Steffen Radlmaier: "Der Nürnberger Lernprozeß"

(Hörspielrezension)


Vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 tagte im Schwurgerichtssaal 600 des Nürnberger Justizgebäudes das Internationale Militärtribunal. Über 350 Journalisten und Rundfunkreporter beobachteten das Geschehen, um der heimischen Öffentlichkeit von den Vorgängen im Nachkriegsdeutschland zu berichten. Die vorliegende CD versammelt Beiträge von insgesamt 15 als "Starreporter" titulierten Personen. Was seinerzeit in dem mittlerweile zu "Berühmtheit" gelangten Schwurgerichtssaal 600 geschah, wird für den Zuhörer lebendig.

Die ungeheuren Taten der Nazi-Schergen tauchen aus zahlreichen Schilderungen an die Oberfläche. Janet Flanner gibt Zeugnis davon ab, dass Fotomaterial gezeigt worden sei, welches u.a. Angehörige der Wehrmacht ins Bild setze, die neben gehängten "Aufständischen" stehen, wobei den zu Tode gemarterten Menschen Zigaretten in ihre Münder geschoben worden waren. Die Soldaten lachen. Verteidiger der Hauptangeklagten agieren häufig mit hanebüchenen Strategien, indem sie das Ungeheuerliche durch metaphorische Arschkriecherei (Gregor von Rezzori) zu relativieren suchen. Dagegen revoltiert sogar Rudolf Heß, der sich auf seine eigene Art und Weise "verantworten" will und dabei eine lächerliche Figur abgibt.

W.E. Süskind setzt sich mit Feldmarschall Keitel auseinander, der lapidar meint, er wäre ja nur ein Soldat gewesen, und habe Befehle ausgeführt. Zudem sagt der später zum Galgen Verurteilte, ein Soldat habe ein verschenktes Eigenleben. Keitel beschönigt nichts; er wälzt so wie nahezu alle Anderen die alleinige Schuld insbesondere auf Hitler und Goebbels. Er ist nicht einsichtig genug, seinen extremen Machtwillen darzustellen, worauf der ganze Wahnsinn resultierte. Es war nicht nur reine "Ja-Sagerei", die den "einfachen" Soldaten kennzeichnen mag, der dennoch die Möglichkeit hat, Befehle abzulehnen, welche ihm nicht geheuer vorkommen, sondern zudem ein Wahn, Teil einer Maschinerie zu sein, die die ganze Welt unterjochen mochte; und die "Endlösung" der Judenfrage wie einen bürokratischen Akt behandelte. Der mehrfach wiederholte Hinweis, er sei ein einfacher Soldat gewesen, wäre gut als Karikatur verwendbar, wenn es nicht um derartig traurige Umstände ginge.

Robert Jungk, der späterhin als Zukunftsforscher tätig gewesen ist und im Jahre 1992 für die Grünen Kandidat bei der Wahl zum österreichischen Bundespräsidenten war (er erhielt 5,7 Prozent der Stimmen), beschäftigte sich mit einem Faktum, über das in den Geschichtsbüchern nur wenig zu stehen scheint. Nach der sogenannten Reichskristallnacht, die einen vernichtenden Schlag gegen das gehasste Judentum einleiten sollte und darin ausartete, Tausende jüdische Kultureinrichtungen und Geschäfte zu zerstören (die Presse schrieb am nächsten Tag hetzerisch: "Des Volkes Zorn nahm Vergeltung an den jüdischen Ladengeschäften, denen größtenteils sämtliche Fenster eingeschlagen wurden"), geschah das Wohlbekannte. Allerdings berichtet Jungk davon, dass viele Juden darauf pochten, für den Schaden, der angerichtet worden sei, entschädigt zu werden; schließlich gäbe es Versicherungen. Göring wollte nichts davon wissen, den Juden den entstandenen Schaden zu ersetzen. Die Versicherungsprämien sah er andererseits als gerechtfertigt. Es ist eine unfassbare Tatsache, dass sämtliche Prämien direkt ans Finanzministerium flossen. Das Reich selbst erhielt also Prämien für das, was es angerichtet hatte.

