Leseprobe
aus dem Roman "XY" von Sandro Veronesi:
ERSTER TEIL
Ein Geschehen kann schon allein deshalb nicht wie eine
Rechnung aufgehen, weil wir nie alle notwendigen Faktoren kennen,
sondern nur einige wenige, meistens recht nebensächliche. Auch
spielt das Zufällige, Unberechenbare, Inkommensurable eine zu
große Rolle.
FRIEDRICH DÜRRENMATT
Das Schicksal ist nicht unsichtbar
Borgo San Giuda war nicht einmal mehr ein Dorf, es war ein Weiler.
Vierundsiebzig Häuser, davon mehr als die Hälfte
verlassen, eine Bar, ein Lebensmittelgeschäft und die Kirche
mit ihrem Pfarrhaus - unverhältnismäßig
groß im Vergleich zum Rest. Ende. Kein Zeitungskiosk, kein
Friseur, keine Ambulanz, keine Grundschule; dafür und
für alle anderen Errungenschaften der Zivilisation musste man
nach Serpentina durch den Wald fahren oder nach Doloroso, nach
Massanera, nach Gobba Barzagli, nach Fondo, nach Dogana Nuova oder
geradewegs hinunter nach Cles. Doch es gab einen Schmied, Wilfred, der
Riesenkräfte hatte und wie Mangiafuoco, der Puppenspieler aus
Pinocchio,
aussah, und einen Friedhof mit mehr als dreihundert Gräbern.
Dort zu leben ergab keinen Sinn, doch wir lebten dort, wir waren
dreiundvierzig, eigentlich zweiundvierzig, seit der alte
Rezè gestorben war. Es war ein Ort, der so gut wie nicht
existierte, und niemand wird jemals begreifen, warum das, was geschehen
ist, gerade dort geschehen ist, wo nie etwas geschah.
Das Einzige, was im Winter in San Giuda geschah, war die Ankunft des
Schlittens von Beppe Formento. Die Formentos waren eine der vier
Familien von San Giuda - die mächtigste, könnte man
sagen, wenn es nicht so lächerlich klänge. Sein
Bruder und seine Schwester besaßen die Bar und das
Lebensmittelgeschäft, und ihre Kinder waren die einzigen
jungen Leute, die dort lebten. Die eine, Perla, Tochter von Rina, hatte
der Biathlon-Nationalmannschaft angehört und auch eine
Medaille im Staffellauf gewonnen; der andere, Zeno, Sohn von Sauro, war
ein vielversprechendes Talent im Skispringen gewesen, doch dann hatte
er damit aufgehört. Beppe Formento liebte Pferde und
besaß ein Reitzentrum in der Nähe von Serpentina; im
Sommer kamen Urlauber, um Pferde für Ausritte zu mieten, und
im Winter gelang es Beppe im Rahmen der weißen Wochen, ein
Dutzend Touristen pro Tag für eine Fahrt mit dem
Pferdeschlitten zu begeistern: Alte, Mütter und kleine Kinder,
die den Prospekt in den Hotels der Region fanden und beschlossen, sich
einen Ausflug wie im 19. Jahrhundert zu gönnen. Die Strecke
war immer die gleiche: vom Reitzentrum hinauf zur stillgelegten
Skischanze, von dort durch den Wald bis zu dem vereisten Baum (er
vereiste ihn selbst jedes Jahr mit der Schneekanone, um seine Kunden in
die richtige Stimmung zu versetzen) und dann direkt nach San Giuda und
zurück. Jeden Vormittag, pünktlich um zehn, brachte
Beppe Formento den Schlitten auf dem Dorfplatz zum Halten, stieg aus,
kündigte einen Aufenthalt von zwanzig Minuten an, und die
frierenden Touristen flüchteten sich in die Bar seines
Bruders, um einen
Espresso
oder Cappuccino zu trinken. Mit einem Gepäckkarren auf Kufen,
der an den Schlitten angekoppelt war, brachte er jeden Morgen frisches
Gemüse und Fleisch, Mineralwasser, Milch, Kaffee, Nudeln,
Käse, Wein und Getränke zum Laden seiner Geschwister.
Während die Touristen sich stärkten, lud er die Waren
ab und empfahl allen, vor der Abfahrt noch die Kirche zu besichtigen;
die Touristen hörten jedes Mal brav auf ihn, und jetzt kam ich
ins Spiel: Ich nahm sie am Portal in Empfang und zeigte ihnen das
hölzerne Kruzifix aus dem 15. Jahrhundert, die
spätgotische Kanzel mit ihren Basreliefs, die Statue der
Madonna delle Selve und die unseres Heiligen, über den ich
ihnen erzählte, was es zu erzählen gab: der heilige
Judas Thaddäus (alle glauben immer, es handele sich um Judas
Ischariot, den
Verräter), Apostel, Bruder von Jacobus dem
Jüngeren und Cousin von Christus, gestorben als
Märtyrer im Orient, Beschützer der Enterbten und
aller, die ohne Hoffnung sind. Manchmal waren meine Worte inspirierter,
oder unter den Touristen gab es tatsächlich ein paar
Verzweifelte, und dann verloren wir etwas Zeit, weil jemand vor der
Statue niederkniete und das Gnadengebet sprach. Ein
wunderschönes Gebet übrigens. Dann stiegen alle
wieder auf den Schlitten, Beppe Formento ließ die Peitsche
knallen, und die beiden Pferde, Zorro und Malinda, setzten sich unter
Glockengeläut wieder in Bewegung in dem leichten und anmutigen
Trab, den Beppe Formento ihnen beigebracht hatte. Buck, der deutsche
Stallbursche, blieb noch etwas in der wohlig warmen Bar, bevor er
losgaloppierte, um den Schlitten vor der Biegung zum Wald zu erreichen,
und das wiederholte sich, von Dezember bis April, jeden Vormittag,
einschließlich sonntags. Nachmittags kehrte Beppe Formento
nie ins Dorf zurück; er hatte immer eine Menge im Reitzentrum
zu tun, und seit ihm jemand vor Jahren eines Nachts alle
Sättel und das gesamte Zaumzeug aus dem Stall gestohlen hatte,
schlief er dort in einer Kammer hinter dem Büro.
