Michal Glowinski: "Mythen in Verkleidung"

Dionysos, Narziss, Prometheus, Marcholt, Labyrinth


Mystifikationen eines Bücherwurms (Nur für Intelligenzbestien)

Es kommt nicht oft vor, aber manchmal frage ich mich bei einem Buch: Bin ich zu blöd, das zu lesen? "Mythen in Verkleidung" ist so ein Fall. Man beginnt zu lesen und merkt sogleich, dass man langsamer lesen und sehr intensiv denken muss. Erst war man mit dem Ferrari unterwegs bei Grisham, jetzt kriecht man mühsam durch den Schützengraben polnischen universitären Geistes. Das muss nicht schlecht sein, ist sogar mitunter unterhaltend oder belehrend. Offen gestanden aber: Man liest so was nur, weil man Rezensent ist.

Was den an chronischer Verkaufsschwäche seiner Bücher leidenden Suhrkamp-Verlag bewegt haben mag, ein derart hochgeistiges, etwas verworrenes und nur für Spezialisten interessantes Buch in sein Programm aufzunehmen, ist mir ein Rätsel. Ein wahres Rätsel wie zum Beispiel das Werk Stanislaw Przybyszewiskis oder Zofia Daszynska-Golinskas oder Stanislaw Garfeins oder Wladyslaw Orkans oder Jerzy Stempowskis. Wenn Sie diese Namen kennen, gar die zugehörigen Bücher und Artikel gelesen haben, werden Sie auf leichten Schwingen durch Michal Glowinskis Buch schweben, alle Anspielungen verstehen - vorausgesetzt, Sie haben auch alles gelesen, was zum Bildungskanon der westlichen Welt gehört. Dieser Kerngruppe des Alten Europa gehöre ich leider nicht an, aber ich kann mir vorstellen, dass Hans Magnus Enzensberger entzückt über Glowinski sein wird, oder vielleicht Marcel Reich-Ranicki.

Ich schmeichle mir, ein bisschen zu wissen. Wenn Sie zum Beispiel Dionysos sagen, spuckt mein Gehirn immerhin "Griechischer Gott" und "Wein, Weib und Gesang" aus. Ich kenne einige weitere Dionysos-Details, und weiß zum Beispiel, dass er laut schnarchte, tagsüber gerne einnickte und mit dem Schlag eines Stäbchens geweckt werden musste, weshalb er zum Schutzpatron aller Schnarcher mit Schlaf-Apnoe-Syndrom wurde. Als ich mein "Buch vom Schnarchen" schrieb, zögerte ich, ob ich den griechischen Begriff für dieses Stäbchen in den Text aufnehmen sollte. Gut, ich machte einen mutigen Schritt und ja, nun steht thyrsos da drin. Wie geht Glowinski mit dergleichen Fragen um? Gar nicht. Als erstes setzt er voraus, dass Sie alles über Dionysos wissen. Er sagt nie wirklich, was die Griechen darunter verstanden haben, erwähnt nur einmal: "Er kehrte zurück mit dem unvermeidlichen thyrsos in der Hand". Dass in dem Satz Dionysos gemeint ist, sagt er nicht einmal.

Nachdem das Buch mit zahlreichen Anmerkungen versehen ist, schaute ich nach, ob man "Thyrsos" in der Fußnote erklärt. Nein, dergleichen wird vorausgesetzt. Wenn Sie eine Seite später wissen wollen, was "Topos" eigentlich genau ist, lockt dann zwar eine Fußnote, die lautet dann aber so: "Zur Topik vgl. die Ausführungen von Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1954,; insbesondere Kap. V: Topik."

