Albert Sánchez Piñol: "Pandora im Kongo"


"Nein, nein! Hochklassisch will ich jetzo bleiben
Der Poesie zu ihrem wahren Heil,
Pandora, Epimenides will ich schreiben,
Will schreiben meinen eignen, zweiten Teil."
(Aus "Faust - der Tragödie dritter Teil" von Friedrich Theodor Vischer)

Eine Verführung zu Edelschund nach "Münchhausen"-Art: tarnen und täuschen im Paragrafendschungel


Wollte etwa auch Albert Sánchez Piñol mit "Pandora im Kongo" seinen "eignen, zweiten Teil" schreiben? Warum nicht; schließlich handelt es sich angeblich um den zweiten Teil einer Romantrilogie. Dem Wort "angeblich" kommt bei der Besprechung des Romans besondere Bedeutung zu, reizt Piñol doch das Spiel mit allfälligen Erwartungshaltungen, Identifikationsverlockungen und sozialmoralischen Sichtweisen bis zum Äußersten aus.

Kennt man "Im Rausch der Stille", beschleichen einen schon angesichts des Klappentexts von "Pandora im Kongo" bezüglich des mutmaßlichen "Wiederholungstäters" Vorahnungen bzw. stellt sich ein Wiedererkennungseffekt ein, denn abermals ist von einem Meer (diesmal von Bäumen) die Rede, erneut geschehen seltsame Dinge - also alles wie gehabt?!
"Im Kongo, diesem endlosen Meer von Bäumen, geschehen seltsame Dinge. Was bedeutet das unheimliche Kreischen aus der Tiefe? Sind das die Klänge der afrikanischen Nacht? Oder der Schrei nach Vergeltung? Thomson ist Ghostwriter und erhält den Auftrag, Garveys Unschuld zu beweisen. Weshalb ist er angeklagt? Angeblich hat Garvey im Kongo zwei britische Aristokraten und Goldgräber umgebracht. Thomson schreibt dessen Geschichte auf - der Angeklagte muss unschuldig bleiben, unbedingt. Auf der Suche nach der Wahrheit gerät Thomson immer tiefer in Afrikas Mitte: undurchdringliche Vegetation, emotionale Verstrickungen und ein Netz endloser Lügen." (Klappentext)

Die Geschichte begann mit drei Beerdigungen und endete mit einem gebrochenen Herzen - meinem. Im Sommer 1914 war ich neunzehn Jahre alt, ein halber Asthmatiker, ein halber Pazifist und ein halber Schriftsteller. Ein halber Asthmatiker, weil ich halb so viel hustete wie die Kranken, aber doppelt so viel wie die Gesunden. Ein halber Pazifist, weil ich Kriegen hilflos gegenüberstand und eigentlich an keinem teilnehmen wollte. Ein halber Schriftsteller: Das Wort Schriftsteller ist schon zu hoch gegriffen und sogar mit dem "halben Schriftsteller" übertreibe ich noch. Ich schrieb Bücher auf Bestellung. Mit anderen Worten, ich war ein literarischer Neger. (In der Verlagswelt nennt man jeden "Neger", der Bücher für andere schreibt.)
(Aus "Pandora im Kongo")

"Pandora im Kongo" weist, verglichen mit Piñols vorherigem Roman, einen höheren Grad an erzählerischer Raffinesse auf: Diesmal bietet der Autor unterschiedliche Zeitebenen sowie mehr als einen Handlungsschauplatz, auch zeigt er sich bezüglich der Romanfiguren erfinderischer und fabulierlustiger bzw. -listiger.

Die Bedrohung lauert im Kongo - angeblich - tief unter der Erdoberfläche, wo das Volk der "Tektoner" sein Unwesen treiben soll. Im Verlauf von Grabungen nach Bodenschätzen im Urwald entbrennen Kämpfe zwischen einer Handvoll Menschen und den "Tektonern", und die Rettung der Menschheit ist allein Marcus Garveys heldenhaftem Einsatz (und seiner klugen tektonischen Geliebten Amgam) zu verdanken - oder doch nicht?