Das sollte genügen, um eine Ahnung davon zu vermitteln, wie
entsetzt wir an jenem Morgen waren, als der Schlitten um zehn auf den
Platz kam, pünktlich wie immer, aber leer. Kein Beppe
Formento, keine Malinda, keine Touristen, kein Anhänger mit
den Lebensmitteln und kein Buck als Nachzügler. Nur der
Schlitten, gezogen im Galopp von Zorro, mit schauerlichem
Glockengeklirre, das uns alle, die wir es hörten, sofort
misstrauisch machte. Es heißt, das Schicksal sei unsichtbar,
doch zumindest dieses eine Mal hätte es für uns nicht
auffälliger sein können. Dieser Augenblick
veränderte unser aller Leben, jeder erkannte es, und keiner
von uns wird es jemals vergessen können; immer werden wir uns
daran erinnern, was wir gerade taten (ich zum Beispiel kochte
Orangenmarmelade) und wie schnell wir hinausliefen, obwohl es heftig
schneite. Und keiner von uns, die wir auf den Platz liefen, wird je die
Augen dieses armen Pferdes vergessen, seinen völlig
verängstigten Blick und die - glauben Sie mir - menschlichen
Zuckungen seines verstörten Mauls. Wenn je ein Tier kurz davor
war zu sprechen, dann Zorro an diesem Morgen; doch selbst wenn er
fähig gewesen wäre zu sprechen, hätte er
wohl nicht die Worte gefunden, denn für das, was er
hätte sagen müssen, gibt es keine Worte.
Blut. Auf den Laken, auf dem Kissen, überall. Bin ich ermordet
worden? Sind sie eingedrungen, während ich schlief, um mir die
Kehle durchzuschneiden? Mein Herz schlägt wie wild, ich habe
Angst; ich habe Angst zu entdecken, dass ich ermordet worden bin. Und
doch muss ich hinschauen, mich vergewissern. Dabei geht es mir gut, ich
fühle mich wohl; möglicherweise ist es gar nicht mein
Blut. Aber von wem dann? Das macht mir noch mehr Angst. Ich stehe auf,
es ist kalt. Wie spät ist es? 10 Uhr 45 - das heißt,
in Wirklichkeit 9 Uhr 45, denn ich habe den Radiowecker nicht auf die
Winterzeit umgestellt, ich habe so gut wie nicht geschlafen - und das
Blut da auf dem Bett, auf dem Kissen ist mein Blut. Aber ich lebe, ich
stehe aufrecht da, ich habe keine Schmerzen. Das Blut ist an der Hand,
der linken, an den Fingern - und es ist frisches Blut. Ich muss mich
hinsetzen, ich bin kurz davor, ohnmächtig zu werden. So war es
schon immer. Auch an der Universität wurde ich beim Anblick
von Blut ohnmächtig. Im Sitzen ist es besser. Ich sollte einen
Blick in den Spiegel werfen, aber ich habe Angst, dass ich auch im
Gesicht Blut habe. Entstellt könnte ich nicht leben. Aber
entstellt von wem? Alberto? Er hat immer noch den Schlüssel;
er ist wahnsinnig geworden, er ist gekommen, während ich
schlief, und hat mich - so ein Unsinn! Der arme Alberto, wie komme ich
bloß auf so was? Aber irgendetwas ist geschehen, da ist Blut
auf den Laken, auf dem Kissen, an der Hand - rot, frisch. Es tropft
immer noch von der Hand, auf dem Fußboden sind Blutstropfen.
Ich muss unbedingt hinschauen, muss mich vergewissern, ich darf nicht
ohnmächtig werden. Bin ich Ärztin oder nicht? Nur
Mut: die Hand, die linke Hand. Ja. Die Finger. Der Zeigefinger vor
allem, auf dem Fingerglied - o Gott, nein. O nein! Die Narbe. Wie ist
das möglich? Wie zum Teufel ist das möglich? Und doch
ist es so, die Narbe ist wieder aufgebrochen. Aber es ist nicht
möglich, dass sie wieder aufgebrochen ist - seit wann? Es war
das letzte Jahr der Wettkämpfe, ich war sechzehn - nach
fünfzehn Jahren. Aber es ist die Narbe, diese Narbe. Ja, sie
ist es. Sie ist tatsächlich wieder aufgebrochen, sieh nur hin.
Man kann den Knochen sehen, o Gott, wie damals, als ich mich
geschnitten hatte, vor fünfzehn Jahren - ich fühle
mich schlecht, ich werde ohnmächtig. Man kann den Knochen
sehen, das Blut fließt in Strömen, ich
fühle mich schlecht, aber ich muss es stoppen, ich muss etwas
tun, ein Taschentuch nehmen, ja, genau, es fest um den Finger wickeln,
es zusammenschnüren, klar - aber womit? Das Haargummi, nein,
das hält nicht; die Pflaster im Bad wären nicht
schlecht, aber im Bad hängt der Spiegel, und ich habe Angst,
in den Spiegel zu blicken: Wenn ich entstellt bin? Doch ich muss es
tun, und zwar schnell, sonst verblute ich noch. So, jetzt bin ich im
Bad. Jetzt blicke ich in den Spiegel. Nichts, das Gesicht ist in
Ordnung, abgesehen von den Augenringen und der Leichenblässe -
kein Wunder, ich bin kurz vorm Verbluten. Doch nein, ich halte durch,
ich atme und halte durch, nehme das Pflaster aus dem
Schränkchen, nein, besser das Heftpflaster, ja, so ist es gut
fixiert, das Taschentuch ist schon ganz blutgetränkt. Und was
mache ich jetzt? Ich atme, kehre ins Schlafzimmer zurück und
setze mich aufs Bett. Ich atme.
Yoga.
Ein. Aus. Ein. Aus. Wie geht das Mantra noch? Soham, glaube ich. Ja,
richtig. Soham. Sieh dir das an, was für ein Blutbad, es sieht
wirklich aus, als hätten sie mir die Kehle durchgeschnitten.
