Leo Perutz: "Sankt Petri-Schnee"


Gratwanderung zwischen Erinnerung und Fantasie

Ein Ich-Bewusstsein, "ein schattenhaftes, mit dem Gefühl einer völligen Bestimmungslosigkeit gepaartes Bewusstsein meiner selbst", so in des Ich-Erzählers eigenen Worten, erwacht aus seiner Umnachtung und kommt allmählich wieder zur Besinnung. Der Träger dieses erwachenden Bewusstseins befindet sich als Patient in einem Krankenhaus. Er scheint zu halluzinieren, sieht Dinge im Krankenzimmer, die im nächsten Augenblick wieder verschwunden sind. Aber langsam dämmert die Erinnerung an seine jüngste Vergangenheit wieder herauf und verdichtet sich zu einer abenteuerlichen Geschichte. "Jetzt konnte ich mich an alles erinnern", sagt der Ich-Erzähler Georg Friedrich Amberg, ein Mediziner, aus dessen Perspektive Leo Perutz seinen Roman "St. Petri-Schnee" erzählt. Und Doktor Amberg berichtet von unglaublichen, von fantastischen Geschehnissen, und er berichtet auch von seiner Liebe zu Bibiche, einer temperamentvollen jungen Griechin. Das Krankenhauspersonal jedoch tut Ambergs Geschichte als Traumgespinst ab und liefert oder suggeriert ihm eine ganz andere Erklärung für seinen Aufenthalt in diesem Krankenhaus in Osnabrück. Die persönliche Erinnerung des Patienten kämpft also um ihre Autonomie, Amberg selbst um seine Identität, und verschiedene Personen treten an sein Krankenbett und gewissermaßen auch in den Zeugenstand, um seine Version der abgelaufenen Ereignisse entweder zu leugnen (wie der behandelnde Oberarzt) oder aber zu bestätigen (wie der Pfarrer von Morwede). Oder ist auch das Auftauchen des Pfarrers im Krankenhaus nur ein Traum gewesen?

Mehr sei an dieser Stelle dazu nicht verraten, um einen potenziellen Leser nicht des uneingeschränkten Vergnügens zu berauben; unbefangen, unvoreingenommen und ohne vorab zu ausführlich darüber informiert zu sein, in die spannende Handlung des Romans einzutauchen. Eine Handlung, die unter anderem auch in die Mythenwelt führt und beinahe als Stoff für eine Wagner-Oper herhalten könnte. Die menschliche Identität, die Verlässlichkeit seiner Erinnerungen, der Traum; diese Themen, eingebettet in mythisch-geschichtliche Zusammenhänge, sind Gegenstand des Romans. Es geht dabei um die Restituierung der Hohenstaufer-Dynastie, die ein größenwahnsinniger Landesfürst offenbar anstrebt, mittels einer alten, vergessenen Droge, des Muttergottesbrandes, auch St. Petri-Schnee genannt, zu erreichen.

Wem soll der Leser aber nun Glauben schenken, Doktor Amberg oder dem Arzt, der ihn im Krankenhaus betreut? Perutz macht seinen Lesern diese Entscheidung nicht leicht, streut Indizien, die auf die eine oder andere Art gedeutet werden können. Der Erzähler gesteht ein, einer seltsamen Spaltung seines Bewusstseins zu unterliegen; er weiß, dass Wahrnehmung und Wahrheit zwei grundverschiedene Dinge sind. Hans-Harald Müller merkt dazu in seinem Nachwort an, dass diese Eingeständnisse einerseits grundlegende Zweifel am Realitätscharakter von Ambergs Bericht wecken, dass aber andererseits gerade das Eingeständnis der Unsicherheit Ambergs Bericht etwas Authentisches verleiht. Eine für Leo Perutz typische Erzählkonstruktion, die auch an den "Meister des Jüngsten Tages" erinnern lässt.

