Lajos Parti Nagy: "Meines Helden Platz"


Wenn das Proletariat mit der Weltherrschaft schnäbelt

Wohl aus werbestrategischen Gründen prangt auf der Vorderseite des Umschlags von "Meines Helden Platz" eine üblicherweise nicht an solch prominenter Stelle zu findende Anmerkung: "Übersetzt von Terézia Mora". Ein Name, der für Qualität bürgt, ein Gütesiegel? In der Tat, denn ein geistreicher Roman wie dieser verdient, nein, verlangt eine kongeniale Übersetzung.
Terézia Mora, am 5. Februar 1971 in Sopron (Ungarn) geboren, "Ingeborg-Bachmann"-Preisträgerin des Jahres 1999, beglückte die deutschsprachige Leserschaft u.A. bereits mit ausgezeichneten Übersetzungen von Péter Esterházys "Harmonia caelestis" (Berlin Verlag) und Péter Zilahys "Die letzte Fenstergiraffe. Ein Revolutions-Alphabet" (Eichborn) aus dem Ungarischen.

"Vor wenigen Minuten sind tausend weiße Vorschüler vom Heldenplatz in die Luft geschossen worden. Ihr entzücktes Gekreisch ist selbst durch das Stimmengewirr zu hören, von meinem Fenster aus sind sie schön zu sehen, wie sie fluoreszierend zwischen den beleuchteten, bauchigen Wolken verschwinden, um eine Minute oder eine halbe später wieder herunterzufallen, der eine schneller, der andere langsamer, je nachdem, ob sich sein Engelsfallschirm geöffnet hat oder nicht. Der Stromausfall ist gerade zu Ende gegangen, ich schreibe hastig, wer diese Sendung öffnet, wird verstehen, wieso. Es ist acht Uhr durch, abends, die Zeit läuft mir allmählich davon, morgen früh um acht wird mich aller Wahrscheinlichkeit nach eine gewisse Person besuchen, um mich mitsamt des Computers mitzunehmen und ausstopfen zu lassen, eventuell sogar zu häuten: einen ehemaligen Mitmenschen, ja Verbündeten, über den die Sprache des Blutes hinweggegangen ist. Ich habe also sehr wenig Zeit, eine einzige, angebrochene Nacht, spätestens Viertel vor acht morgen früh muß ich dieses verhinderte Skript-Konvolut zusammengestellt und per E-Mail versendet haben." (Beginn von "Meines Helden Platz")

Ihr erster Roman "Alle Tage" war anno 2004 in aller Munde ("'Alle Tage' ist das bestechende Albtraumbuch unserer Zeit" - DIE ZEIT; "Ein wahres Wunderbuch" - FAZ; "Und wenn Sie nichts müssen in diesem Herbst, das müssen Sie jetzt lesen. Sie müssen!" - DIE WELT).
Terézia Moras schwungvolle, kreative Übersetzung von "Meines Helden Platz" ist eine ebensolche Meisterleistung.

Palomismus verleiht Flügel


Im "Duden Fremdwörterbuch" findet sich zu "Populismus" folgende allgemeine Definition: "Von Opportunismus geprägte, volksnahe, oft demagogische Politik mit dem Ziel, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen zu gewinnen".
In "Meines Helden Platz" müssen die Massen kräftig Federn lassen, denn der am 12. Oktober 1953 im ungarischen Szekszárd geborene Lajos Parti Nagy hält den Zeitgenossen mit seinem anno 2000 entstandenen Roman in der Tradition klassischer Gesellschaftssatiren einen Spiegel vor, indem er auf humorvolle Weise das absurde Gehabe rabiater Umstürzler samt Hohlkopfwortschatz detailgetreu versprachlicht. Auch vermittelt er die Machtlosigkeit des Einzelnen gegenüber einem in sämtliche Bereiche des Daseins einsickernden Parteiapparat; doch Verlockungen der Macht, Bestechlichkeit und Verführbarkeit werden ebenso entschleiert wie die Mechanismen von Kollaboration und Wegschauen.

In dieser literarischen Gattung gängige Elemente wie Perspektivenwechsel und Rollentausch kennt man u.A. aus Michail Bulgakows "Hundeherz", Pierre Boulles "La planète des singes" (dt. "Planet der Affen") oder George Orwells "Animal Farm" (dt. "Farm der Tiere").
Lajos Parti Nagy macht in "Meines Helden Platz" turbulente Veränderungen des Gesellschaftsklimas vornehmlich anhand von Sinneseindrücken sichtbar und spürbar; Bilder, Gerüche und Geräusche vermitteln das eingekesselt Sein in einer mit jedem Tag befremdlicher werdenden Umgebung, wo selbst der Rückzug in die eigenen vier Wände keinerlei Schutz bietet, denn ein aufgeplusterter Wichtigtuer wie Cäsar Tubitza kommt und geht überall nach Belieben ein und aus.

