Frank Lisson: "Friedrich Nietzsche"

Ein Leben zwischen Genie und Wahnsinn


Mehr als bei jedem anderen Philosophen erschließt sich bei Nietzsche der Zugang zu seiner Philosophie über die genaue Kenntnis seiner Lebensumstände. Kaum ein anderer Philosoph der Moderne schrieb bekenntnishafter als jener Pastorensohn, welcher 1844 in Röcken bei Leipzig das Licht der Welt erblickte, nach einer frömmelnden Erziehung als streitbarer Antichrist ein wirkmächtiges Werk schuf, 1889 schwer erkrankt dem Wahnsinn verfiel und nach Jahren des Dahindämmerns am 25. August 1900 infolge einer Lungenentzündung in Weimar aus dem Leben schied.
Nietzsches Philosophie ist weitaus mehr als bloßes akademisches Räsonieren, es geht ihr nicht vorwiegend um die Kritik oder auch Richtigstellung von Denkweisen, ihr Grundcharakter ist vielmehr messianisch, sie tritt mit einem fast schon maßlos zu benennenden Veränderungsanspruch in die Welt, der in der Person ihres Schöpfers fokussiert, welcher sich über die fiktive Handlungsfigur des Zarathustra selbst zum quasi prophetischen Begründer einer neuen vornehmeren und vor allem mehr authentischen Menschenart stilisiert. Es geht letztlich um die Zucht von Übermenschen. Der Philosoph tritt somit als Evangelist auf, als Bote eines neuen Glaubens, nicht zufällig in Gestalt des persischen Religionsstifters Zarathustra (zw. 628 bis 551 v. Chr.), griech. Zoroastres, welcher in der Legende auch als Philosoph, Mathematiker, Astrologe und Magier verehrt wurde. Nietzsches Heilslehre inszeniert sich im liturgischen Tonfall einer Predigt, in dem Moment, wenn er mit elitärem Verkünderpathos seinen Hymnus auf den Übermenschen singt, dessen Kreator er zu sein wünscht und welcher - so charakterisiert Frank Lisson Nietzsches Kunstfigur - der Mensch ist, der sich selbst erschafft, der niemanden nachahmt, keiner Mode folgt und keiner Moral. Er ist das souveräne Individuum, das nur seiner eigenen Natur folgt und dabei die "ewige Wiederkehr" aller Dinge akzeptiert, in uneingeschränkter Liebe zum Schicksal (amor fati). In letzter Konsequenz gilt dem Übermenschen das delphische Postulat: "Werde, der du bist."

Friedrich Nietzsche ist, wenn auch vielleicht weltweit nicht der meistgelesene (dies wird wohl immer noch Karl Marx sein) so doch mit ziemlicher Gewissheit der am öftesten zitierte Philosoph dieser Erde. Seine griffigen und in der Aussage zugespitzten Aphorismen bieten sich dazu wie kein anderes Schrifttum an. Mehr Dichter denn Denker, war er der abgehobenen Gemeinschaft würdiger Kathederphilosophen von Anfang an verdächtig, hingegen er unter Laien schon bald nach seinem Ableben einen zuweilen exzessiven Kultstatus errang. Nietzsche traf um die Wende zum 20. Jahrhundert den Nerv der Zeit und wurde - so gibt Lisson angesichts einer anhaltenden Nietzscheeuphorie zu bedenken - weitgehend unkritisch zum Vordenker einer aristokratisch-romantischen Idealisierung des alten Europas stilisiert, welches es galt, verkörpert durch Deutschland, in heroischem Kampfe gegen die demokratische Idee des Westens zu verteidigen. Nietzsches Denken, so Lisson, wurde zur vorherrschenden ideologischen Orientierung in einem Krieg der Kulturen, der letztlich zum Ersten Weltkrieg eskalierte. In diesem Zusammenhang verdeutlicht Lisson die besondere Brisanz von Nietzsches Kulturphilosophie: "Für viele gebildete Deutsche, die Nietzsche lasen, war der Erste Weltkrieg auch ein Kulturkrieg. Ein Krieg der Werte, den sie gegen die moderne, materialistische, auf Handel und Konsum ausgerichtete neue Welt der westlichen Zivilisation führten. Die Furcht, es werde in Europa ein vollkommen seelenloser Amerikanismus zur Herrschaft gelangen, wie Oswald Spengler bereits 1914 prophezeite, war unter Intellektuellen und Bildungsbürgern weit verbreitet. Ein deutscher Sieg sollte diesen Prozess wenigstens verzögern." Der Erste Weltkrieg war dann auch ein so verstandener Kampf von "Helden gegen Händler", und Nietzsches "Zarathustra" sollte in diesen Tagen millionenfachen Sterbens zur Motivationsliteratur unzähliger deutscher Frontsoldaten werden, welche diesen als die Kampfmoral stählende Kriegslektüre im Feldgepäck mit sich führten. Man kann nicht sagen, sie hätten Nietzsche falsch verstanden - der (obgleich Nietzsche als Wegbereiter der Moderne gilt) akzentuiert antimodernistische Grundzug, ein ständig beschworener Heroismus und Kult um die Lust am gefährlichen Leben, die Rückwärtsgewandtheit und der Hang zum irrational Dunklen in seiner Philosophie gibt ihnen vielmehr Recht. Und es war nicht zuletzt dieser ausgerechnet lebensreformistische Aspekt in Nietzsches Denken, welcher die Philosophie des erklärten Antinationalisten und Hassers deutscher Lebensart dem späteren europäischen Faschismus geistig verwandt und deswegen verfügbar machen sollte.