Was soll ich tun? Ich werde in die Notaufnahme gehen, Crocetti hat
Dienst, er ist gekommen, als ich ging, wir sind uns in der
Eingangshalle begegnet; er wird sich darum kümmern. Aber
dafür muss ich mich anziehen und werde alles blutig machen,
ich muss den Jogginganzug anziehen, das Sweatshirt, etwas, das leicht
zu waschen ist - aber wieso mache ich mir darüber
überhaupt Gedanken? Ich muss aufpassen, dass ich nicht
verblute. Ich muss mich beeilen, gleich werde ich ohnmächtig,
aber ich darf nicht ohnmächtig werden, ich muss rausgehen,
aber vorher muss ich die Schlüssel nehmen, ja, und das Handy,
und atmen, tief durchatmen - Soham - und mich auf den Weg machen, mit
Anorak und Mütze. Es schneit immer noch, ich kann nicht zu
Fuß gehen. Ich muss es mit dem Wagen riskieren. Ich muss so
schnell wie möglich zu Crocetti, er wird mich nähen.
Mist, der Clio ist zugeschneit, wie viel wird in anderthalb Stunden
gefallen sein? Mindestens zehn Zentimeter. Komm schon, Giovanna, rein
in den Wagen. Los, starte den Motor. Schalte den Scheibenwischer ein.
Ja, gut so. Und atmen, nicht den Finger anschauen, und erst recht nicht
das blutgetränkte Taschentuch; stell lieber die Klimaanlage
an, die Scheiben beschlagen. Okay. Und jetzt fahr vom Parkplatz,
vorsichtig, ganz langsam, den Fuß nur leicht aufs Gaspedal.
Wenigstens ist die Straße geräumt, die
Schneeräumer sind unterwegs, und los, langsam, vorsichtig, in
den Spuren der anderen Fahrzeuge. Ja, genau so, ja nicht ruckartig
fahren, ja nicht bremsen - zum Glück sind nicht viele Leute
unterwegs. Die Narbe ist wieder aufgebrochen. Wie ist das
möglich? Ich muss mit dem Finger im Schlaf gegen irgendwas
gestoßen sein, irgendwas Scharfes, keine Ahnung, auf dem
Nachttisch, schau auf die Straße, nicht ruckartig in die
Kurve, ganz weich, ja, genau so, oder am Kopfende des Bettes, ein
Schlag beim Umdrehen im Schlaf, ja, gegen irgendetwas Scharfes.
Vorsicht, der Bus. Nicht überholen, dahinter bleiben. Lass die
Leute aussteigen, warte, bis er losgefahren ist. Nein. Nach
fünfzehn Jahren kann eine Narbe nicht wieder aufbrechen, so
tief und präzise wie - mein Gott, beim Gedanken daran werde
ich ohnmächtig. Atmen, atmen und warum diese Angst? Warum habe
ich solche Angst? Wovor? Soham. Ich bin nicht im Schlaf abgestochen
worden, ich bin nicht entstellt, ich bin nicht ohnmächtig
geworden, und jetzt verblute ich auch nicht mehr, da ist das
Krankenhaus, da ist die Schranke der Notaufnahme. Der Wächter
hat gewechselt, der Glatzkopf hat jetzt Schicht, dessen Schwester
Leukämie hat, die Arme. Er erkennt mich, öffnet die
Schranke, grüßt mich, nach fünfzehn Jahren
kann eine Narbe doch nicht von allein wieder aufbrechen, das kann
einfach nicht sein, wahrscheinlich habe ich nicht richtig hingeguckt,
ich habe mich daneben verletzt, ganz bestimmt, am selben Finger, ich
habe nicht richtig hingeguckt, kein Wunder vor lauter Angst, und ich
habe immer noch Angst. Ah, da ist ja ein freier Platz - aber
vorsichtig, nicht, dass du in den Schneehaufen fährst. Besser
etwas rangieren. Ja, perfekt. Geschafft. Und jetzt aussteigen und
aufpassen, dass du nicht hinfällst auf diesem Schneematsch,
der - verdammt, nicht zu glauben, ich habe keine Schuhe angezogen. Ich
habe die Pantoffeln angelassen, ich bin in Pantoffeln gefahren - diese
grauenvollen Pantoffeln, die Alberto mir geschenkt hat, die mit den
Mickymaus-Ohren. Ich komme mit Mickymaus-Pantoffeln in die Notaufnahme.
Nun ja, nicht mehr zu ändern, ich bin schon drin. Ciao,
Luciano, ciao, Ignazio. Die Krankenpfleger schauen mich
merkwürdig an, aber ich gehe einfach weiter, ich
spüre, dass ich nur einmal versuchen kann, diese
unerklärliche Sache zu erklären, und zwar Crocetti,
während er mich näht. Da ist er schon, vor der
Tür der Notaufnahme, er steht einfach da, kein Notfall,
plaudert mit der hübschen Krankenschwester, wie
heißt sie gleich, Sofia …
"Giovanna", sagt er, als er mich sieht.
"Mario", erwidere ich. Du musst mich nähen."
Sofia wirft einen Blick von der Seite auf das blutgetränkte
Taschentuch und verzieht sich. Wir betreten die Notaufnahme,
Essensgeruch liegt in der Luft, Pasta al forno, und das so
früh am Morgen. Crocetti macht ein besorgtes Gesicht,
vielleicht wegen meines Aussehens, des blutgetränkten
Taschentuchs, der Pantoffeln.
"Lass sehen", sagt er und beginnt den vom Blut
durchtränkten Verband abzuwickeln. "Was hast du da gemacht?"
Und ich, ich schäme mich. Ja. Jetzt, da ein anderer die Wunde
untersucht, jetzt, da die Verantwortung nicht mehr bei mir liegt, kann
ich den Finger mit der Aufmerksamkeit betrachten, die ich vorher nicht
aufzubringen vermochte - und es ist tatsächlich diese Narbe,
die wieder aufgebrochen ist. Kein Zweifel, es ist genau dieser Schnitt,
sauber, tief - zweiter Finger, dorsal, mittlerer Bereich, genau auf dem
Knöchel. Nur dass ich mich jetzt plötzlich
schäme; ja, plötzlich schäme ich mich, ihm
zu sagen, dass eine fünfzehn Jahre alte Narbe wieder
aufgebrochen ist, plötzlich habe ich nicht mehr diese einzige
Möglichkeit, es zu erklären - aber was zu
erklären? Nach fünfzehn Jahren kann eine Narbe nicht
wieder aufbrechen.
"Ich habe mich beim Brotschneiden geschnitten", sage ich. Das Gleiche
sagte ich vor fünfzehn Jahren Mama am Telefon, nachdem ich
genäht worden war. Nur damals stimmte es.
"Schau dir das an", sagt Crocetti und bewegt vorsichtig den Finger.
"Man kann den Knochen sehen. Wie hast du das nur gemacht?"