Die Kunstfertigkeit der Romankonstruktion offenbart sich erst gegen Ende der Lektüre zur Gänze, wenn auch nicht unvorhersehbar. Zum Geleit stellt nämlich Piñols schicksalsgebeutelter Protagonist Thomas Thomson sowohl zu Beginn als auch am Ende des Romans fest: "Der Kongo. Ein grüner Ozean. Und unter den Bäumen - nichts."
Dazwischen werden dem Leser eine abenteuerliche Spannungsgeschichte, von der an dieser Stelle nicht viel verraten werden soll, und die Rückschau auf das Leben des Erzählers geboten.

Dieser Ich-Erzähler namens Thomas Thomson wird vom aalglatten, gerissenen Rechtsanwalt Edward Norton damit beauftragt, die höchstpersönliche Version der Erlebnisse des im Gefängnis auf seinen Prozess wartenden Marcus Garvey unter Aufbietung seiner schriftstellerischen Fähigkeiten aufzuzeichnen. Das solcherart in einem Zeitraum von rund vier Jahren entstehende Buch, "ein Mittelding zwischen Biografie und Testament" (S. 54), ist Teil der ausgeklügelten Verteidigungsstrategie Edward Nortons. Was der vormalige Groschenromanautor Thomson lange Zeit nicht weiß, und was Piñol dem Leser auch erst gegen Ende eröffnet, ist, dass mit den in Romanform gebrachten Gesprächsaufzeichnungen die öffentliche Meinung im Sinne der Verteidigung manipuliert werden soll und der naive Thomson von Anfang an fremden Interessen in einem abgekarteten Spiel dient.
Marcus Garvey, der sich seinem gutgläubigen "Biografen" sozusagen als Wolf im Schafspelz präsentiert, hat, so lautet die Anklage, Richard und William Craver aus Habgier im Kongo ermordet; Mordmotiv waren zwei Diamanten ...
Der Häftling Marcus Garvey tischt dem fantasievollen Thomson ein wildromantisches Schauermärchen nach bewährtem Groschenromanmuster auf, und dieser verliert sein Herz an eine (wie er lange Zeit nicht weiß) erfundene Figur: Amgam, eine heißhäutige "Tektonerin".
Der Höhenflug von Thomsons Fantasie endet unweigerlich mit einer verstörenden Bruchlandung, und die Romantik zerschellt an der ebenso brutalen wie banalen Wirklichkeit. Was bleibt, ist die unstillbare Sehnsucht des Schriftstellers.

In die nicht anders als reißerisch zu nennende Scheinhandlung, die nichts vermissen lässt, was Trivialliteratur ausmacht und die entsprechenden Klischees genüsslich bedient, verpackt Piñol bemerkenswerte Ausführungen z.B. über Kriege und grausame Exzesse in Kolonien, über Ausbeutung und Plünderung durch Sklavenjäger, über Machtverhältnisse zwischen Herren und Sklaven ebenso wie Betrachtungen über Recht, Unrecht und subjektives Gerechtigkeitsempfinden.
Zur Beruhigung für Verächter leichter Lesekost sei erwähnt, dass nicht die vorgeschobene Scheinhandlung "Pandora im Kongo" lesenswert macht; vielmehr verdankt das Buch dem Ideenreichtum und der besonderen Beobachtungsgabe Albert Sánchez Piñols eine Vielzahl an skurrilen Einzelheiten (z.B. eine Schildkröte ohne Panzer namens Marie Antoinette) und einprägsamen Beschreibungen, die der Lektüre ihre besondere Würze verleihen.