Wie schon angedeutet: Nietzsches Philosophie ist von nicht geringer Brisanz. Ihre Radikalität bezieht sie aus den Lebensumständen eines vereinsamten und über lange Jahre von unaufhörlichen Schmerzen gemarterten Mannes, den die philosophische Literaturkritik zu Zeiten seines Schaffens zumeist nicht einmal ignorierte, bestenfalls bei sich bietender Gelegenheit seine Schriften vernichtend und bis zur tiefsten Herabwürdigung des Autors rezensierte, der wiederum - kaum weniger unduldsam als seine Kritiker - neben sich auch kaum eine andere Person als kongenial akzeptierte, was einer Hinterfragung seiner Thesen natürlich allemal wenig bekömmlich war. Als der dänische Schriftsteller und Kritiker Georg Brandes im Frühjahr 1888 damit begonnen hatte, an der Universität in Kopenhagen Vorlesungen "om den tyske filosof Friedrich Nietzsche" zu halten, damit großen Anklang bei der Studentenschaft findend, war es für Nietzsche im Grunde genommen bereits zu spät. "Genie und Irrsinn" hatten in der Person des deutschen Philosophen in diesem Augenblick bereits zueinander gefunden.
Biografien zu Nietzsche lesen sich nun oft als tendenzielle Apologetik, eine Tradition, der Frank Lisson mit seiner eher kritischen, in ihrem Bemühen um Lebenswahrheit Respekt gebietenden Würdigung einen relativ schroffen Abbruch tut. Nietzsche ist große Literatur und, so viel ist gewiss, sein Werk verdient Weltruhm, doch ist es deswegen noch lange nicht angebracht, den deutschen Künstlerphilosophen, als Menschen, der dahinter steht, mitsamt seiner Herrenmenschenvision zu vergöttern. Letzteres - die Selbstvergötterung - hat Nietzsche im Wahn selbst zelebriert, demnach jede Anbetungslust am Beispiel der Ikone selbst, ob der Lächerlichkeit solchen Gehabens, verwarnt sein sollte.