Wenigstens die Angst ist weg. Sehen wir es positiv: Ich bin nicht mehr
der Ohnmacht nahe, ich werde nicht verbluten. Crocetti hat letztlich
eine beruhigende Wirkung auf mich, mit seiner Glatze, seinen runden
Brillengläsern, seinem gelangweilten Blick, wer
weiß, vielleicht macht er diese Arbeit ja sogar schon seit
fünfzehn Jahren.
Wie ich das gemacht habe?
"Ich habe das falsche Messer benutzt", erkläre ich, "das
für den Schinken. Das Brot war hart, die Klinge ist auf der
Kruste ausgerutscht und zack ..." Wie ich es Mama vor fünfzehn
Jahren erklärte. Nur, damals stimmte es, und ich war sechzehn,
und jetzt bin ich einunddreißig, und ich habe absolut nichts
gemacht - aber das vermag ich ihm nicht zu sagen, denn sie kann nicht
im Schlaf von allein aufgebrochen sein.
Crocetti schüttelt den Kopf.
"Giovanna, Giovanna", sagt er. Was er damit wohl sagen will? Dass ich
ungeschickt bin? Dass ich unreif bin? Leichtsinnig? Gewiss, ihm
müssen alle leichtsinnig vorkommen, schlapp, wie er ist. Aber
gerade deswegen wirkt er ja so beruhigend, weil er schlapp ist.
Derjenige, der mich vor fünfzehn Jahren genäht hat,
sah dagegen wie der Schauspieler Lando Buzzanca aus. Ich erinnere mich
sehr gut.
"Ich nähe dich, wenn du willst", sagt er, "aber es ist
möglich, dass du die Sehne verletzt hast, und in dem Fall ..."
Nein. Lando Buzzanca hatte die gleiche Befürchtung vor
fünfzehn Jahren, in der winzigen Krankenstation von - wo war
es, Val Senales? Es war das Finale der regionalen Meisterschaften, ja,
es war Val Senales. Doch dann stellte sich heraus, dass die Sehne nicht
verletzt war.
"... eine kleine Wiederherstellungsoperation. Wenn du nicht riskieren
willst, dass der Finger steif bleibt."
Nein. Dieses Risiko bin ich bereits vor fünfzehn Jahren
eingegangen, und es ist gutgegangen.
"Nein", sage ich, "nähe mich. Die Sehne ist in Ordnung."
Schön, es kann nicht geschehen, doch wenn es geschieht wie
anscheinend in meinem Fall, wenn eine Narbe nach fünfzehn
Jahren wieder aufbricht, im Schlaf, einfach so, mir nichts, dir nichts,
absurderweise, dann kann keine Sehne verletzt sein, die zum Zeitpunkt
des Unfalls nicht verletzt worden war. Oder doch?
"Wie du willst."
Verdammt. Wir können die Logik nicht einfach im Klo
runterspülen. Wenn das die Narbe ist, dann ist das auch die
Verletzung; und diese Verletzung hat die Sehne nicht verletzt. Punktum.
Mehr oder weniger habe ich das neulich auch zu Alberto gesagt, als ich
Schluss mit ihm machte - mit einem Descartes-Zitat: die
Irrationalität, schön und gut, das Unbekannte,
schön und gut, alles schön und gut, aber der Efeu
kann nicht höher klettern als der Baum, der ihn trägt.
Wir fuhren zu dritt: Beppes Bruder Sauro Formento, sein Sohn Zeno und
ich. Wir nahmen die Motorschlitten. Der Schneefall war dichter
geworden, dicke, schwere, dauerhafte Flocken, die auf der Haut nicht
schmolzen. Ich lenkte den einen Motorschlitten, Zeno den anderen;
Sauro, der Stammvater, der Vater, der ältere Bruder, der
Patriarch und der Befehlshaber über alles in San Giuda, konnte
es nicht wegen seines in Mitleidenschaft gezogenen Arms. Zwei
Herzinfarkte hatte er gehabt und einen Schlaganfall, der seinen linken
Arm gelähmt hatte. Er konnte den Motorschlitten nicht fahren,
und ehrlich gesagt war es nicht gut, dass er überhaupt
irgendetwas allein machte, auch wenn er noch die Kraft dazu hatte;
deswegen wich ihm sein Sohn Zeno nicht von der Seite, finster und
schweigsam - und sonderbar, wie alle sagten, seit er mit achtzehn die
Nationalmannschaft der Skispringer verlassen und sich nach San Giuda
zurückgezogen hatte. Wir fuhren die Straße in
Richtung Wald, durch blendendes Weiß, das Gesicht vom Schnee
gepeitscht. Er fiel so dicht, dass er die Spuren des Schlittens bereits
ausgelöscht hatte; daher fuhren wir langsam, und Zeno hielt
sogar immer wieder an, um zu überprüfen, ob wir noch
auf der Straße waren und nicht etwa auf dem Feld der
Zwillinge Antonaz - denn bei diesem Wetter konnte man sich durchaus
verirren, selbst zu Hause, selbst auf der einzigen Straße,
die es gibt. Andererseits, wohin fuhren wir überhaupt? Wir
hatten nichts besprochen, wir waren einfach losgefahren. Keiner von uns
dreien hatte über die Angst gesprochen, die alle beim Anblick
des leeren Schlittens und dieses panischen Pferdes empfunden hatten,
und unsere Expedition hatte daher etwas Unredliches, als würde
man etwas verschweigen, verdrängen; die Vernunft, mit der Zeno
sie anführte, ließ vermuten, wir wüssten,
was wir taten, wir führen zielstrebig in die richtige
Richtung; kurz, unser Handeln hatte einen Anschein von Konkretheit, der
heute lächerlich wirkt, angesichts der Situation aber ganz
natürlich war. Im Übrigen fällt es mir heute
sehr schwer, mich zu erinnern, was ich in jenen Augenblicken empfand;
das, was im unmittelbaren Anschluss geschah, wirbelt in meinem
Gedächtnis herum und hat Rückwirkungen auf das Davor.
Mit Sicherheit war ich besorgt, aber ich kann mich nicht erinnern, wie
real dieses Gefühl war, und ich habe Mühe zu glauben,
dass sich in diese Besorgnis - und es war bestimmt so - auch ein wenig
Hoffnung mischte - zumindest die naive Überzeugung, dass wir,
was immer auch passiert war, damit schon fertig werden würden.
