Ulrich Ritzel: "Uferwald"


Auf Gleis 1 des Hauptbahnhofs schlossen sich die Türen des ICE, fast unmerklich setzte sich der Zug in Bewegung, Kriminalkommissarin Tamar Wegenast, eine groß gewachsene, schlanke Frau, hob den Arm und winkte. Sie war noch jung und trug langes, dunkles, hochgestecktes Haar.
"Und du glaubst wirklich, dass der jetzt weg ist ?", fragte der Mann neben ihr. Tamars Kollege Markus Kuttler war kleiner als sie und hatte ein Gesicht, das sich niemand merken konnte. "Einfach weg und nicht mehr da?"
"Kuttler, halt's Maul", antwortete Tamar und winkte weiter.
Ein Mobiltelefon klingelte. Der Zug verschwand in der Kurve, die ostwärts am Michelsberg vorbeiführt.
(S. 11)

Der alte, kantige und knorrige Kommissar Hans Berndorf, sympathische Hauptfigur von Ulrichs Ritzels ersten vier in gebundener Ausgabe beim kleinen aber feinen Libelle Verlag erschienenen Romanen, tritt endgültig ab.
Ob es einen direkten Zusammenhang mit Ritzels Wechsel zu btb gibt, wo die Taschenbuchausgaben seiner erfolgreichen Bücher schon bisher Jahre erschienen, und die es letztlich waren, die ihn einem größeren Publikum bekannt machten, ist unbekannt. Vielleicht hatte der Autor auch selbst genug von seinem Protagonisten und hätte ihn so oder so in den endgültigen Ruhestand nach Berlin geschickt.

Von wo man ihn ja auch bei Bedarf für kurze Einsätze wieder zurückholen kann, wenn man will. Im neuen, ersten Roman ohne Berndorf kommen seine beiden Kollegen, die man aus den ersten Büchern kennt, zweimal kurz in diese Versuchung, entscheiden sich dann aber dagegen.

Markus Kuttler und seine Kollegin Tamar Wegenast lassen in "Uferwald" den alten Mann nicht vermissen. Ulrich Ritzel setzt seine Tradition fort und lässt seine Polizisten immer auch etwas abseits der üblichen Dienstwege und jenseits der klassischen, durch Dienstvorschriften festgelegten Regeln ermitteln. So auch bei diesem Fall, der mit dem anfangs zitierten Anruf auf Tamar Wegenasts Handy beginnt.

Eine alte Frau ist tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden. Kuttler und Wegenast klären die Zuständigkeit mit ihrem üblichen Schnipp-Schnapp-Schnupp, und wie meistens verliert Kuttler und beginnt zunächst alleine, sich um die Sache zu kümmern.

Die Tote, eine Charlotte Gossler, Mieterin einer Wohnung der Gemeinnützigen Heimstätten in Ulm, lag seit Monaten in der Wohnung, im Zimmer ihres vor Jahren bei einem ungeklärten Unfall ums Leben gekommenen Sohnes Tilman. Erst ein ungelenker Brief der Tochter eines türkischen Nachbarn an die Hausverwaltung, der von dieser aber wochenlang verschlampt wird, lenkt die Aufmerksamkeit auf Charlotte Gossler.

Kuttler findet in Tilmans Zimmer ein Tagebuch, in dem Tilman Gossler von einer Clique erzählt, zu der auch Luzie Haltermann gehörte, jetzige Assistentin der Geschäftsleitung der Gemeinnützigen Heimstätten, die sich für das Versagen ihrer Kollegin verantwortlich fühlt und die Beerdigung von Charlotte Gossler organisiert.

Und nun gerät Kuttler und später auch Tamar Wegenast, die ihren Kollegen zunächst mit der Lektüre des Gosslerschen Tagebuchs auf illegalen Abwegen wähnte, in eine Geschichte einer Clique, eine Geschichte von schwierigen, konfliktbeladenen Beziehungen, die ihre Wirkung bis in die Gegenwart zeigen.

