Richard Powers: "Der Klang der Zeit"


Keiner entgeht der Geschichte seiner Gegenwart

Die Familie Strom ist aus der Beziehung zwischen einer jungen Farbigen und einem jüdischen Physiker, der aus Nazi-Deutschland geflüchtet ist, entstanden. Und aus Musik. Denn auf einem Massenkonzert in Washington D.C. treffen sich die beiden und finden zueinander, auch wenn ihnen klar ist, dass diese Verbindung zu allerlei Scherereien führen wird.
Denn, wie das jüdische Sprichwort sagt: "Der Vogel und der Fisch können sich verlieben, doch wo bauen sie ihr Nest?"

Zunächst erscheint es den beiden, als hätten sie ihr Nest gefunden, auch wenn die junge Frau immer wieder den feindseligen Blicken ihrer Mitamerikaner begegnet, die das gemischte Paar als eine Absurdität oder auch eine Beleidigung betrachten.
Der junge Physiker lebt zu sehr in seiner eigenen idealen Vorstellungswelt, um diese Probleme wirklich wahrzunehmen. Und als er sie wahrnimmt, beschließt er, das Leben für sich und seine Kinder umzudeuten, und so sollen seine Söhne und Tochter ohne einen Bezug zu ihrer Rasse heranwachsen.

Sehr schnell merken die beiden Söhne, die in der vergleichsweise isolierten Welt der klassischen Musik heranwachsen, für die sie geboren zu sein scheinen, dass es nicht viel ausmacht, wenn man nicht über Rasse nachdenkt, wenn es alle Anderen um einen herum tun. Und so stehen sie in immer größerem inneren Widerspruch zu der Erziehung, die ihre Eltern ihnen angedeihen lassen wollen, bis die Mutter bei einem unerklärlichen Feuer ums Leben kommt und die Knaben und ihre Schwester mit ihrem etwas weltfremden Vater alleine dastehen. Doch dem Älteren der beiden gelingt es, die Musik in den Vordergrund zu stellen und den Rassismus in seiner Wahrnehmung zu marginalisieren, so dass eigentlich vor allen Dingen der jüngere Bruder und die Schwester unter den Zuständen der USA der Vor- und Bürgerkriegsbewegung leiden müssen und auch unter all den Dingen, die sich danach in Bezug auf die Rassenfrage in den USA ereignen.

Durch die Augen des jüngeren Bruders wird so eine rassenbewegte Zeitgeschichte der USA vom Zweiten Weltkrieg bis in das Jahr 1995 und bis zum Neuen Millionenmarsch gezogen, bei dem neben der Dichotomie von Schwarz und Weiß auch immer wieder die Unterscheidung von "Onkel Tom" und "Malcolm X" aufgebaut wird. Wobei man sich wiederholt fragen muss, inwiefern die streitbaren Vertreter der letzteren Fraktion nicht gerade die erstere Dichotomie immer wieder verfestigen. Eine Frage, die im Roman allerdings nicht reflektiert wird.
Dafür werden die Musik und ihre Einflussmöglichkeit auf das Leben und die Kultur ausgiebig erörtert, obwohl die Antworten und Diskussionen zu dieser Problematik eher im Kopf des Lesers als auf den Seiten des Buches entstehen. Alles bleibt so vage wie der Zeitbegriff, den Professor Strom bis zu seinem Tod immer wieder mit seinen Mitmenschen diskutiert, und der am Ende eine erzählerische Schleife ermöglicht, wie man sie sonst eher von Kurzgeschichten gewohnt ist.

