Pablo Neruda: "Ich bekenne, ich habe gelebt"

Memoiren


"Viele meiner Erinnerungen sind im Akt der Anrufung geronnen, sind Staub geworden wie ein unwiederbringlich zerbrochenes Glas."

Das rastlose Leben eines poetischen Botschafters, der "Stimme Chiles", in eigenen Worten
Pablo Neruda wurde als Neftalí Ricardo Reyes y Basualto am 12. Juli 1904 als Sohn des Eisenbahners José del Carmen und Doña Rosa Basoalto in Chile (dem, wie Neruda es nannte, "dünnen Land"), genauer in Parral geboren. Er starb als weltweit anerkannter Dichter am 23. September 1973 in Santiago de Chile.

Diese beiden Daten markieren Eckpunkte einer in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlichen und schaffenskräftigen Existenz.
Nerudas Mutter starb wenige Wochen nach seiner Geburt, zu seiner Stiefmutter hatte er ein inniges Verhältnis; sein erstes Gedicht widmete er immerhin dieser Frau.
Schon als Schüler verschlang der zunächst schüchterne, einzelgängerische Pablo Neruda (er gab sich dieses Pseudonym, Pate stand der tschechische Dichter Jan Neruda, im Alter von 14 Jahren, um vom Vater unerkannt Gedichte zu veröffentlichen) Bücher und schrieb Gedichte, die - vieler Dichter erster Schritt in die Welt der Poesie - seinen melancholischen Weltschmerz konservierten, und stach durch seine hagere Gestalt ("Hungerpoet") und die vornehmlich schwarze - wenngleich armutshalber zumeist zerschlissene - Kleidung ins Auge.
In der ihm eigenen Sprache, die es zuwege bringt, den Leser binnen weniger Zeilen in ihren im besten Sinne sinnlichen Sog zu ziehen, schildert Neruda seine Kindheit; allerdings ist diese auf nur knapp 38 Seiten abgehandelt - Kindheit und frühester Jugend wurde somit erstaunlich wenig Raum gegeben.

In seinen Memoiren, die Pablo Neruda übrigens auf seinem Anwesen in Isla Negra, wo er im Angesicht des geliebten Meeres allerlei Schätze, Mitbringsel aus fernen Ländern, ansammelte, zu diktierten pflegte, wobei mitunter Jahre der Unterbrechung zwischen den einzelnen Bearbeitungsstadien lagen, breitet der Literaturnobelpreisträger sein intensives Leben in bewegten Zeiten vor seinen Lesern aus. Stationen der politischen Laufbahn Pablo Nerudas waren u. a. chilenischer Botschafter, er bewarb sich um die Präsidentschaft seines Landes und kämpfte an der Seite Allendes.

1927 verließ Neruda erstmals Chile, und zwar Richtung Ceylon, wo er Konsul werden sollte. (Seine Aufgabe bestand darin, die Papiere des alle drei Monate aus Kalkutta eintreffenden Schiffes abzustempeln.)
1932 kehrte er nach Chile zurück, 1933 wurde er zum chilenischen Konsul in Buenos Aires ernannt, 1934 nach Barcelona versetzt, doch erkannte sein Vorgesetzter: "Pablo, Sie müssen nach Madrid. Dort ist Poesie. Hier in Barcelona müssen diese schrecklichen Multiplikationen und Divisionen gemacht werden, die Ihnen nicht gewogen sind." (Anm.: Neruda war schon in der Schule mit der Mathematik auf Kriegsfuß gestanden.) Des Postens in Madrid wurde Neruda wegen seiner Teilnahme an der Verteidigung der Spanischen Republik enthoben, woraufhin er sich nach Paris begab. Später wurde er nach Mexiko entsandt. Infolge der dortigen Erlebnisse gab er den Posten als Generalkonsul endgültig auf ("diplomatischer Selbstmord") und fuhr wieder nach Chile.

Es begann, was als Nerudas "Hinwendung zum Kommunismus" bezeichnet wird. Am 15. Juli 1945 trat er in die Kommunistische Partei Chiles ein, die er bis 1948 im Senat vertrat. Doch der von Neruda unterstützte Präsidentschaftskandidat, González Videla, enttäuschte die in ihn gesetzten Hoffnungen und Erwartungen und erwies sich als gleichermaßen unwürdig wie untauglich. Pablo Neruda, er hatte mittlerweile die Arbeiten an "Der Große Gesang" beendet, hielt flammende Reden wider den Tyrannen und die Missstände im Senat und musste, von den polizeilichen Schergen als Staatsfeind verfolgt,  im Verlauf einer abenteuerlichen Flucht über Argentinien und ausgestattet mit Papieren, die ihn als den guatemaltekischen Schriftsteller Miguel Angel Asturias auswiesen, in Paris untertauchen. Sein Glück: Er traf dort auf den "genialen Minotaurus der modernen Malerei", Picasso, der umgehend alle Hebel in Bewegung setzte, Neruda zu helfen, sodass dieser im französischen Exil verweilen durfte.