Ähnlich wie viele Nietzsche-Biografen vor ihm, orientiert sich Frank Lisson dem natürlichen Lauf aller Daseinsverhaftung folgend - streng chronologisch verfahrend - an den großen Lebensthemen und Lebensstationen des deutschen Philosophen. Solcherart veranschaulicht der Biograf dem Leser Nietzsches begeisterte Lektüre von Schopenhauers "Welt als Wille und Vorstellung", wodurch die philosophische Weltanschauung des Studenten Nietzsche einen bleibenden Schliff erhält. Dies tat sich 1865. Später, im Jahre 1874, sollte die Beschäftigung mit dem verfemten Individualanarchisten Max Stirner, dem Autor von "Der Einzige und sein Eigentum", der sagt: "Ich allein bin leibhaftig", Nietzsches Denken noch massiver als dermaleinst Schopenhauer prägen: Nietzsches Idealtypus des Übermenschen verkörpert einen heroisch-anarchischen Individualismus, der in seinen exklusiven Wesensmerkmalen frappant Max Stirners "Einzigem" gleicht. 1869 erhält Nietzsche eine außerordentliche Professur für Klassische Philologie an der Universität Basel. Was angesichts des jugendlichen Alters Nietzsches eine Sensation war. Dieser, so berichtet Lisson, wäre allerdings lieber Professor für Philosophie geworden, doch scheiterten diesbezügliche Avancen nicht zuletzt an seiner höchst unvollständigen philosophischen Bildung, die über eine tiefere Kenntnis von Schopenhauer und Immanuel Kant kaum hinausreichte.
Von überragender Bedeutung sind natürlich auch in Frank Lissons Nietzsche-Biografie die leidenschaftliche Freundschaft (und in weiterer Folge unversöhnliche Feindschaft) des Philosophen mit dem Komponisten Richard Wagner (1869 bis 1878), sowie seine schmerzliche Schwärmerei für Lou von Salomé (1882), die vermutlich zwei seiner Heiratsanträge zurückweist und ihm zuletzt nur noch eine zornige Erinnerung wert ist. An dieser Stelle knüpft Lisson mit Erwägungen zu Nietzsches unausgelebter Sexualität an, die er als ursächlich für eine enorme geistige Spannung erachtet, ohne die Nietzsches Werk kaum zu denken sei. Ein "gesunder", "glücklicher" Nietzsche hätte nicht ein Werk geschaffen, so, wie er es hinterlassen hat, weil es ihm an Veranlassung, an Notwendigkeit gefehlt hätte. Und Lisson führt diesen Gedanken der Sublimation von Sexualität auf kulturhistorischer Ebene fort, wenn er darauf spekuliert, dass Leid durch Verzicht Kreativität gebiert, wodurch sich vielleicht dafür eine Erklärung gibt, warum gerade im "leibfeindlichen" 19. Jahrhundert mehr große Dichtung, Musik und Philosophie hervorgebracht worden ist als jemals zuvor und danach. Und nicht selten entstammten die Künstler und Denker einem zur Prüderie neigenden protestantischen Milieu. Wie eben Nietzsche auch, der sich selbst zuweilen danach sehnte, ein wenig mehr barbarisch zu sein und, so Lisson, sich mit philosophischer Wut gegen die würgende Moral der "Verächter des Leibes" ergrimmt.

Nietzsches Philosophie ist in einigen ihrer Momente selbst für das 19. Jahrhundert als nicht nur unzeitgemäß, sondern, wegen ihrer unhistorischen Orientierung an der griechischen Antike, überdies als keineswegs unproblematisch zu erachten. Immer wieder formuliert er angeblich "neue" und "explosive" Thesen, die in Wahrheit, nach Meinung Lissons, des Öfteren einfach nur recht antiquiert und gestrig sind. Das Unzeitgemäße in Nietzsches Schreibart umschreibt wiederholt lediglich Vorzeitiges. Keineswegs sollte des Philosophen Werk deswegen, wie leider so oft der Fall, in unkritischer und gar verehrender Lesart aufgenommen werden. Lisson verweist auf den Umstand, dass Nietzsche ganz bestimmt und Zeit seines Lebens leidenschaftlicher Antidemokrat war, über seine Philosophie eine Aristokratie (des Geistes) zu legitimieren trachtete, der Demokratie selbst unaufhörlich in den Schriftzeilen frevelte und - wie um der Ansammlung von Ungeheuerlichkeiten auch noch die Krone aufsetzen zu wollen - die Sklavenhaltergesellschaft der griechischen Antike als "tiefsinnige Nothwendigkeit" deutete, welche keineswegs geschichtlich überholt sei. Ein Hauptgrund für den Verfall moderner Kulturen bestünde nämlich darin, dass sie den offenen Sklavenstand abgeschafft haben: "Demgemäß müssen wir uns dazu verstehen, als grausam klingende Wahrheit hinzustellen, dass zum Wesen einer Kultur das Sklaventhum gehöre." Es müsse "blinde Maulwürfe der Cultur" geben, welche die anfallenden Arbeiten verrichten, damit die Anderen, die Freien, Gelegenheit bekämen, sich ungestört den kulturschöpferischen Aufgaben zu widmen, die da wären: Musik treiben und Politik, Kriege führen, Dichtung, Philosophie.
Betont reaktionär und überdies destruktiv, weil ohne jede Idee eines alternativen Zukunftskonzepts, fällt nach Meinung von Lisson ferner Nietzsches aggressive Kritik am Bildungssystem seiner Zeit aus, über welche er die "Demokratisierung" der Bildung als "Vorstadium des Kommunismus" denunziert, als eine letztlich verächtliche Nivellierung deutschen Geistes, welche einzig der Rekrutierung von Massenheeren an funktionsfähigen Wirtschafts- und Staatsknechten diene. Um die Kultur von Philisterei und Gleichmacherei zu kurieren fordert Nietzsche ein Bekenntnis zum Bildungsidealismus im Sinne Humboldts, dem stets ein Ideal klassischer Bildung leuchtete, das, so Lisson, nach Nietzsches Interpretation "Leben im Sinne großer Geister mit dem Zwecke großer Ziele" bedeutet.