Unzählige Erläuterungen zu ziemlich esoterischen Problemen der Musiktheorie und der Physik geben dem Roman deutliche Längen, die in dieser Form sicherlich nicht jedermanns Sache sind. Tatsächlich sind die ersten 200 bis 250 Seiten aufgrunddessen - und durch die Zeitsprünge - eine ziemliche Durststrecke, bis das Gefühl keimt, dass die Handlung nun langsam in Gang kommt.
Aber auch dann bremsen zum Teil repetitive gedankliche Exkurse des Erzählers immer wieder den Fluss und machen das Buch so zu einem ziemlichen Stück Arbeit und für ungeduldige Leser eigentlich gänzlich ungeeignet. Wer sich auf den Roman einlässt, kann eine ganze Menge lernen, aber er sollte sich auch der erstaunlichen Lücken bewusst sein, die zu vielen wichtigen Themen gelassen werden. Und dies auch in Bezug auf die hier vorrangig beschriebenen USA.

Der vorliegenden Taschenbuchausgabe ist eine umfängliche Zeittafel angehängt, welche die im Buch beschriebenen Ereignisse noch einmal im Zusammenhang darstellt. Hierbei werden die Fragen der Rassenpolitik in den Vordergrund gerückt, der Koreakrieg erfährt keine und der Vietnamkrieg nur eine überaus beiläufige Behandlung. Beiden Kriegen kommt innerhalb des Buches kaum Bedeutung zu, was im Nachhinein schon ein wenig überrascht und eine der erwähnten Lücken darstellt.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 10/2007)


Richard Powers: "Der Klang der Zeit"
Übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié.
Fischer, 2005. 768 Seiten.
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Richard Powers, am 18. Juni 1957 geboren, lebt in Urbana/Illinois. Er studierte Physik, arbeitete als Programmierer, bis er im Alter von 32 Jahren seinen ersten Roman schrieb.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Orfeo"

Ein großer Roman über Musik, das Rätsel der Kreativität und die fragile Geborgenheit der Familie.
Erzählt wird die Geschichte von Peter Els, der an der Ostküste der USA Professor für Musik ist. In den wilden Siebzigern waren seine Stücke Avantgarde. Jetzt will er der DNA ihre musikalische Struktur ablauschen und mit Molekülen komponieren. Bis die "Homeland Security" in sein Labor stolpert und ihn verhört, denn nach dem 11. September ist jeder verdächtig. Auf einer Fahrt quer durch die USA flüchtet Els vor dem FBI, erinnert sich an sein Leben und sucht seine Familie - spannend, voller Emotion und funkelndem Geist, unserer Gegenwart und ihren Themen immer einen Schritt voraus. (S. Fischer)
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"Das Echo der Erinnerung"
"Eine halbe Million Kraniche auf einem tausend Meilen langen Zug entlang einer Route, die sie von ihren Eltern erlernt hatten. Pünktlich wie ein Uhrwerk kamen sie jedes Frühjahr zu diesem winzigen Flecken des Flusses. Der Anblick war unglaublich und die Vorstellung davon verwegen. Das schien mir wie der Beginn zu einer Geschichte." Richard Powers
Ein Geschwisterpaar, ein mysteriöser Unfall, eine verlorene Erinnerung und das Rätsel der Ankunft.
Richard Powers erforscht in diesem Roman das, was Familien im Innersten zusammenhält - die Sehnsucht im Echo der Erinnerung. (Fischer)
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"Schattenflucht"
Adie Klarpol landet als Zeichnerin in einem Computerlabor in Seattle: hier sollen die Computerbilder laufen lernen, um den Betrachter in den Sehnsüchten des eignen Blicks zu fangen. Taimur Martin ist Lehrer im Libanon. Von einer Zigarettenpause kehrt er nicht zurück, bleibt jahrelang als Geisel in einer Höhle isoliert. Auch er schafft künstliche Welten, nicht der Technik, sondern der Fantasie.
Kunstvoll wie eine Doppelhelix und mit aktueller Brisanz verknüpft Richard Powers beide Geschichten zu einer Vision über den Verlust der Sinnlichkeit im leeren Sog der Logarithmen und zu einer Liebesgeschichte, deren Spannung und Poesie den Leser nicht mehr loslässt. (Fischer)
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