St. Petri-Schnee, ursprünglich unter dem Titel "Muttergottesbrand" beziehungsweise "Muttergotteskorn" konzipiert, war Perutz’ erster bei Paul Zsolnay erschienener Roman, einem Verleger, der sich wie kein anderer um das erzählerische Werk des Leo Perutz verdient gemacht hat. Der Roman ist wie alle Perutz-Romane relativ kurz, gemessen an den aufgeblähten Schwarten (Historienschmöker, "Harry Potter" etc.), die heute den Buchmarkt beherrschen und das Körnchen Gehalt, das ihnen vielleicht noch zu eigen ist, unter sinnlosem Wortmüll begraben. Bei Perutz dagegen ist nichts überflüssig, kein Wort zuviel, und jedes Wort befindet sich bei ihm am richtigen Platz. Einzig zu bedauern aus Sicht des Lesers an Perutz’ konzisem Stil ist die Tatsache, dass das Vergnügen dieser unterhaltsamen Lektüre relativ schnell zu Ende ist. Aber selbst bei wiederholtem Lesen seiner Bücher wird man als Leser vom Autor Leo Perutz gefesselt sein, nicht mehr in erster Linie von der Spannung, sondern dann mehr von der Präzision, mit der Perutz seine logischen Fäden verknüpft hat, eine Präzision, die den geschulten Mathematiker (Leo Perutz war von Beruf Versicherungs-Mathematiker) immer wieder durchblicken lässt.

"St. Petri-Schnee" ist für mich niveauvolle Unterhaltung und große Literatur in einem. Die häufig diskutierte Frage, ob Perutz ein Unterhaltungsschriftsteller war oder ein Dichter, stellt sich für mich nicht, denn ich vermag nicht einzusehen, warum große Literatur nicht auch gleichzeitig spannend sein darf.

(Werner Fletcher; 08/2007)


Leo Perutz: "Sankt Petri-Schnee"
Mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller.
Zsolnay Verlag, 2007. 208 Seiten.
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Leseprobe:

Zweites Kapitel

Ich heiße Georg Friedrich Amberg und bin Doktor der Medizin. Mit diesen Worten wird mein Bericht über die Ereignisse in Morwede beginnen, den ich eines Tages schriftlich niederlegen werde, sobald ich physisch dazu imstande bin. Bis dahin wird wohl noch einige Zeit vergehen. Ich bin außerstande, mir Feder und Papier zu verschaffen, - ich soll ja ruhen, meine Gedanken ausschalten, auch verweigert mir mein verwundeter Arm den Dienst. Ich kann nichts anderes tun als das, was geschehen ist, mit allen Einzelheiten meinem Gedächtnis einprägen, ich muß es festhalten, damit nichts, auch nicht das scheinbar Unbedeutende, verloren geht, - das ist alles, was ich jetzt tun kann.

Ich werde in meiner Erzählung weit zurückgreifen müssen. Meine Mutter verlor ich wenige Monate nach meiner Geburt. Mein Vater war ein Historiker von Ruf, die Geschichte Deutschlands bis zum Interregnum war sein Spezialgebiet. In den letzten Jahren seines Lebens hielt er an einer mitteldeutschen Universität Vorlesungen über den Investiturstreit, über die deutsche Wehrverfassung zu Ende des dreizehnten Jahrhunderts, über Sinn und Bedeutung der Sonnenlehen und über die Verwaltungsreformen Friedrichs II. Als er starb, war ich vierzehn Jahre alt. Er hinterließ nichts als eine ansehnliche, aber etwas einseitig angelegte Büchersammlung, - sie enthielt außer den Klassikerausgaben nur historische Werke. Einen Teil dieser Bücher besitze ich noch heute.