Cäsar Tubitza, der größenwahnsinnige Oberrassenvizepräsident (nach einem internen Gemetzel sogar Rassenpräsident) mit einschlägig-billigem Vokabular, nistet sich vorerst beim Erzähler ein und verstrickt diesen im Zuge der überwiegend als aufgeblähte sexbesessene und machtgeile Monologe ablaufenden Unterhaltungen in einen Teufelskreis aus Überwachung, Verfolgungswahn und Zukunftsvisionen.
So soll der von Natur aus mit "Taubenhaut" gesegnete Erzähler namens Lajos als menschliches Versuchs"kaninchen" fungieren, um die Machbarkeit der Metamorphose zur Menschentaube zu testen, quasi als unfreiwilliger Prototyp einer genmanipulierten Ikarusvariation. Außerdem soll er sein schriftstellerisches Talent in den Dienst der Bewegung stellen.

Die "Lebenspalomistische Bewegung" verfügt über Hochleistungsmikrowellenbrutapparate und geheime Genstudios, man trägt unter jedem Flügel ein Mobiltelefon, die Schusswaffen sitzen locker, um ein Menschenleben macht man kein Federlesen. Spitzelwesen und Denunziation liegen in der Luft, denn schließlich soll die "neue Ordnung" im Zeichen des Krallenkreuzes obsiegen.
Blindwütige Umstürzler gehen über Leichen, daran lassen Cäsar Tubitzas unverhohlene Drohungen keinerlei Zweifel aufkommen. Wer aufmuckt, landet umgehend als Leiche im Fahrstuhlschacht.
Im Eifer des Wortgefechts kann es freilich schon einmal vorkommen, dass Dampfplauderer Tubitza anstelle von Wasserwerfern Turbowasserbetten bestellt, zur Schande der Bewegung, zumal diese Wasserbetten ausschließlich taiwanesische Sprachkommandos erkennen können. Wo gehobelt wird, fallen bekanntlich Späne - die eine oder andere Bruchlandung ist vorprogrammiert.
Cäsar Tubitzas cognackirschensüchtiges Weibchen Renzi, ein einfältiges Turteltäubchen, schießt in mancherlei Hinsicht den Vogel ab.

Auf vergnügliche Weise wird die bescheidene Intelligenz der Palomisten dargestellt, beispielsweise als Cäsar die Ereignisse in Lajos' Literatur für bare Münze nimmt und hartnäckig versucht, den verzweifelnden Schriftsteller über die Produkte der schriftstellerischen Fantasie auszuquetschen als handle es sich um Tatsachenberichte. Irgendwie sind sie das auch buchstäblich; doch dazu später.
Unter "Brüdern" wird ungeniert geschnattert - pardon, gegurrt -, wie der Schnabel gewachsen ist, Gesinnungsterror ist auf dem Vormarsch, Schlägertrupps ("Adlerboys") und "Kolibripitbulls" machen die Straßen (un)sicher, den Gruß "Reinenweizen" zu gebrauchen empfiehlt sich, man kaut lässig Weizengummi, eingehüllt in Domestosschwaden und Federpuder.

Die Vormachtstellung der Menschen soll nämlich beendet werden, und zwar ausgerechnet von neureichen Taubenemporkömmlingen, die sich anschicken, die Weltherrschaft zu übernehmen. Denn: "Der Punkt ist, keiner ist weniger wert als der andere, maximal mehr."
Stadttauben gehören nun gewiss nicht zur Elite der Vogelwelt, vielmehr werden sie von Menschen oftmals als "geflügelte Ratten", deren ätzender Kot Fassaden und Denkmäler verunziert und beschädigt, bezeichnet. Manche Städte leiden unter wahren Taubenplagen.
Wie Netzseiten zum Thema "Taubenabwehr" zu entnehmen ist, halten Rabenattrappen angeblich Tauben auf Distanz, und auch "Die Verschwörung des Fiesco zu Genua. Ein republikanisches Trauerspiel" von Friedrich Schiller liefert einen Denkansatz: "Wie Tauben auseinander flattern, wenn in den Schlag sich ein Geier wirft?"
In "Meines Helden Platz" findet sich jedoch weder eine Rabenattrappe noch ein Geier, und längst führen Tauben kein Schattendasein mehr, wie es Georg Trakl in "Verlassenheit" darstellte ("In den düsteren, dunklen Höfen fliegen Tauben umher und suchen sich in den Ritzen des Gemäuers ein Versteck. Sie scheinen immer etwas zu befürchten, denn sie fliegen scheu und hastend an den Fenstern hin.").
Ganz im Gegenteil, mit geschwellter Brust suhlt sich die dreiste Taube von heute im Großstadtunrat und weiß sich dabei in guter Gesellschaft. Zahlenmäßige Überlegenheit verleiht Einigkeit und Selbstbewusstsein.