Tatsache ist, dass die Zeit nur in eine Richtung fließt, doch
man erfasst diese nur, wenn man sie noch einmal in der
entgegengesetzten Richtung durchläuft; daher sehe ich uns drei
heute in der Erinnerung geradewegs auf dem Weg in die Hölle,
doch in Wirklichkeit war es nicht so, wir wussten nicht, wohin wir
fuhren, wir hatten nicht die geringste Ahnung, was uns erwartete.
Geschafft. Der Finger ist genäht - vier Stiche, klar, wie
damals; die Laken sind in der Waschmaschine, alles ist wieder sauber,
nirgends mehr Spuren von Blut. Keine große Sache, alles in
allem. Damals dagegen, als ich mich in Val Senales geschnitten hatte,
war das Zimmer in der Residenz tagelang blutverschmiert; wegen der
Verletzung verbot mir der Trainer - Amerigo hieß er -, an den
Wettkämpfen teilzunehmen, und ich schmiss alles hin und fuhr
verzweifelt nach Hause zurück; meine Zimmergenossinnen, zwei
zickige Slalomläuferinnen namens Irene Norsa und Maria Adele
Passarelli, sagten, es sei nicht ihre Sache, mein Blut zu beseitigen,
und ließen sich ein anderes Zimmer geben; die von der
Wohnanlage machten einen Riesenaufstand und behaupteten, das Blut zu
entfernen sei gefährlich, das Mädchen könnte
ja Aids
haben, und weigerten sich. Drei Tage nach meiner Heimfahrt rief
der Präsident des Skiklubs bei uns an und verlangte, ich solle
zurückkommen, um das Zimmer zu reinigen - in Val Senales,
dreieinhalb Stunden Busfahrt -, da im ganzen Tal niemand dazu bereit
sei und die Leitung der Residenz mit Klage drohe. Mein Vater schickte
ihn zum Teufel, dass ich nicht bereit sei, die Putzfrau zu spielen,
während die anderen an meinem Wettkampf - dem Super-G -
teilnähmen, sei ja wohl klar. Schließlich
löste Mama das Problem auf ihre Weise; klammheimlich nahm sie
ihren R5, fuhr zu dieser Residenz und machte innerhalb weniger Stunden
alles sauber. Allerdings kam sie ziemlich erschüttert
zurück - nicht so sehr wegen der Anstrengung als vielmehr
wegen des Zustandes, in dem sie das Zimmer vorgefunden hatte; es sah
aus, sagte sie, als sei ich abgestochen worden. Der Grund war, dass
ich, als ich mich geschnitten hatte, allein gewesen war. An dem
Vormittag fand der Slalom statt, die beiden Zicken waren in aller
Frühe aufgebrochen, um sich mit der Strecke vertraut zu
machen, und ich hatte mir ein amerikanisches
Frühstück eingebildet. Wir hatten gleich nach der
Ankunft in dem kleinen Supermarkt eingekauft, da der Skiklub uns nur
eine Mahlzeit am Tag bezahlte, und an dem Morgen war ich hungrig
aufgewacht. Ich hatte Lust auf Eier mit Speck. Ich war in Hochform,
fühlte mich stark wie ein Raubtier, in den
Trainingsläufen der vorangegangenen Tage hatte ich anderthalb
Sekunden Vorsprung vor den anderen gehabt; ich war wirklich
überzeugt, den Super-G zu gewinnen, was bedeutet
hätte, dass ich am Finale der Nationalmeisterschaften Ende des
Monats mit einer ganz anderen Einstellung teilgenommen hätte,
es wäre nicht mehr nur um eine Plazzierung gegangen, sondern
darum, endlich um den Titel zu kämpfen, gegen die
üblichen drei oder vier, die mir immer zusetzten - die Tramor,
die Menzio, die Caponegro - und denen ich gerade erst in dem magischen
Wettkampf in Campiglio den Kopf zurechtgerückt hatte, als
Karen Putzer mir die Hand geschüttelt hatte. Ja, ich war in
hervorragender Form, wenigstens glaubte ich das, und auch der
Bärenhunger an dem Morgen war ein Zeichen dafür. Die
Favoritin Nummer Eins, die ihrem durchtrainierten Körper
Kraftstoff zuführen muss. Ich mache einen schön
starken
Kaffee.
Ich lasse Milch aufkochen und etwas abkühlen. Ich schenke mir
ein Glas Orangensaft ein und trinke es zur Hälfte. Ich brate
den Speck und die Eier in der Pfanne, und bei all diesen Handlungen
fühle ich mich groß, frei, glücklich - die
tüchtige und durch nichts zu erschütternde Frau, die
ich werden will, die den ganzen Tag arbeitet und am Abend müde
nach Hause kommt, aber nicht jammert, weil ihr Mann ihr nicht in der
Küche hilft, und ihm schnell ein einfaches und gutes
Abendessen zubereitet und den Kühlschrank mit dem Hintern
schließt, während sie die Mayonnaise selbst macht
und ihm dabei eine merkwürdige Sache erzählt, die sie
während des Tages erlebt hat. Erst als die Eier fast fertig
sind, bemerke ich, dass ich das Brot nicht geschnitten habe. Es ist ein
zwei Tage alter halber Laib, Schwarzbrot mit Kruste. Ich suche das
Messer mit Säge, ich suche es wirklich - denn es muss da sein,
schließlich haben wir es gestern Abend noch benutzt -, aber
ich finde es nicht, weder in der Schublade noch in der Spüle
und auf dem Tisch auch nicht. Verschwunden. Eier und Speck sind jetzt
fertig, und in der Eile nehme ich das Aufschnittmesser, das ganz lange
und superdünne. Ich packe den Brotlaib mit der linken Hand und
will ihn mit diesem falschen Messer, das ich fest in der rechten Hand
halte, schneiden - und sofort, im Bruchteil einer Sekunde, beim ersten
Kontakt der Klinge mit der Kruste merke ich, dass es so nicht geht,
dass die Frau, die ich bis dahin gewesen bin, es anders gemacht
hätte; ich erinnere mich gut daran, weil ich mich auch an
meinen sofortigen Entschluss erinnere, nicht aufzuhören, nicht
das Feuer unter der Pfanne auszuschalten und nicht in aller Ruhe das
richtige Messer zu suchen und das Brot nicht zu schneiden, bevor ich es
gefunden habe, schlimmstenfalls die Eier kalt werden zu lassen oder,
besser noch, sie wegzuwerfen und noch mal neu zu braten, wenn das Brot
geschnitten wäre ... Ich erinnere mich sehr gut, dass mir all
diese Gedanken durch den Kopf schossen, so blitzartig, dass mir keine
Zeit blieb, die richtige Entscheidung zu treffen, hinweggefegt von
einem ebenso blitzschnellen wie unwiderruflichen "Ach, zum Teufel".