Sogar im Umgang mit sogenannter fantastischer Literatur zeitgenössischer deutschsprachiger Autoren äußerst zurückhaltende Medien sprangen über ihre berührungsängstlichen Schatten und zeigten sich Piñols Roman gegenüber erstaunlich aufgeschlossen. So schrieb beispielsweise Andreas Merkel unter dem Titel "Der Kongo-Kokolores" im "Spiegel": "Sein spezieller Charme liegt im schamlosen Größenwahn, mit dem der Erzähler am Ende noch einmal den Bluff seiner Erzählung als solchen enttarnt - als wäre der Leser jemals in Gefahr gewesen, diese durchgeknallte Räuberpistole für bare Münze zu nehmen", allerdings nicht ohne sich - sicherheitshalber? - hinter der Aussage, "Pandora im Kongo" "dürfte (...) der Anwärter auf den unterhaltsamsten, spannendsten schlechten Roman dieses Herbstes sein" zu verschanzen.
Solche berechenbaren Rechtfertigungsverrenkungen sind bisweilen unterhaltsam, offenbaren sie doch in erster Linie die Sorge des Betreffenden um seinen guten Ruf bzw. das, was er dafür zu halten glaubt. Nicht von ungefähr lässt Piñol auch den Literaturbetrieb nicht ungeschoren, indem er sowohl Zeitungsmachern als auch Schriftstellern, Kritikern und Lesern mit einer gehörigen Prise Selbstironie einen Spiegel vorhält.
Albert Sánchez Piñol behandelt auch problematische Themen äußerst respektvoll - und gänzlich ohne erhobenen Zeigefinger. Er begnügt sich damit, Missstände anhand detaillierter Darstellungen zu entlarven und eine gewisse Ernüchterung in Bezug auf Allzu(un)menschliches einkehren zu lassen.

Mit "Pandora im Kongo" beweist der Autor, dass auf den ersten Blick starr wirkende Handlungsgerüste durchaus biegsam sein können, sofern die sprachliche Umhüllung Fantasie und/oder Gemüt des Lesers anspricht. Hierzu passt gedanklich der Titel eines im Jahr 2004 erschienenen Buchs von Alban Nikolai Herbst, der da lautet: "Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen."

(kre; 10/2007)


Albert Sánchez Piñol: "Pandora im Kongo"
(Originaltitel "Pandora al Congo")
Aus dem Katalanischen von Charlotte Frei.
Gebundene Ausgabe:
S. Fischer, 2007. 478 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Fischer, 2009.
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Weitere Buchtipps:

Almut-Barbara Renger, Immanuel Musäus (Hrsg.): "Mythos Pandora. Texte von Hesiod bis Sloterdijk"