Willy Brandt leistete im Jahre 1970 mit seinem Kniefall vor dem Ehrenmal des jüdischen Ghettos in Warschau stumme Abbitte für die von Deutschen und im Namen Deutschlands verübten Gräuel während des "Dritten Reiches". Er berichtete als Korrespondent für skandinavische Zeitungen in Deutschland über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Wie vielleicht kein anderer der Berichterstatter setzte er sich mit den Eigenarten der verschiedenen Angeklagten auseinander (in Bezug auf die Körpersprache war John Dos Passos besonders genau). Den ehemaligen Gau-Leiter in Wien, Schirach, beschrieb er als kultivierten Menschen, der sich ebenso wie Hans Frank, der Henker von Polen, als Opfer präsentierte, das von nichts gewusst habe. Ein amerikanischer Gerichtspsychiater habe mit den Angeklagten Intelligenztests gemacht, wobei Göring ausgezeichnet abschnitt. Julius Streicher hingegen erwies sich als widerwärtiger Mensch, der behauptete, Zionist zu sein, und bekam ein Intelligenzniveau auf dem untersten Niveau attestiert. Es sei also wohl möglich, über eine weit überdurchschnittliche Intelligenz zu verfügen und gleichzeitig als Nazi-Scherge für unfassbare Verbrechen verantwortlich zu zeichnen. Göring erwähnte im Laufe des Prozesses auch: Ich weiß, dass ich gehängt werde. Tatsächlich entging er seiner Hinrichtung am 16.10.1946, indem er nur wenige Stunden vor dem Termin eine vorbereitete Zyankalikapsel schluckte.

Mit dem Führer der Hitlerjugend, Schirach, setzt sich Elsa Triolet auseinander. Schirach zeigte sich als einer der wenigen Angeklagten einsichtig und bekannte, welch wahnsinnige Verbrechen im Dritten Reich geschehen seien. In seiner Eigenschaft als Führer der Hitlerjugend sagte er jedoch weiters: "Die deutsche Jugend wollte nicht die Ausrottung des Judentums." Er trat als Zeuge für oder gegen Höß auf und bezeichnete diesen tatsächlich nur als Henker von Auschwitz. Ansonsten versuchte er mit psychologischen Erklärungsmustern zu brillieren.

Den Hass der Sowjetvölker in Gestalt des sowjetischen Hauptanklägers Rodenko artikuliert Yaroslav Halan, wobei er dem General Rosen streuen mag. Janet Flanner beschreibt Göring als dem amerikanischen Hauptankläger Jackson rhetorisch überlegen, wodurch eben Rodenko und auch der Brite Maxwell als Beistand herangezogen werden, um eventuell ein Geständnis von Göring zu erwirken.

Erika Mann schrieb von der Behauptung des Angeklagten Schacht (der als eine von drei Personen schließlich freigesprochen worden war), er sei selbst im KZ gewesen. Dies gibt er zu Protokoll, nachdem er grauenhafte KZ-Filme gesehen hat. Heß hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt gelangweilt und habe sich erfreut gezeigt, endlich etwas zu sehen zu bekommen.

Heß wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Von den absurden Eigenheiten Heß' handelt auch der längste Bericht, der von Gregor von Rezzori verfasst worden ist. Heß sah sich als reines Opfer von Missverständnissen, das bloß Befehle empfangen und Funktionärspflichten ausgeführt habe.

Komplettiert werden die Kommentare der Reporter durch die Nürnberger Nachrichten, welche etwa darüber informierten, dass sich alle Angeklagten unschuldig bekannten, und sie (siehe Heß) bloß Befehlsempfänger gewesen seien, die nichts von den Gewalttaten wussten.

Schließlich wurden zwölf Todesurteile ausgesprochen (darunter auch Rosenberg, Saukel, Bohrmann und Seys-Inquart). Neben Heß wurden Funk und Reeder zu lebenslanger Haft verurteilt. Schirach und Speer bekamen 20 Jahre Haft. Drei Personen wurden, wie bereits geschrieben, freigesprochen.