Heute weiß ich, wie man diese Handlungsweise nennt, heute
weiß ich alles über autoaggressives Verhalten und
Fehlleistungen, doch damals war ich einfach nur eine
sechzehnjährige Idiotin, die das Falsche tut. Also setze ich
das Messer an, und anstatt in die Kruste einzudringen, rutscht die
dünne und biegsame Klinge seitlich ab und schneidet in den
Zeigefinger meiner linken Hand, genau auf dem Knöchel - ich
sehe, wie sie ins Fleisch eindringt. Ich spüre keinen Schmerz,
es ist eher Entsetzen: Ich sehe, wie das rosa Fleisch sich rot
färbt, erkenne auf dem Grund des Schnitts etwas
Weißes - den Knochen - und spüre, wie ich
ohnmächtig werde. Ich habe noch die Geistesgegenwart, das
Feuer unter den Eiern auszuschalten und mich heftig blutend mit
zitternden Beinen zur Eingangstür zu schleppen, wo eine
Sprechanlage ist, die mit der Pförtnerloge verbunden ist. Doch
ich bin schon halb bewusstlos, und als die Frau in der
Pförtnerloge mir antwortet, kann ich gerade noch "Hilfe!"
flüstern und sinke entkräftet zu Boden, wobei ich mit
den blutverschmierten Fingern Streifen auf der Wand hinterlasse.
Es ist unglaublich, wie lebendig diese Erinnerung jetzt ist. Das
üblicherweise metaphorisch gebrauchte Wiederaufbrechen von
Wunden, das Wiederaufleben eines verdrängten Schmerzes ist mir
tatsächlich passiert, so dass ich spontan versucht bin, selbst
an die Version zu glauben, die ich Crocetti erzählt habe. Ich
muss mich geradezu zwingen, wieder zur Wahrheit
zurückzufinden: der Unfall beim Brotschneiden vor
fünfzehn Jahren und die Narbe, die von allein wieder
aufgebrochen ist, während ich schlief, was, soweit ich
weiß, nicht möglich ist. Ich habe hier nicht viele
Bücher, ich habe sie fast alle bei Alberto gelassen - und ich
habe nicht die Absicht, ihn jetzt anzurufen. Ich habe nur eins, Bricot,
Die globale Reprogrammierung des Haltungssystems, das jedoch die
Haltungsstörungen und die psychischen Traumata der
Narbenträger behandelt und mich nicht weiterbringt.
Das Internet. Ich habe keine Wahl.
Ich habe es den Carabinieri gesagt, ich habe es dem Staatsanwalt
gesagt, ich habe es allen gesagt, die mich gefragt haben: "Was habt ihr
gesehen?" Den Baum haben wir gesehen, den vereisten Baum. Das war das
Erste, was wir sahen, als wir den Wald erreichten - und auch danach,
als wir alles Übrige sahen, blieb er das einzig Unversehrte.
Der Baum. Er stand da, an seinem Platz, dort, wo der Wald beginnt, wie
kristallisiert in seinem Eismantel, dessen Durchsichtigkeit durch den
frisch gefallenen Schnee getrübt wurde - doch er war rot. Ja,
er war rot, als hätte Beppe Formento beim Vereisen Kirschsirup
in die Kanone geschüttet. In diesem schicksalhaften
Weiß war er das Einzige, was noch eine Form besaß,
und er schien - ich übertreibe nicht - zu glühen, in
diesem pulsierenden inneren rötlichen Licht, von dem ich heute
noch träume. Ich träume von dieser roten
Durchsichtigkeit, ja, heute noch, und ich träume es jetzt ohne
den Baum, ja, ohne die Gestalt des Baums, ich träume diese
Farbe, sonst nichts. Ein Sonnenuntergang, gefangen in einem
gallertartigen Himmel, ein Vorhang aus rotem Quarz, der sich auf meinen
Traum senkt und die Welt verdeckt; ich habe nicht aufgehört,
von dieser roten Transparenz zu träumen, und träume
immer noch davon, weil es das ist, was wir gesehen haben, als wir den
Wald erreichten. Was habt ihr gesehen? Wir haben den vereisten Baum
gesehen, durchtränkt von Blut.
Ich schäme mich, es zu sagen, aber als ich ihn in der
milchigen Wolke, die ihn umhüllte, erkannte, bewunderte ich
einen Moment lang seine Schönheit; und mit dem letzten
unverdorbenen Gedanken meines Lebens, mit dem letzten unbedeutenden und
kindischen und oberflächlichen und reinen und unschuldigen
Gedanken meines Lebens bildete ich mir für einen Moment ein,
diese Schönheit sei das Einzige, was geschehen sei. Ich
bildete mir ein, Beppe Formento habe an dem Morgen, um die
Eintönigkeit unserer Tage zu durchbrechen, den vereisten Baum
rot gefärbt und den leeren Schlitten nach San Giuda geschickt,
um uns dorthin zu locken, und er habe sich mit seinen
Fahrgästen zwischen den Bäumen versteckt, um sich
zusammen mit ihnen an unserem Staunen zu erfreuen. Ich bildete mir ein,
sie alle würden, während wir überrascht von
den Motorschlitten steigen und auf den Totempfahl zugehen,
fröhlich aus ihrem Versteck gerannt kommen, aus vollem Halse
schreiend, um uns Angst zu machen. Ich schäme mich, es zu
sagen, doch in dem Augenblick, in dem ich die überirdische
Schönheit des Baums bewunderte und das Ganze für
einen grandiosen Scherz von Beppe Formento hielt, bedauerte ich, dass
die anderen nicht mitgekommen waren; ich dachte an Rina, die im
Lebensmittelladen geblieben war, ich dachte an Perla und ihren Sohn,
ich dachte an Ignazio, an Wilfred, an Florian in seinem Rollstuhl, an
Enrico und Manrico Antonaz, an die Frau von Rezè, Urania,
seit kurzem Witwe, an Argenia, an Adua, an Regina, an Heidi, an Genise,
an die Lechner-Zwillinge, an Polverone, an Terenzio, an Nives, an
Fernanda, an Maria, Armin und Lorenzetto; ich konnte gerade noch
denken, wie blöd ich gewesen war, dass ich, als Zorro auf den
Platz galoppiert gekommen war, nicht sofort begriffen hatte, dass es
sich um eine Einladung von Beppe Formento handelte, alle gemeinsam zum
Wald zu gehen, das ganze Dorf, zu Fuß, im
Schneegestöber, um alle gemeinsam den vereisten Baum zu
bestaunen, den er rot gefärbt hatte. Es war, ich wiederhole
es, der letzte unbeschwerte Gedanke in meinem ganzen Leben, und obwohl
er mir blitzschnell durch den Kopf schoss, werde ich mich immer daran
erinnern.
