belzec) in Polen berichtet. Sie wurden unter der NS-Bezeichnung "Aktion Reinhard" geführt. Geleitet wurden sie in oberster Instanz von NS-Polizeichef Globocnik. Die meisten europäischen Juden wurden in diesen Lagern vergast. In Treblinka hatte man unter den Lagerkommandanten Franz Stangl und Kurt Franz täglich 5.000 und mehr Juden ermordet. Der Autorin gelang es, mit Stangl am Ende seines achtmonatigen Gerichtsverfahrens in einem dreiwöchigen Zeitraum ein Interview zu führen. Stangl berief sich, so wie auch andere NS-Täter, auf Befehlsnotstand und Bedrohung seiner Familie. Das Urteil "Lebenslänglich" musste Stangl nicht mehr absitzen, denn er verstarb neunzehn Stunden nach Beendigung des letzten Interviewtages an einem Herzinfarkt.

Die im Buch weiter angeführten Themen berichten über die gefälschten Hitlertagebücher, wobei Konrad Kujan 11 Millionen DM (das sind rund 5.624.200,- EURO) von der Redaktion der Zeitschrift "Stern" ergaunerte; über die in der NS-Zeit gefeierte Schauspielerin Leni Riefenstahl; über Dr. Kurt Waldheims Gedächtnisblockade; über Albert Speer, den Rüstungsminister von Hitler; über die Jagd auf Globocnik, so wie den Fall John Demjanjuk.

Insbesondere der Fall Demjanjuk verdient meines Erachtens eine nähere Betrachtung, da er die Problematik der strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Zeit exemplarisch dokumentiert. Und zwar anhand eines Mannes, der aus Gründen des fahrlässigen und mutwilligen Umgangs mit - teils gefälschtem - Belastungsmaterial in einem israelischen Gefängnis als NS-Verbrecher einsaß, dem aufgrund dieser zweifelhaften Beweislage der Prozess gemacht wurde und dessen Unschuld (die offenbar aus dem großen Leid und einem daraus entstandenen Rachebedürfnis heraus unerwünscht war) sich letztlich nur mühselig gegen stärksten Widerstand nachweisen ließ.
Zum chronologischen Ablauf des Geschehens: In amerikanischen Einwanderungslisten schien ein John Demjanjuk auf, der in seinen Papieren als letzten Aufenthaltsort Sobibor angegeben hatte. Über amerikanische Recherchen identifizierten viele Jahre später Überlebende von Treblinka und Sobibor auf Fotos diesen John Demjanjuk als Ivan Demjanjuk. Diesen wohl zu leichtfertigen Identifizierungen saßen die amerikanischen Behörden auf. Sie hoben wegen vermutlicher Namensfälschung die "John" Demjanjuk gewährte Einbürgerung auf und verhafteten ihn. Da man in Amerika einen Prozess gegen Demjanjuk nicht durchführen wollte, wurde die Auslieferung nach Israel veranlasst, um ihm dort den Prozess zu machen. Als Prozessunterlagen der Anklage wurden angebliche Originaldokumente und Ausweise, die vorgeblich aus russischen KGB-Archiven zur Verfügung gestellt worden waren, verwendet. John Demjanjuk wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, obwohl er immer beteuerte, nicht Ivan Demjanjuk zu sein. Erst im vierjährigen Berufungsverfahren wurde festgestellt, dass die vorgeblichen Ausweise und Urkunden des KGB Fälschungen waren. Der richtige Ivan Demjanjuk, welcher wegen seiner Gefangenenquälereien als "Ivan von Treblinka" oder "Ivan der Schreckliche" zu trauriger Berühmtheit gelangt war, weilte zum Zeitpunkt des Gerichtsverfahrens nicht mehr unter den Lebenden.

Einzelne Täter konnten abgeurteilt werden, andere richteten sich selbst bzw. kamen bei militärischen Aktionen ums Leben. Zurück blieben jedoch die "hässlichen Deutschen". Die Väter, Großväter und Urgroßväter waren im Hitlerdeutschland oft Sympathisanten oder Mittäter gewesen. Ihre Nachkommen verspüren noch heute unverdiente Schuld auf sich lasten.
Politiker können sich über die Grenze hinweg die Hände reichen. Für die Bürger des jeweiligen Landes gilt dies nicht in dem Ausmaß. Zum Beispiel werden die in Frankreich, England oder Amerika tätigen deutschen Aupairmädchen immer noch wegen geringer Verfehlungen manchmal gleich als Nazis verunglimpft. Die meisten Deutschen verspüren bis heute die lastende Kollektivschuld, welche der deutschen Nation als Schandmal eingebrannt scheint. Bei Auslandsreisen, besonders nach Frankreich und in die USA verspüren selbst wir Österreicher, als Folge unserer deutschen Sprache, oftmals Reserviertheit und unmutige Reaktionen der dortigen Bevölkerung. Erst wenn man sich als Österreicher deklariert, darf man mit mehr Wohlwollen rechnen.

Das Buch hat nicht nur den Titel " Das deutsche Trauma" sondern zeigt auch, dass die den Europäern durch den Wahn der NS-Zeit und den nationalsozialistischen Kriegsimperialismus zugefügte Traumatisierung noch lange nicht hinreichend aufgearbeitet ist, obwohl immerhin schon knapp sechs Jahrzehnte seit Kriegsende vergangen sind. Die Wunde, welche der große europäische Bürgerkrieg den Völkern in Europa zugefügt hat, mag zwar langsam heilen; wirklich verheilt scheint sie jedoch noch lange nicht. Das Buch von Frau Sereny ist ausgesprochen lesenswert, hochinteressant und gut fundiert. Es zeigt Tatsachen auf, die viele wohl ahnten, die aber bis zum heutigen Tag von allzu vielen bewusst nicht zur Kenntnis genommen werden wollen.

(Hans Schulz; 05/2002)


Gitta Sereny: "Das deutsche Trauma. Eine heilende Wunde"
Gebundene Ausgabe. Verlag C. Bertelsmann, München, 2002.
448 Seiten. ISBN 3-570-000558-5.
ca. EUR 24,90.
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