Die Presse zeigte sich nach den Urteilssprüchen gespalten. Manche hielten die Urteile für zu milde; andere (Südafrika) meinten, die Urteile seien viel zu hart ausgefallen.

Das Bild, welches von den Geschehnissen im Schwurgerichtssaal 600 mit dieser Doppel-CD vermittelt wird, ist gespenstisch und aufklärerisch gleichermaßen. Es wird nicht nur deutlich, mit welcher Inbrunst die angeklagten Nazi-Schergen sich aus der Verantwortung für ihre Taten ziehen wollten, sondern ebenso, wie differenziert die Berichterstattung über die Prozesse gewesen ist.

Insbesondere die "Ja-Sager"-Mentalität, die dem Krieg und somit auch den unfassbarsten damit verbundenen Verbrechen immer wieder in die Schuhe hilft, kroch wie ein schauriges, missgebildetes Insekt in die Ohren des Rezensenten und führte zu innerem Unbehagen. Es ist also keineswegs leicht, dieser CD zu lauschen. Aber es ist auf alle Fälle gewinnbringend, da wir als Nachgeborene des Wahnsinns dazu aufgerufen sind, derartigem Irrsinn, insofern er - wann und wo immer - auch nur andeutungsweise auftreten mag, mit Zivilcourage entgegen zu treten.

Die Sprecher Sascha Icks, Josef Tratnik und Wolf Frass haben hervorragende Arbeit geleistet. Sie tragen sehr viel Anteil daran, dass dieses Dokument des Nürnberger (Lern)Prozesses einen wertvollen Beitrag dazu leistet, möglicherweise bislang schleierhafte Phänomene aufzuklären.

(Jürgen Heimlich; 10/2005)


Steffen Radlmaier: "Der Nürnberger Lernprozeß"
Sprecher: Wolf Frass, Sascha Icks, Josef Tratnik.
Eichborn / LIDO, 2005. 2 CDs; Laufzeit ca. 148 Minuten.
ISBN 3-8218-5393-X.
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Buchausgabe:
Steffen Radlmaier (Hrsg.) "Der Nürnberger Lernprozeß"
Von Kriegsverbrechen und Starreportern
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb das Nürnberger Tribunal ein neues Kapitel in der Geschichte des Völkerrechts. Wenige erinnern sich heute noch daran, wie es dabei zuging. Der Prozess gegen die Nazi-Größen war ein Medienereignis erster Ordnung. Scharen von Reportern brachen 1945/46 in die zertrümmerte Stadt ein, unter ihnen Willy Brandt, der für die skandinavische Presse schrieb, und der Amerikaner William Shirer. Selbst China hatte einen Berichterstatter entsandt.
Aber vor allem waren Schriftsteller aus der ganzen Welt angereist: Ernest Hemingway und Erika Mann, Ilja Ehrenburg und Louis Aragon, John Steinbeck, Erich Kästner, Konstantin Fedin, Robert Jungk, Martha Gellhorn, Victoria Ocampo, Peter de Mendelssohn, Rebecca West, John dos Passos ... Eine glänzende Liste, die sich fortsetzen ließe.
Die Berichte dieser Autoren sind seither in Vergessenheit geraten. Steffen Radlmaiers Recherche zeigt, dass sie mehr als alle Prozessakten über die Atmosphäre und die Wechselfälle des Prozesses sagen. Es sind Impressionen aus erster Hand. Das Weltgericht tagte nicht nur im Schwurgerichtssaal 600, sondern auch, bei Whisky und Wodka, im Bleistiftschloss der Faber-Castell, das als internationale Presse-Unterkunft diente. Die Unmittelbarkeit dieser Zeugnisse versetzt den Leser in eine Zeit, von der sich die Nachgeborenen kaum eine Vorstellung machen können.
Für die Chronologie der Ereignisse sorgen Meldungen aus der Tagespresse. Auf diese Weise vergegenwärtigt das Buch auch den Verlauf des Prozesses und das Ende der Angeklagten. (Eichborn)
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