Eine Schwester meiner Mutter nahm mich zu sich. Sie war eine pedantisch-strenge, wortkarge und nüchterne Frau, die selten aus sich herausging, - wir hatten einander wenig zu sagen. Dennoch werde ich ihr mein Leben lang Dankbarkeit bewahren. Ich hörte zwar kaum jemals ein freundliches Wort von ihr; aber sie wußte ihre geringen Mittel so einzuteilen, daß ich mein Studium fortsetzen konnte. Ich hatte schon als Knabe ein brennendes Interesse für das Wissensgebiet meines Vaters gezeigt, es gab kaum ein Buch in seiner Bibliothek, das ich nicht mehrmals gelesen hatte. Als ich aber kurz vor meinem Abiturium zum erstenmal die Absicht äußerte, mich dem Studium der Geschichte zu widmen und sodann die akademische Laufbahn einzuschlagen, sprach sich meine Tante mit aller Entschiedenheit dagegen aus. Geschichtsforschung erschien ihrem nüchternen Verstand als etwas Vages, Überflüssiges, der Welt und dem Leben Fremdes. Ich sollte einen praktischen Beruf ergreifen, mich, wie sie es ausdrückte, auf festen Boden stellen, also entweder Arzt oder Jurist werden.

Ich wehrte mich dagegen und es kam zu heftigen Auseinandersetzungen. Eines Tages rechnete mir meine Tante, pedantisch, wie sie war, mit Bleistift und Papier die Opfer vor, die sie Jahre hindurch gebracht hatte, um mir das Studium zu ermöglichen. Da gab ich nach, - was blieb mir anderes übrig! Sie hatte sich ja wirklich um meinetwillen Entbehrungen auferlegt und meinte es gut mit mir, ich durfte sie nicht enttäuschen. Ich inskribierte mich an der medizinischen Fakultät.

Sechs Jahre später war ich ein Arzt von durchschnittlichem Wissen und Können, wie es ihrer viele gibt, mit einem Jahr Spitalpraxis, ein Arzt ohne Patienten, ohne Geld, ohne Verbindungen und, was das Schlimmste ist, ohne innere Neigung für meinen Beruf. Ich hatte im letzten Jahr meiner Studienzeit unter der Einwirkung eines Erlebnisses, auf das ich noch zu sprechen kommen werde, gewisse Gewohnheiten angenommen, die ich mir eigentlich nicht hätte gestatten dürfen. Ich pflegte mich überall dort einzufinden, wo sich die vornehme Welt traf. So bescheiden ich hierbei auch auftrat, - meine veränderte Lebensweise erforderte eben doch erhöhte Ausgaben, und auch der Ertrag der Nachhilfestunden, die ich gelegentlich erteilte, reichte nicht aus, sie zu decken. So sah ich mich öfters gezwungen, wertvolle Bücher aus der Bibliothek meines Vaters zu verkaufen. In den ersten Jännertagen dieses Jahres befand ich mich wieder einmal in Geldverlegenheit, ich hatte kleine Schulden, die mich drückten. Unter den Büchern meines Vaters befanden sich die Werke Shakespeares und Molières, die letzten Klassikerausgaben, die noch vorhanden waren. Die trug ich zu einem mir befreundeten Antiquar.

Er übernahm die Bücher und bot mir einen Betrag an, den ich angemessen fand. Als ich schon in der Tür stand, rief er mich zurück, um mich darauf aufmerksam zu machen, daß die Shakespeare-Ausgabe unvollständig war. Der Band, der die Sonette und das "Wintermärchen" enthielt, fehlte. Im ersten Augenblick war ich bestürzt, zu Hause war er nicht, das wußte ich; aber dann fiel mir ein, daß ich ihn vor Monaten einem Kollegen geliehen hatte. Ich bat den Buchhändler, sich bis zum Nachmittag zu gedulden, und dann machte ich mich auf den Weg, um das Buch zurückzufordern. Ich traf meinen Kollegen nicht in seiner Wohnung an und entschloß mich, auf ihn zu warten. Aus langer Weile griff ich nach dem Morgenblatt, das auf dem Tisch lag, und begann zu lesen. Es ist nicht ohne einen gewissen Reiz, sich in die Minuten zurückzuversetzen, die dem unerwarteten Eintritt eines entscheidenden Ereignisses vorangingen. Sich zu fragen: Was hat dich damals beschäftigt, wo warst du, vor einer Wende deines Lebens stehend, mit deinen Gedanken? - Nun, ich saß in einem ungeheizten Zimmer und fror in meinem dünnen Überzieher; denn einen Wintermantel besaß ich nicht. Ohne besondere Aufmerksamkeit, nur um mir die Zeit zu vertreiben, las ich einen Bericht über die Verhaftung eines Eisenbahnattentäters, einen Artikel "Der Kaffee als Nahrungsmittel" und einen Aufsatz über das Geräteturnen. Ich war wütend über meinen Kollegen, ich fand es unverantwortlich von ihm, daß er mir das Buch nicht rechtzeitig zurückerstattet hatte, und außerdem irritierte mich noch ein großer Fettfleck in der Mitte des Zeitungsblattes, - wahrscheinlich hatte mein Kollege während der Lektüre gefrühstückt und sein Butterbrot war mit der Zeitung in Berührung gekommen.