Was nun Nietzsches Wahnsinn betrifft, erlegt sich der Biograf keinerlei Zurückhaltung auf und spekuliert über eine frühzeitigere Datierung geistiger Wirrnis, frühzeitiger als üblich, die demnach, bei Deutung von Nietzsches - bekanntlich besonders brillantem - Spätwerk, nicht außer Acht gelassen werden dürfe, diesem solcherart einen Hauch Irrsinns einatmet. Immerhin äußert sich Cosima Wagner schon 1878 über eine geistige Erkrankung Nietzsches - also Jahre vor der Niederschrift des "Zarathustra" und der "Geburt des Übermenschen" (1883 bis 1885).
Nietzsches Denken, seine Kulturkritik und scharfzüngigen Polemiken sind teils bedenklich. Untadelig hingegen mutet sich Nietzsches Verhältnis mit den Juden an, zu welchen er persönliche Freundschaften unterhält und die er als gesellschaftliche Gruppe hoch schätzt. Eine Neigung, die ihm seitens der verhassten Antisemiten zum Vorwurf gemacht wird. So empört sich Cosima Wagner (die Frau Richard Wagners) über Nietzsches enge Freundschaft mit dem jüdischen Intellektuellen und zeitweiligen philosophischen Weggefährten Paul Rée in ihrem Kommentar zu Nietzsches Buch "Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister" mit den kaum zu ihrer höheren Ehre gereichenden Worten: "Vieles hat mitgewirkt zu dem traurigen Buche! Schließlich kam noch Israel hinzu in Gestalt eines Dr. Rée, sehr glatt, sehr kühl, gleichsam durchaus eingenommen und unterjocht durch Nietzsche, in Wahrheit aber ihn überlistend, im Kleinen das Verhältnis von Judäa und Germania (...) ich habe für jeden Satz, den ich gelesen, einen Kommentar, und ich weiß, dass hier das Böse gesiegt hat." (Cosima Wagner an Marie von Schleinitz, 9. Mai 1879)