Doch auch von seinen erotisch-amourösen Abenteuern mit betörenden Schönheiten vieler Herren Länder und seinen Ehen erzählt der ebenso leidenschaftliche wie politisch engagierte Dichter Delikates und Interessantes. Überdies berichtet Neruda von seinem allen Widerständen trotzenden Einsatz für spanische Auswanderer, als Nazi-Deutschland dabei war, sich die Nachbarländer einzuverleiben. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umbrüche und historischen Ereignisse verortet der Dichter seine Werke, beginnend bei der aus eigener Tasche finanzierten Veröffentlichung seines ersten Buchs "Crepusculario" im Jahr 1923, 1924 folgte das Werk "Veinte poemas de amor y una canción desesperada" ("Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung"), er erzählt vom nicht immer einfachen Weg, dem Ruf des ureigenen Stils zu folgen, und gewährt Einblicke in seinen Freundeskreis, dem ebenso zeitgleich aufgehende Sterne der Literaturszene wie bereits arrivierte Künstler jener Tage angehörten, beispielsweise Paul Éluard, Aragon, Ilja Ehrenburg, Nâzim Hikmet und der später in Granada ermordete Federico García Lorca.

1949, Pablo Neruda war soeben aus Frankreich nach Chile zurückgekommen, erhielt er eine Einladung in die Sowjetunion, wo er an den Feierlichkeiten zu Ehren des hundertfünfzigsten Geburtstags von Puschkin teilnahm. 1950 führte ihn eine politische Mission abermals nach Indien, 1951 besuchte er China, anschließend weilte er in Italien, wo die begeisterten Sympathiekundgebungen seiner Anhängerschaft mit dazu beitrugen, dass ihm Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde. Pablo Neruda ließ sich mit seiner langjährigen Gefährtin und späteren Ehefrau, Matilde Urrutia, auf Capri nieder, wo er "Die Verse des Kapitäns", ein in den Jahren des europäischen Exils begonnenes Buch, vollendete. 1952 konnte Neruda nach Chile zurückkehren, und es folgten einige ruhige Jahre.

Wohin ihn seine Reisen auch führten (China, Japan, Indien, ...), Nerudas Hingabe an die Schönheit der Natur wie auch die aufmerksame Offenheit für landesbedingte Verschiedenheiten und seine Empfindsamkeit gegenüber unterdrückten Volksgruppen ließen ihn die bewegenden Eindrücke in Form von zauberhaften Wortgebilden und griffigen Anekdoten mit einer Unmittelbarkeit und Dichte, welche ihresgleichen sucht, abbilden. Wie er selbst ausführte: "Vielleicht sind Liebe und Natur schon früh die Grundelemente meiner Dichtung geworden", "bis heute bin ich ein Dichter der freien Natur, des kalten Urwalds (...)".

Die folgenden Kapitel befassen sich - ohne chronologische Ordnung - mit weiteren zeitgeschichtlichen Geschehnissen, Nerudas Ansichten das Schreiben und die Zensur betreffend, seiner Sammelleidenschaft, Erinnerungen an aus dem Leben geschiedene Weggefährten, an Dichter und Dichterinnen, die in Literatenkreisen üblichen, mehr oder minder vornehm gepflegten Feindschaften und an Spione, Intrigen und Politiker (Stalin war angeblich von den Versen Nerudas angetan; Fidel Castro lud Neruda zu einem Empfang, Che Guevara eröffnete dem Dichter, er lese seinen Guerilleros nachts in der Sierra Maestra Nerudas "Großen Gesang" vor, ...). Und natürlich findet der ihm nach langem Warten 1971 zuerkannte Nobelpreis Erwähnung.
1969 war Neruda vorübergehend Präsidentschaftskandidat, zog seine Kandidatur jedoch zurück, als Salvador Allende die seine (es war seine vierte) bekanntgab und unterstützte den Kandidaten der Volksfront.
Ab 1971 wurde Pablo Neruda für zwei Jahre chilenischer Botschafter in Paris.
Am 11. September 1973 kam Präsident Allende im Zuge des Militärputsches durch General Augusto Pinochet zu Tode. ("Allendes Werke und Taten von unauslöschlichem nationalem Wert erzürnten die Feinde unserer Befreiung. Den tragischen Symbolgehalt dieser Krise offenbart die Bombardierung des Regierungspalastes; sie erinnert an den Blitzkrieg der Naziluftwaffe gegen schutzlose ausländische Städte, spanische, englische, russische. Nun geschah das gleiche Verbrechen in Chile; chilenische Piloten griffen im Sturzflug den Palast an, der zwei Jahrhunderte lang der Mittelpunkt des bürgerlichen Lebens des Landes gewesen war.")

Mit diesen Ereignissen enden die Memoiren Pablo Nerudas, der nur wenig später starb. 1971 war Prostatakrebs festgestellt worden (was Neruda selbst nicht wusste). Fest steht, dass er, der die sich überstürzenden Ereignisse des 11. September 1973 im Radio verfolgte, noch am selben Tag hohes Fieber bekam und am 18. September ins Krankenhaus nach Santiago gebracht wurde, wo er am 23. des selben Monats starb.