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Diese Anthologie versammelt literarische und philosophische Beiträge aus über 2000 Jahren Kulturgeschichte. (Reclam)
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David van Reybrouck: "Kongo. Eine Geschichte"
Fesselnd und atemberaubend erzählt David van Reybrouck die Geschichte Kongos, wie wir sie noch nie gelesen haben. Der Autor, der den Bogen von der kolonialen Gewaltherrschaft unter Leopold II. über die 32-jährige Mobutu-Diktatur bis hinein in die Gegenwart spannt, berichtet aus der eindrücklichen Perspektive derjenigen, die in ihrem Land leiden, kämpfen, leben - im Mittelpunkt stehen die Träume, Hoffnungen und Schicksale der sogenannten einfachen Bevölkerung.
Für sein mehrfach preisgekröntes Buch hat der Autor zahlreiche Reisen in das zentralafrikanische Land unternommen, in dem er einzigartige Interviews führen konnte. Der Älteste, mit dem er sprach, wurde 1882 geboren. Seine Stimme und die vieler hundert Anderer, Kindersoldaten und Rebellenführer, Politiker und Missionare, machen dieses Buch zu einer Sensation. Mit zahlreichen Augenzeugenberichten, bisher unbekannten Dokumenten aus Archiven und Van Reybroucks fundierter Kenntnis der Forschung stellt es einen Meilenstein auf dem Gebiet der Sachbuchliteratur dar. (Suhrkamp)
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Sofort formte er (Zeus; Anm.), da des Feuers Gebrauch den Sterblichen nicht mehr zu nehmen war, ein neues Übel für sie. Der seiner Kunst wegen berühmte Feuergott Hephaistos mußte ihm das Scheinbild einer schönen Jungfrau fertigen; Athene selbst, die, auf Prometheus eifersüchtig, ihm abhold geworden war, warf dem Bild ein weißes, schimmerndes Gewand über, ließ ihr einen Schleier über das Gesicht wallen, den das Mädchen mit den Händen geteilt hielt, bekränzte ihr Haupt mit frischen Blumen und umschlang es mit einer goldenen Binde, die gleichfalls Hephaistos seinem Vater zulieb kunstreich verfertigt und mit bunten Tiergestalten herrlich verziert hatte. Hermes, der Götterbote, mußte dem holden Gebilde Sprache verleihen und Aphrodite allen Liebreiz. Also hatte Zeus unter der Gestalt eines Gutes ein blendendes Übel geschaffen; er nannte das Mägdlein Pandora, das heißt die Allbeschenkte, denn jeder der Unsterblichen hatte ihr irgendein unheilbringendes Geschenk für die Menschen mitgegeben. Darauf führte er die Jungfrau hernieder auf die Erde, wo Sterbliche vermischt mit den Göttern lustwandelten. Alle miteinander bewunderten die unvergleichliche Gestalt. Sie aber schritt zu Epimetheus, dem argloseren Bruder des Prometheus, ihm das Geschenk des Zeus zu bringen. Vergebens hatte diesen der Bruder gewarnt, niemals ein Geschenk vom olympischen Herrscher anzunehmen, damit dem Menschen kein Leid dadurch widerführe, sondern es sofort zurückzusenden. Epimetheus, dieses Wortes uneingedenk, nahm die schöne Jungfrau mit Freuden auf und empfand das Übel erst, als er es hatte. Denn bisher lebten die Geschlechter der Menschen, von seinem Bruder beraten, frei vom Übel, ohne beschwerliche Arbeit, ohne quälende Krankheit. Das Weib aber trug in den Händen ihr Geschenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel versehen. Kaum bei Epimetheus angekommen, schlug sie den Deckel zurück, und alsbald entflog dem Gefäße eine Schar von Übeln und verbreitete sich mit Blitzesschnelle über die Erde. Ein einziges Gut war zuunterst in dem Fasse verborgen, die Hoffnung; aber auf den Rat des Göttervaters warf Pandora den Deckel wieder zu, ehe sie herausflattern konnte, und verschloß sie für immer in dem Gefäß. Das Elend füllte inzwischen in allen Gestalten Erde, Luft und Meer. Die Krankheiten irrten bei Tag und bei Nacht unter den Menschen umher, heimlich und schweigend, denn Zeus hatte ihnen keine Stimme gegeben; eine Schar von Fiebern hielt die Erde belagert, und der Tod, früher nur langsam die Sterblichen beschleichend, beflügelte seinen Schritt.
(Aus "Sagen des klassischen Altertums" von Gustav Schwab)

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71.

Die Hoffnung. - Pandora brachte das Fass mit den Uebeln und öffnete es. Es war das Geschenk der Götter an die Menschen, von Aussen ein schönes verführerisches Geschenk und "Glücksfass" zubenannt. Da flogen all die Uebel, lebendige beschwingte Wesen heraus: von da an schweifen sie nun herum und thun den Menschen Schaden bei Tag und Nacht. Ein einziges Uebel war noch nicht aus dem Fass herausgeschlüpft: da schlug Pandora nach Zeus' Willen den Deckel zu und so blieb es darin. Für immer hat der Mensch nun das Glücksfass im Hause und meint Wunder was für einen Schatz er in ihm habe; es steht ihm zu Diensten, er greift darnach: wenn es ihn gelüstet; denn er weiss nicht, dass jenes Fass, welches Pandora brachte, das Fass der Uebel war, und hält das zurückgebliebene Uebel für das grösste Glücksgut, - es ist die Hoffnung. - Zeus wollte nämlich, dass der Mensch, auch noch so sehr durch die anderen Uebel gequält, doch das Leben nicht wegwerfe, sondern fortfahre, sich immer von Neuem quälen zu lassen. Dazu giebt er dem Menschen die Hoffnung: sie ist in Wahrheit das übelste der Uebel, weil sie die Qual der Menschen verlängert.
(Aus "Menschliches, Allzumenschliches" von Friedrich Nietzsche)

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