Das Ereignis, das dann eintrat, hatte ein ganz gewöhnliches, ein beinahe nichtssagendes Gesicht. Mein Blick fiel auf eine Anzeige, das war alles.

Die Freiherr von Malchin’sche Gutsverwaltung in Morwede, Kreis Rheda, Westfalen, verlautbarte, daß sie die Stelle eines Gemeindearztes zu vergeben habe. Geboten wurde die Garantie eines jährlichen Mindesteinkommens, sowie freie Wohnung und Beheizung. Bewerber mit guter Allgemeinbildung sollten den Vorzug erhalten.

Daß ich für diese Stelle in Betracht kommen könnte, daran dachte ich zunächst gar nicht. Was meine Aufmerksamkeit erregte, war der Name des Gutsherrn. "Freiherr von Malchin und von der Bork" hörte ich mich sagen, und dabei fiel mir auf, daß dieses eine Wort "Malchin" den vollen Namen und Titel in meiner Erinnerung ausgelöst hatte. Er war mir geläufig. Aber wo hatte ich ihn gehört oder gelesen?

Ich dachte nach. Mein Erinnerungsvermögen schlägt manchmal sonderbare Wege ein. Eine Melodie ging mir durch den Kopf, irgend ein altes Lied, an das ich viele Jahre lang nicht gedacht hatte. Ich summte es vor mich hin, einmal und noch einmal, und dann sah ich das eichengetäfelte Zimmer und den Tisch, der mit Büchern beladen war, und ich saß am Klavier und spielte das Lied, und jetzt fiel mir auch der Text ein, er war banal genug: "Hab ich nur deine Liebe", so begann es. Mein Vater ging im Zimmer auf und nieder, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, so wie es seine Gewohnheit war. Draußen im Garten zwitscherte der Buchfink. "Die Treue brauch ich nicht", spielte ich, - so ging der Text weiter. "Freiherr von Malchin und von der Bork" meldete eine Stimme, mein Vater blieb stehen und sagte: "Lassen Sie den Herrn eintreten." Und ich stand auf und ging aus dem Zimmer, wie ich es immer tat, wenn mein Vater Besuch erhielt. Daß jener Besucher und der Gutsbesitzer in Morwede gar nicht dieselbe Person sein müßten, daß es vielleicht mehrere Träger dieses Namens gab, fiel mir erst viel später ein. Ich las die Anzeige noch einmal. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch und verfaßte ein Bewerbungsschreiben. Ich erwähnte flüchtig meinen Vater, beschrieb meinen Lebenslauf, soweit er einen fremden Menschen interessieren konnte, und machte Angaben über meinen Studiengang. Die Rückkunft meines Kollegen wartete ich nicht ab. Ich hinterließ ein paar Zeilen für ihn, in denen ich ihn um die sofortige Rückstellung des Buches bat, und dann ging ich zum nächsten Postamt und gab den Brief auf.

Die Antwort kam erst nach zehn Tagen; aber sie erfüllte meine Erwartung. (...)

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