Jetzt einmal was Prinzipielles: Bin ich denn einer dieser armen Studentensklaven, die sie herdenweise in die Hörsäle treiben, nur damit ihnen ordentlicher Universitätsprofessor Dr. Weißalles bei Ignoranz auf eine Frage sagen kann: Doch, es gibt blöde Fragen - lesen Sie erst einmal alles, was Curtius darüber geschrieben hat, dann sind Sie reif für meine Vorlesung? Nein, ich bin ein ganz gewöhnlicher Leser auf dem belletristischen Markt, den das Thema "Mythen in Verkleidung" eigentlich interessiert, habe aber eher wenig Interesse an einer Buchbinder-Wanninger-Episode. Wissen Sie warum, liebe Suhrkamp-Leute? Ich bin nicht für das Buch da - das Buch ist für mich da! Andere Verlage respektieren diese Einstellung.

Nun, da wir das geklärt haben, wird es den Leser nicht wundern, wenn er zum Anfang auf einen gewissen Adrian Leverkühn stößt. Ich kenne die Bücher von Thomas Mann recht gut, also sagte ich mir gleich: Na klar, das ist der Komponist und die Zentralfigur von "Dr. Faustus". Dass Glowinski Leverkühn einfach zitiert, könnte einen, der noch blöder ist als ich, dazu verleiten, darin einen Uni-Kollegen des Meisters zu vermuten. He he, sagt sich da der Halbgebildete, bevor er sich nun aber völlig hilflos in folgende Argumentationskette verstrickt (S. 20): 1. Das Dionysosmotiv ist kein Mythos, wie zeitgenössische Theoretiker des Mythos, Walter Friedrich Otto oder Karl Kernyi betont haben. Warum? 2. Da es sich von Motiven unterscheidet, die dramatische Dichter am Hofe Ludwigs XIV. verfasst haben. Hä? 3. Aber - es erfüllt doch "bestimmte organisierende Funktionen", und zwar in der Epoche des Modernismus (der im Buch nicht weiter definiert oder erklärt wird), und wird 4. dort sogar zum "Muster", nämlich 5. "Element des Lebens" und stellt selbst 6. ein "kulturelles Erlebnis" dar. (Was? Wer bist du denn? fragte ich mich an dieser Stelle.) Und nun gibt es einen Mann, den Glowinski auch gelesen hat, nämlich Malinowksi, und dessen Erörterungen beziehen sich "in gewisser Weise" auf das eben Gesagt, weshalb er nun lange zitiert wird. Warum aber?

Mein Kommentar: Das ist doch alles Gebrabbel. Wen interessiert es, wie manche Menschen Mythen definieren, wenn doch ganz klar ein Motiv besprochen werden soll? Wen interessiert, wie sich das mit Ereignissen am Hofe Ludwigs XIV. vergleicht. Es mag wichtig sein, zu sagen, dass ein Motiv nicht nur organisierende Funktion hat, sondern sogar zum kulturellen Muster wird, aber sollte ein Autor, der über ein Thema spricht, nicht irgendwann zu Potte kommen anstatt sich in Nebensächlichkeiten zu verstreuen? Und dann zu behaupten, dass das Dionysos-Motiv Lebenselement wird, das ist doch einfach ein Symptom, keine Aussage. Man nennt so was auch gern Verliebtheit in eigene Gedanken. Ins Bild passt dann der Entschluss, Leben in Anführungszeichen zu setzen, und dann noch den genauso belanglosen Gedanken anzufügen, dass das Motiv ein kulturelles Erlebnis an sich sei. Wer so was schreibt, mag es gut meinen. Aber wer so was liest, ist zu bedauern.

Man kann sich dem Buch also nur annähern, indem man querliest, und sich die Brosamen herauspickt, die ein erfahrener Mann, der sicherlich viel gelesen hat und bedeutend höher gebildet ist als ich, angeeignet hat. Das Buch ist eine Fundgrube für polnische Poesie und für Partikel klassischer Bildung. Zwischendurch befremden aber Glowinskis Wertungen. Zum Beispiel führt der Autor einige griechische Mythen an. Ein griechischer Autor namens Konon, Zeitgenosse Ovids, hat die Geschichte der Nymphe Echo und des Jünglings Ameinias geschrieben, ebenso Pausanias, der Narziss in seinen Schriften auftreten lässt. Bei Glowinski haben sich diese Autoren aber umsonst bemüht, denn sie mögen zwar "den Gebildeten bekannt sein", können aber "nicht mit Ovid konkurrieren". Was soll’s? Wenn du sogar Gebildete, die so etwas wissen, brüskierst, welche Leser hast du überhaupt noch?