Es handelt sich um ein inhaltlich wie sprachlich überaus interessantes und uneingeschränkt lesenswertes Buch, das einige Kapitel der Geschichte des 20. Jahrhunderts beleuchtet.
Zuguterletzt hat der poetische Botschafter selbst noch einmal das Wort, und zwar in Form einiger besonderer Zitate:

"Spanien hat meinem Land die Unbequemlichkeit und die Geringschätzung gegenüber der Strenge der Natur vermacht."
"Ich habe mich nie für Definitionen, für Etiketten interessiert. Ästhetische Diskussionen langweilen mich zu Tode. Ich unterschätze nicht die, welche dergleichen verfechten, ich fühle mich nur der Geburtsurkunde wie dem Nachruf des literarischen Schaffens gleichermaßen fremd."
"Meine Dichtung und mein Leben sind wie ein amerikanischer Fluss verlaufen, wie ein in der geheimen Tiefe der australen Berge geborener chilenischer Sturzbach, der seinen Strom unablässig dem Meer entgegenlenkt. Meine Dichtung verstieß nichts von dem, was ihr Strom mitführte: sie nahm die Leidenschaft hin, förderte das Geheimnis zutage und bahnte sich einen Weg in die Herzen des Volkes."

(kre)


Pablo Neruda: "Ich bekenne, ich habe gelebt. Memoiren"
(Originaltitel: "Confieso que he vivido. Memorias")
Deutsch und mit einem Nachwort von Curt Meyer-Clason.
Luchterhand. 472 Seiten.
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Zur Rezension eines Gedichtbandes von Pablo Neruda ...

Ergänzende Filmtipps:
Da wäre zum Einen "Ardiente Paciencia" ("Mit brennender Geduld") nach dem Buch von Antonio Skármeta, vom Autor selbst verfilmt, aus dem Jahr 1990, worin die Geschichte der Freundschaft zwischen dem Postboten Mario Jiménez und Pablo Neruda thematisiert wird. Humorvolle Hommage an den Literaturnobelpreisträger und politische Parabel über die Macht des Wortes zugleich, war die Geschichte die Vorlage für den Film "Il Postino".
Antonio Skármeta wurde 1940 in Antofagasta, Chile geboren. Er verließ 1973 nach dem Putsch Pinochets seine Heimat und verbrachte viele Jahre im Exil in Berlin. 1989 kehrte er zurück nach Chile und wurde im Sommer 2000 als Botschafter seines Landes nach Berlin berufen.
Zum Anderen der bereits erwähnte Film "Il Postino" ("Der Postmann") aus dem Jahr 1994. Regie führte Michael Radford, als Darsteller wirkten Massimo Troisi, Philippe Noiret, Maria Grazia Cucinotta und Linda Moretti mit.
Ein schüchterner Fischer (Massimo Troisi) wird Briefträger und bringt dem im italienischen Exil weilenden späteren Nobelpreisträger Pablo Neruda (Philippe Noiret) die zahlreichen Briefe. Er gewinnt die Freundschaft des Poeten und darüber hinaus mit dessen Hilfe Selbstvertrauen und die Liebe der schönen Beatrice.

Weitere Buchtipps:

Carla Guelfenbein: "Nackt schwimmen"
Der neue Roman der chilenischen Autorin Carla Guelfenbein erzählt von einer kompromisslose Liebe, die an den Abgrund der chilenischen Geschichte gerät:
Morgana und Sophie verbindet eine innige Freundschaft, bis Sophie von der Liebe zwischen ihrem Vater Diego und Morgana erfährt. Diese Liebe ihrerseits wird von dem Putsch des Militärs auf die Probe gestellt, und die Ereignisse überstürzen sich: Begegnungen an ständig wechselnden Verstecken, eine Schwangerschaft, ein geplatzter Fluchtversuch.
Jahrzehnte später folgt Sophie einer leisen Ahnung auf Versöhnung und versucht, das Schweigen über die damaligen Geschehnisse zu brechen. Eine Dreiecksgeschichte von betörender Sinnlichkeit und atemberaubender Spannung.
Carla Guelfenbein wurde 1959 in Santiago de Chile geboren. Mit siebzehn Jahren verließ sie Chile zusammen mit ihrer Familie, weil diese in Opposition zum Regime Pinochets zunehmend unter Druck geriet. Im englischen Exil studierte Carla Guelfenbein Biologie und Design. Heute lebt sie als Schriftstellerin und Drehbuchautorin wieder in ihrer Heimat. (
S. Fischer)
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Antonio Skármeta: "Mit brennender Geduld"
Antonio Skármetas poetischer Roman, der mit großem Erfolg zum zweiten Mal verfilmt wurde, ist eine zärtliche Hommage an Pablo Neruda. Er erzählt die Geschichte der Freundschaft zwischen dem berühmten chilenischen Dichter und seinem Briefträger Mario: Mithilfe eines Gedichts, das der junge Mann seinem väterlichen Freund abringt, gewinnt er das Herz seiner Angebeteten. (Piper)
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Antonio Skármeta: "Mein Freund Neruda" zur Rezension ...