Nachdem die Motoren der Schlitten ausgeschaltet worden waren, herrschte
Totenstille. Der Schnee fiel immer noch in dicken Flocken, die sich
einzeln gegen den dunklen Wald abhoben, doch als wir uns umwandten, in
Richtung San Giuda, schien es, als seien wir blind geworden. Doch
leider hatten wir unsere Sehkraft noch, alle drei. Im Laufe der Zeit
ist in mir die Überzeugung gereift, dass Zeno die
Körper als Erster gesehen haben musste, obwohl der Schrei -
herzzerreißend, grauenhaft - von seinem Vater kam. Ich war
jedenfalls der Letzte, der sie sah. Und von noch etwas bin ich
inzwischen überzeugt: Wäre ich allein gewesen,
hätte ich sie nicht gesehen, ich hätte mich
geweigert. Und das Wort "Körper" trifft es auch nicht, denn es
handelte sich zum größten Teil um Reste, verstreute
Teile bedauernswerter Körper; und außerdem hatte der
Schnee bereits alles zugedeckt, so dass sie sich unseren Blicken
allenfalls noch als Ausbuchtungen, als unförmige Falten des
weißen Teppichs darboten. Der Gedanke drängt sich
auf, dass dieser außergewöhnliche Schneefall
tatsächlich ein Geschenk der Madonna delle Selve war, zu der
wir in unserer Kirche so inbrünstig beteten, auf dass sie sich
für uns einsetzen, unseren Kummer lindern und uns Trost
spenden möge - und offensichtlich erhörte sie uns
damals, da sie über das Grauen dieses Morgens diesen
weißen Schleier gebreitet hatte, um uns zu retten. Ja, man
kann sagen, dass diese Schneedecke uns das Leben gerettet hat - meins,
das von Sauro Formento und seinem Sohn Zeno - oder zumindest den
Verstand, denn ich glaube, der Anblick dessen, was sich darunter
verbarg - und was in der Folge zum Vorschein kam -, hätte uns
darum gebracht.
Der vereiste Baum war immer noch rot, er glühte nach wie vor
phosphoreszierend. Sauro stieß noch immer verzweifelte
Schreie aus. Zu seinen Füßen ein dickes Schnee-Ei:
der Kopf seines Bruders.
Mein Problem ist allerdings immer das gleiche: Ich kann kein Englisch.
Ich beherrsche es nicht gut genug. In den Sätzen, die mich
interessieren, gibt es immer etwas, das ich nicht verstehe und das mich
fatalerweise daran hindert, den ganzen Satz zu verstehen. Ich
weiß nicht einmal, wie man "Narbe" auf Englisch sagt. Ich
muss auf Italienisch suchen, und das bedeutet schon mal eine ziemliche
Einschränkung. Suche: cicatrici riapertura (Narben
Wiederaufbrechen). Enter. 5580 Ergebnisse. Erstes Ergebnis: Die Narben
Estetica on line: ... eingesunkene Narbe: ist tiefer im Vergleich zur
umgebenden Haut. Entsteht durch das Wiederaufbrechen der Wunde infolge
einer Infektion oder weil sie ... Nein, das ist nicht das Richtige.
Zweites Ergebnis: Aknenarben lasern: ... in manchen Fällen
kommt es zum Wiederaufbrechen von scheinbar vernarbten Wunden ... Nein,
das ist es auch nicht. Und das dritte, vierte, fünfte Ergebnis
ebenfalls nicht. Das sechste, das siebte - nichts, lauter Websites
für Schönheitschirurgie. Und das, was ist das?
Mountain Bike Community. Ich will nicht ohne Narben sterben. FIKO
CRASTO ... oder von einem Transporter überfahren? Lohnt es
sich, von Bergamo aus aufzubrechen, oder sollte man besser auf die
Wiedereröffnung des Mottarone warten? ... O.k., der Begriff
riapertura (Wiederaufbrechen, Wiedereröffnung) ist nicht der
richtige. Ich muss einen technischeren wählen - zum Beispiel
deiscenza, Dehiszenz. Ja, deiscenza - aber mit i oder ohne? Versuchen
wir es mit i. Suche: cicatrici deiscienza. Klick. Meinten Sie
deiscenza? Richtig. Ohne also. Aufbrechen der Kaiserschnittnarbe als
Ursache der Blutung nach Abtreibung im zweiten Schwangerschaftsdrittel
..., nein, nein, um Himmels willen. Weiter. Uterusruptur, es wird immer
schlimmer ...
Das Handy. Alberto. O nein, nein, nein, ich geh nicht ran. Ich habe es
ihm gesagt, ruf mich nicht an, akzeptiere es, quäl mich nicht,
es hat keinen Sinn mehr, immer nur zu reden, zu reden und noch mal zu
reden, du musst es endlich akzeptieren, aber nein, er ruft doch an -
und wie hartnäckig er ist. Aber ich geh nicht ran, es ist
alles gesagt, ich geh nicht ran. Endlich gibt er auf. Jetzt wird er mir
eine SMS schicken, bitte ruf mich an, ich halte es nicht aus - seine
Erpressungsversuche. Auch darauf werde ich nicht antworten.
Außerdem bin ich beschäftigt. Wo waren wir
stehengeblieben? Dehiszenz. Drittes Ergebnis: Wikipedia, na ja, schauen
wir mal: Geschichte: Die Wunde ist die sofortige und offensichtliche
Folge einer Verletzung ..., vielen Dank, und jetzt der ganze Sermon,
die Naht, das Penicillin, wen interessiert das, wo ist die Dehiszenz?