Resümierend lässt sich nun sagen, dass Lisson durch seine erfrischend respektlose und doch nicht ehrrührige Annäherung an die Ikone Nietzsche überzeugt. Immerhin ist Nietzsche auch in unseren Tagen, allein schon ob der Sprengkraft seines unkonventionellen "nomadischen Denkens" nach wie vor von überragender Bedeutung, und so stellten Jürg Altwegg und Aurel Schmidt in ihrem 1987 veröffentlichten Porträt der französischen Nachkriegsphilosophie "Französische Denker der Gegenwart" in diesem Sinne unumwunden fest, dass deren Entwicklung im Wesentlichen mit einer Absetzung Hegels und einer Inthronisierung Nietzsches einhergegangen sei und ohne Nietzsche eigentlich kaum etwas davon verständlich werde. Für Foucault hat Nietzsche eine andere Art zu philosophieren - zu "diagnostizieren" - eingeleitet und Deleuze stellte Nietzsche entgegen die imperialen Bürokratien von Marx und Freud, stilisierte solcherart den Deutschen zum Begründer einer zukunftsweisenden Gegenphilosophie, über welche das "Recht auf Sinnwidrigkeit" zum Zuge kommt, und die ein Denken freigibt, das in Relation zu einem Außen steht, "Denken in frischer Luft", woraus sich dann auch "Momente dionysischen Lachens" ergeben. Nietzsche wird solcherart über die Auslegung seines Werkes durch die französische Nachkriegsphilosophie zu einem Ahnherr der Postmoderne - die Franzosen feiern ihn, die Deutschen verbleiben ihm gegenüber jedoch reserviert.
Lisson nun betont in seiner Biografie kritische Aspekte, und zwar in einer gar nicht so üblichen Intensität. Und geht damit ein Risiko ein, denn möglicherweise wird so mancher Leser das Buch im Zorn voreilig weglegen, noch bevor er es zu Ende gelesen hat. Als Argument könnte der zornige Lektüreabbrecher dann geltend machen, dass zwar der eine oder andere Kritikpunkt aufgeworfen werde, der um Gerechtigkeit bemühte Versuch einer Apologetik jedoch zugleich ausbleibe. Dass dieser Versuch einer Verteidigung von Nietzsches Position ausbleibt, liegt wohl primär an der Platzknappheit und ist zudem auch nicht Gegenstand einer Biografie, der es um die vielfältigen Facetten eines trotzigen Philosophenlebens, nicht jedoch um die letztgültige Gerechtigkeit für sein Denken geht. Trotzdem wäre es reizvoll gewesen, Nietzsches Kulturkritik, so zum Beispiel sein aufreizendes und bis dato noch selten so direkt angesprochenes Plädoyer für die Sklavenhaltergesellschaft oder seine - nicht einmal aus den Zeitumständen verständliche - Polemik gegen die Demokratisierung der Bildungseinrichtungen, einmal nicht nur im Lichte einer kleinlichen Auffassung politischer Korrektheit zu sehen, sondern in wirklich kritischer Manier als Denkmöglichkeit auszudeuten, die zwar politisch unmöglich ist, jedoch den Blick auf Fehlentwicklungen schärfen hilft. Der Gedanke einer Entrechtung von Menschenmassen zum Vorteile einer sich anmaßend philosophisch wähnenden Aristokratie, welche ihr despotisches Anspruchsdenken als naturrechtliches Privileg des Stärkeren legitimiert, muss aus jeder Gegenwartsperspektive zwar als ungehörig erscheinen, doch darf die Frage gestellt sein, wie viele aus dieser entrechteten - weil ohne Unterlass sich selbst entrechtenden - Masse denn nun wirklich nach höherem Geistesadel streben oder sich nicht vielmehr in ihrer ebenso bequemen wie behäbigen Niedrigkeit wohlig eingenistet haben und dann auch noch stolz auf ihr Unvermögen sind? Ist der geistige Sklavenstand nicht also schon viel eher Realität denn eine ungeheure Forderung, beruht ergo Versklavung dann nicht auch auf einer Selbstbestimmung zur Unfreiheit - auf einer Art freiwilligem Bekenntnis zum Sklavenstand? Und das trotz jeder löblichen Sozialpolitik, die sich seit Jahrzehnten vergeblich um Erhöhung des Menschen abmüht. Dies als Diskussionsweise zu erkennen und in heroischer Redlichkeit öffentlich auszusprechen, dann auch noch daraus auf eine (den scheinbaren Fortschritt) negierende Konsequenz zu schließen, das war allerdings schon zu Nietzsches Zeit wahrlich unzeitgemäß und erforderte Mut zur intellektuellen Prügelei.