Hier erinnert die Konstruktion des Romans den Rezensenten an Anne Chaplets gleichzeitig entstandenes, hervorragendes neues Buch "Sauberer Abgang", worin auch eine alte Clique in mysteriöse Todesfälle verwickelt ist. Bei Chaplet liegen über zwanzig Jahre dazwischen, hier bei Ritzel nur etwa fünf.

Um die Spannung dieses herausragenden Buches von Ulrich Ritzel nicht aufzulösen, soll der Handlungsfaden nicht weiter beschrieben werden. Dem 1940 in Pforzheim geborenen Autor Ulrich Ritzel ist es gelungen, Menschen zu beschreiben, ihre Schicksale zu dokumentieren und zu zeigen, dass die Vergangenheit eben nicht vergeht, sondern mit einem Mal, durch Zufall, durch die Entdeckung eines unbekannten Tagebuchs, Dinge und Vorgänge ans Licht kommen, die sonst für immer unentdeckt geblieben wären, so auch die wahren Umstände des Unfalls von Tilman Gossler.

Für alle, die auch an der "privaten Geschichte" von Kuttler und Wegenast Interesse haben, sei erwähnt, dass sie am Ende beide neue Liebes- und Beziehungsfäden knüpfen. Kuttler freundet sich mit einer Frau aus der ehemaligen Clique an, und Tamar trifft ihre alte Freundin und große Liebe wieder. Wie es weitergeht?
Warten wir mit Spannung und Vorfreude auf das nächste Buch.

(Winfried Stanzick; 03/2006)


Ulrich Ritzel: "Uferwald"
btb Verlag, 2006. 384 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Schlangenkopf"
Eine Frühlingsnacht in Berlin. Ein junger Mann geht am Alten Garnisonsfriedhof vorbei, ein Landrover lauert im Dunkel und nimmt langsam Fahrt auf, am Ende liegt ein Toter auf der Straße - und Ex-Kommissar Hans Berndorf, mittlerweile Fachmann für private Ermittlungen, scheint als Einziger an der Auflösung dieses Verbrechens interessiert. Besonders brisant: der Tote war vermutlich Opfer einer Verwechslung, die eigentliche Zielperson schwebt immer noch in höchster Gefahr. Als Berndorf dies begreift, ist er selbst schon ins Visier von Leuten geraten, die drei Nummern zu groß für ihn sind. Die es nicht zulassen, dass die lukrative Endabwicklung der glänzenden Geschäfte, die sie im zurückliegenden jugoslawischen Bürgerkrieg getätigt haben, von einem ausgedienten Polizisten durchkreuzt wird.
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Doch Berndorf, zwischen Montaigne-Lektüre, nächtlichen Ferngesprächen mit seiner Liebsten und maßvollem Whiskygenuss unbeirrbar an jener Aufklärung interessiert, die in der Nachkriegszeit verhindert wurde, lässt sich nicht einschüchtern und ermittelt heimlich weiter. Mit von der Partie ist dabei seine Assistentin Tamar, die ihrem (kritisch verehrten) Chef gegen den Druck des Apparats unerschrocken beisteht, obwohl sie mit der Tochter des Mörders in eine Serie verwirrender Begegnungen gerät.
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"Schwemmholz"
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Der Mann, der sich im "IC Alpenland" um Kopf und Kragen redet und eingeholt wird von einer alten Schuld. Die reizende Schwiegermutter, die anhebt, ihren Sohn zu verteidigen, und fast wider Willen ein grässliches Geschehnis offenbart. Der von der Vergangenheit gequälte Inhaber der Pension "Halders Ruh", einst Dienststellenleiter im Jugendamt und Liebhaber von Modelleisenbahnen. Sie alle tragen Geheimnisse in sich, die sie lieber verdrängen und über die sie schließlich stolpern. Ulrich Ritzels Erzählungen sind wie kleine Krimis, die noch lange nachwirken, nachdem man sie zu Ende gelesen hat.
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"Trotzkis Narr" zur Rezension ...