Ah, im Abschnitt Wundkomplikationen: Dehiszenz: Komplikation, die im
spontanen teilweisen oder vollständigen Wiederaufklaffen der
Wunde besteht. Sie kann verschiedene Ursachen haben wie die Infektion
des Operationsgebietes, Platzen der Naht, Zerreißen der
Gewebe infolge übermäßiger Spannung
(Husten, übermäßige Anstrengung, falsche
Bewegungen), operationstechnische Fehler (nicht korrekte Vereinigung
der Wundränder). Na ja. Das sagt überhaupt nichts
über die Dehiszenz meiner Narbe. Überlegen wir noch
mal, hat Crocetti meine Geschichte widerspruchslos geschluckt? Hat er
wirklich geglaubt, dass ich mir die Verletzung gerade erst beigebracht
habe? Dass zwischen einer frischen Wunde und einer, die nach
fünfzehn Jahren wieder aufbricht, kein Unterschied zu erkennen
ist? Was ist das denn? ... Posttraumatische oder iatrogene alte Narben
(> 2 Jahre) können sehr selten von einer
sekundären spontanen Dehiszenz betroffen sein ... Verdammt,
das ist es. Also: Atti del 54o Congresso della Società
Italiana di Chirurgia Plastica. Messina, März 2007 - Die Rolle
der kollagenen und elastischen Fasern im Bindegewebe der Narbe -
Referent Prof. Ennio Roncone. Öffnen wir es mal. ... Die
Definition der spontanen Dehiszenz ist alles andere als exakt oder kann
in die Irre führen, denn wenn kein äußerer
Faktor vorliegt, müssen wir davon ausgehen, dass Narben,
sobald sie geschlossen sind, nie wieder aufbrechen sollten. Die
Ursachen für ein derartiges Vorkommnis können
eingeteilt werden in Verletzungen, mechanische Einflüsse und
Stoffwechselstörungen. Die Verletzung im Bereich einer Narbe
hat eine schädigende Wirkung vor allem in dem Maße,
wie sie gesunde Haut
schädigt. Von stoffwechselbedingten
Ursachen spricht man bei krankhaften Veränderungen des
Bindegewebes und/oder des Stoffwechsels, die nach der Phase der
Narbenbildung auftreten und die Narbenoberfläche für
eine sekundäre Dehiszenz anfällig machen, auch wenn
sie minimalen Verletzungen ausgesetzt ist. Mechanische
Einflüsse betreffen das oberflächliche und das tiefe
Bindegewebe der Haut, die für die Stabilität der
entstandenen Narbe verantwortlich sind. Wenn es nicht möglich
war, ein Bindegewebe und eine ausreichende Dicke aller weichen Gewebe
im Narbenbereich wiederherzustellen, bleibt die Haut die einzige
Barriere für äußere Einflüsse, und
sie ist verletzlicher, weil sie zu wenig von unten gestützt
wird, so dass auch in diesem Fall eine kleine Verletzung die Dehiszenz
auslösen kann. Nichtsdestoweniger ...
Das Handy, schon wieder. Hat er beschlossen, mich zu drangsalieren, bis
ich rangehe? Doch diesmal ist es nicht er: unbekannte Nummer. Oder
besser, er kann es schon sein, wenn er die Raute-Taste
gedrückt hat, um zu verhindern, dass die Nummer auf dem
Display erscheint; doch eigentlich ist er nicht der Typ, der zu solchen
Tricks greift, er ist zu stolz, das passt nicht zu ihm - aber man
weiß ja nie, besser, ich geh nicht ran. Außerdem
könnte es auch ein Patient sein, einer der Bergbewohner, die
vom öffentlichen Fernsprecher aus anrufen - eigentlich
können sie meine Privatnummer gar nicht haben, manchmal
kriegen sie sie aber doch raus, weiß der Teufel wie, und
rufen mich an. Wie auch immer, wenn die Nummer unbekannt ist, sollte
man nicht rangehen - aber ich muss rangehen, ich habe keine Wahl. Es
könnte ja auch Mama sein, wenn sie vom schnurlosen Telefon
anruft, wird die Nummer nicht angezeigt, keine Ahnung, warum - und sie
ruft fast immer vom schnurlosen Telefon an.
Die Wahrheit ist, ich habe es noch nie geschafft, bei einem Anruf mit
unbekannter Nummer nicht ranzugehen; nie, nicht ein einziges Mal.
"Hallo?"
"Schaust du gerade fern?"
Der Mistkerl. Er hat doch die Raute-Taste gedrückt. "Nein.
Warum?"
"Schalte den Fernseher ein."
"Warum?"
"Schalte ihn ein."
"Was ist passiert?"
"Schaltest du ihn endlich ein!"
"Welchen Kanal?"
"Ganz egal." (...)
Sandro
Veronesi: "XY"
Aus dem Italienischen von Michael von Killisch-Horn.
Klett-Cotta, 2011. 394 Seiten.
Buch
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Elf
Leichen werden in einem verschneiten Bergdorf gefunden. Ein Pfarrer und
eine Psychiaterin versuchen, dem Unfassbaren auf die Spur zu kommen.
Mitreißend spürt Sandro Veronesi den Grundfragen von
Schuld und Sühne,Gut und Böse,Vernunft und Glauben
nach.
Im verschneiten Wald nahe des Bergdorfs San Giuda werden die Leichen
von elf Touristen gefunden. Die Autopsie der Leichen offenbart etwas
Unfassbares: elf Leichen, elf Todesursachen. Mord und Selbstmord, Krebs
und Herzinfarkt. Ein Opfer scheint dem Biss einesHaies
erlegen zu
sein. Nichts passt zusammen. Während die Behörden die
unerklärlichen Details der Tragödie vertuschen,
versuchen der Priester Don Ermete und die Psychologin Giovanna, das Rätsel
zu lösen. Ihre Ermittlungen führen den Leser auf eine
philosophische Reise in die Grenzgebiete unseres Verstandes.
Sandro Veronesi wurde 1959 in Florenz geboren. Er ist Architekt,
arbeitet jedoch seit einigen Jahren als Schriftsteller. Er gilt als
einer der bedeutendsten Autoren seiner Generation in Italien und wurde
mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.