"In meinem Buch geht es Macht, um Größenwahn, um Verführbarkeit und um die Angst der Menschen, Angst vor uns selbst. Welche Fehler und dummen Dinge wir machen. Ich glaube, das gilt für die ganze Menschheit. Ich meine, dass man seine Ängste im Griff haben soll." (Lajos Parti Nagy)

Möglicherweise wundert man sich zunächst ebenso wie der Ich-Erzähler des Romans, der bereits erwähnte Schriftsteller Lajos, als dieser von seinen Taubennachbarn angesprochen wird, wobei alles ganz harmlos anfängt und der Eindruck entsteht, des Erzählers Fantasie gehe beim Protokollieren gewisser Ereignisse mit ihm durch (bei Dichtern angeblich keine Seltenheit), zumal die Grenze zwischen als solchen kenntlichen Gedankenspielereien und realen Begebenheiten mit jeder Buchseite durchlässiger wird.
Obdachlose mutieren infolge Genusses eines experimentellen Weingemischs (zum Glück nur vorübergehend) zu Riesen, was die alarmierten Sicherheitsorgane ratlos mitansehen müssen, der Erzähler prahlt im Freundeskreis mit seinen tollkühnen Einfällen, und nach dem damit einhergehenden Besäufnis erwacht der Protagonist gleichsam zweigeteilt. Doch handelt es sich hierbei erst um den Auftakt eines weitreichenden Wandels; denn: Tubitzas Organisation verleiht auch Mitläufern Flügel - durchaus im Wortsinn.

Aber wo befindet sich der im Romantitel erwähnte Held? Sein Platz ist lange Zeit sozusagen "auf der anderen Seite des Computermonitors" - "Alice im Wunderland" lässt grüßen. Wie ein moderner "Kalif Storch" berichtet der "Doppelgänger" seinem alter ego, dem gebannt vor dem Bildschirm ausharrenden Schriftsteller, monatelang in tagebuchartig abgefassten E-Mails aus dem Hauptquartier der Palomisten ("Haus des Erwachens") von den dortigen Zuständen und vom Verlauf seiner Genesung nach der wahnwitzigen Hauttransplantation, im Zuge derer seine Kehrseite mit gefiederter Taubenhaut samt Flügeln ausgestattet worden ist. Prompt findet der Held Gefallen am mühsam erlernten Fliegen sowie am Aufstieg innerhalb der Bewegung, muss der Gemahlin Cäsar Tubitzas zu Willen sein und überhaupt allerlei Erniedrigungen ertragen. Allerdings gilt, dass am besten lacht, wer dies zuletzt tut!

Vor dem Monitor stellt der Literat Lajos mit Erschrecken fest, dass die Vorgänge in seiner Wirklichkeit zunehmend den von seinem Helden geschilderten Ereignissen entsprechen. Dem Menschen Lajos kommt in einer Art loser Rahmenhandlung die Rolle eines Chronisten zu, der im Lauf der "Nacht des Reinen Weizens" beide Erzählstränge verbindet.

Lajos Parti Nagy schwelgt stellenweise in überaus detailfreudigen atmosphärischen Schilderungen und ausufernden Monologen, die sich infolge Wiederholung unweigerlich abnützen; eine Geschmacksfrage sicherlich.
"Meines Helden Platz" besticht in erster Linie durch einfallsreiche Effekte und Sprachwitz, denn eines steht außer Zweifel: Der Autor hat zeitgenössischen Populisten genau auf die Schnäbel geschaut, ihre Parolen gerupft und sodann mit fremden Federn geschmückt.
Schließlich grinsen Figuren wie Cäsar Tubitza von zahlreichen Plakatwänden, und ihr Geschwätz dringt aus Radios und Fernsehapparaten.
Sagen Sie also nicht, werter Leser, man hätte Ihnen nicht rechtzeitig "Reinenweizen" eingeschenkt!

(kre)


Lajos Parti Nagy: "Meines Helden Platz"
(Originaltitel "Hösöm Tere")
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora.
Gebundene Ausgabe:
Luchterhand, 2005. 301 Seiten.
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Taschenbuch:
btb, 2007.
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Ein Buchtipp:

Terézia Mora: "Alle Tage"

Am Anfang hängt in einem abgetakelten Bahnhofsviertel ein Mann kopfüber von einem Klettergerüst. Sein Name ist Abel Nema, und man sagt ihm nach, ein Genie zu sein. Doch was nützt das, wenn sich einmal ein Leben derart verändert hat, dass sich nichts und niemand mehr am richtigen Ort befindet - am allerwenigsten man selbst. Zuerst verschwindet der Vater spurlos, dann, nachdem Abel ihm seine Liebe erklärt hat, der Jugendfreund, und schließlich bricht in seinem Heimatland auch noch ein Bürgerkrieg aus - seitdem sitzt er im Westen fest. Immer wieder nimmt er Anlauf, Herr über sein Schicksal zu werden, versucht sich als Lehrer und als Landstreicher, und am Schluss sogar als Ehemann. Er wird, und nicht nur einmal, geliebt, dennoch: "Eines Tages ist der talentierte Mensch, der ich bin, einfach verzweifelt."
Ein Prosalabyrinth von seltener Sprachkraft und einem ausgesuchten Reichtum an Bildern, der in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seinesgleichen sucht. Terézia Mora erzählt den Höllentrip eines entwurzelten und wortlosen Mannes, für den es am Ende doch eine Erlösung geben wird. (btb)
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