Dieser Mut machte sich freilich belohnt. Mit seiner Kritik am Bildungssystem erntete Nietzsche bei seinen Vorträgen beim Publikum erstaunlich viel Zuspruch, wohl weil er mit seiner Kulturkritik an ein Unbehagen rührte, von dem Andere lieber die Finger ließen. Lisson berichtet davon. Der Leser von heute sollte sich nun überlegen, inwiefern Nietzsche mit seiner vordergründig reaktionären Kritik nicht richtig liegt und solcherart eine eigentlich zutiefst humanistische Position bezieht. Indem er nämlich den überwiegenden Nutzengedanken an der vorherrschenden Bildungspolitik in Verruf bringt und stattdessen eine Bildung einfordert, die den Menschen nicht zur beruflichen Zweckmäßigkeit formt, sondern auf eine Ausbildung seiner Möglichkeiten abzielt, ihn sozusagen der Vision einer höherwertigen Idee von Menschheit nahe setzt, ihn in Hinblick auf eine Potenzialität zur Entfaltung bringt, die weit über dem liegt, was im Alltag als gewöhnliche Wirklichkeit des Menschen erscheint. Das in seiner schöpferischen Kraft souveräne Individuum als Ziel von Bildung und Kultur, diese Idee kann nicht inhuman sein, obgleich ihre Absolutsetzung bei Nietzsche dem Gleichheitsgedanken zuwider läuft. Doch sollte umgekehrt die Nivellierung potenziell hochbegabten Lebens fürwahr der Endzweck allen menschlichen Strebens sein?
Lisson führt diese Gedanken nicht aus, denn er verfasste eine Biografie und formulierte hiezu kritische Punkte, die einer Ergänzung bedürfen, welche zu leisten er dem Leser überlässt. Lesen heißt mitdenken und nachdenken. Gegenständliches Buch gibt somit also nicht nur einen hinreichend detaillierten Blick auf Nietzsches Leben, sondern leitet insbesondere auch zum Weiterdenken an. Und dieses ganz im Sinne des deutschen Dichterphilosophen, denn Nietzsche bedeutet gleichsam Provokation und Irritation, keineswegs jedoch Gewissheit und selbstgenügsames Wissen. Sein Denken ist, wie auch sein räumlich-zeitlicher Lebensvollzug, im besten Sinne nomadisch geartet. Unentwegt wechselte er seinen Wohnsitz, mied dabei das ungeliebte Deutschland, tendierte zum lichtdurchfluteten Italien, liebte den kleinen Ort Sils-Maria in der Schweiz, in gebirgiger Höhe, der seiner angegriffenen Gesundheit seit 1881 eine wiederkehrende Labsal ist. Ruhelos und widerwillig, da aus (innerer) Notwendigkeit zu immer neuen Anstrengungen getrieben, flieht er aber selbst das Paradies auf Erden, als welches ihm Sils-Maria zuerst erscheint. Die nomadische Figur des Wanderers war dann auch sein eigentliches Wappensymbol - seine Philosophie eine Philosophie des Wanderers. Nietzsche hasste es, ob der damit verbundenen Beschwerlichkeiten, zu reisen, weiß Frank Lisson zu berichten. Das Wandern war ihm zwar lieb, jedoch eben beschwerlich, insoweit es sich um eine körperliche und nicht bloß geistige Wanderschaft handelte. Geistig und örtlich unbehaust zu sein, stattdessen die Welt und Welten zu durchwandern, war Nietzsche keine eigentliche Tugend, sondern das Gebot seines Naturells, welches ihm als despotischer Trieb innerlich war. Er wanderte und wandelte durch Räume und Zeiten, so und so. Das vorliegende Porträt Nietzsches wird diesem Bildnis eines verzweifelt nach Welt (gar nicht so nach Wahrheit) Suchenden gerecht. Und bei aller Klarheit über die bloße Vita des Philosophen, so verbleiben dem Leser dann doch noch ein Kompendium an Unstimmigkeiten und Fragwürdigkeiten, mit welchen er sich abzukämpfen hat. Aus Nietzsche erwächst eben Ruhelosigkeit und nicht apollinische Ordnung, sondern schöpferisches Chaos, das zum Aufbruch ins Ungewisse aufrührt: Wahrlich so und nicht anders war Nietzsches Leben. Dionysisch berauscht, im Wahnsinn eine letzte Vernunft erahnend.

(Harald Schulz; 12/2004)


Frank Lisson: "Friedrich Nietzsche"
dtv, 2004. 192 Seiten; mit farbigen Abbildungen.
ISBN 3-423-31077-4.
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Frank Lisson, geboren 1970 in Norddeutschland, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Würzburg und München. Er ist Publizist und freier Mitarbeiter verschiedener Rundfunkanstalten und lebt in Würzburg. Veröffentlichungen zu historischen und politischen Themen.

Ein weiterer Buchtipp:

Wiebrecht Ries: "Nietzsche zur Einführung"

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