Nun aber genug gelästert. Was bietet das Buch? Man erfährt viel über die im Titel genannten Figuren und den Umgang einzelner Kunstschaffender mit ihnen. Die Perspektive ist polonozentrisch. Wenn einmal erwähnt wird, was André Gide aus der Geschichte mit dem Narziss gemacht hat, müssen wir dann vom "bescheidenen polnischen Narziss" eines gewissen Felicjan Falenski lesen, der ein kleines Gedicht dazu veröffentlicht hat. Dieser mag zwar meiner bescheidenen Ansicht nach "den Gebildeten bekannt" sein, kann "aber nicht mit Andre Gide konkurrieren". Ich gebe zu, der letzte Satz war etwas billig. Lernen vom Vorbild sollte aber erlaubt sein.

Denn mit Humor lässt sich die Sache lösen. Nehmen wir einmal an, Sie lesen ein Kapitel mit dem Titel "Das Labyrinth, ein Raum der Fremdheit", und finden dort den Halbsatz: "Mit dem schwächsten Fall - dem Grenzfall gewissermaßen - haben wir es zu tun, wenn der Raum nicht einfach als Labyrinth dargestellt wird, sondern wenn gesagt wird, dass er für den Helden aus diesen oder jenen Gründen labyrinthische Züge angenommen hat" und stoßen nun auf eine erklärende Fußnote, und lesen nun weiter: "Man könnten hier sicherlich von einer labyrinthischen Epiphanie sprechen: Unter dem Einfluss eines plötzlichen Blicks in das Labyrinth verwandelt sich der gewöhnliche und banale, durch keinerlei Besonderheiten hervorgehobene Raum." Ja, das ist es. Lesen Sie das, und erkennen Sie, dass das Labyrinth Glowinskischer Gedanken irgendwie nichts ist als gewöhnlich und banal, und nur wer reinguckt, hält es für ein Labyrinth und ist beeindruckt. Nennen Sie das Ganze dann labyrinthische Epiphanie (Griech. für "Erscheinung". Wenn Sie Glowinski lesen, sollten Sie dergleichen aber wissen.), und Sie können davon ausgehen, dass Sie irgendetwas doch verstanden haben.

(Berndt Rieger; 05/2005)


Michal Glowinski: "Mythen in Verkleidung"
Aus dem Polnischen von Jan Conrad.
Suhrkamp, 2005. 306 Seiten.
ISBN 3-518-41687-1.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Eine Madeleine aus Schwarzbrot"

Je länger der Trauerzug für Stalin durch die Straßen Warschaus marschiert, desto heiterer wird die Stimmung jener, die daran teilnehmen müssen - die Hoffnung auf Befreiung nach dem Tod des Diktators bricht sich Bahn. Mit oft hintergründiger Ironie führt Michal Glowinskis Zyklus von Erzählungen eindringlich die Atmosphäre im Nachkriegspolen vor Augen - jene Jahre der staatlichen Repression, in denen auch der Antisemitismus im neuen kommunistischen Gewand wiederersteht. Glowinskis Reise durch die Erinnerung führt auch in die Zeit der Shoah zurück, die der bekannte polnische Literaturwissenschaftler als Kind und Jugendlicher im Warschauer Ghetto und dann in verschiedenen Verstecken überlebte. Im Mittelpunkt aber steht die Welt der Volksrepublik Polen nach 1945. (Jüdischer Verlag)
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