Paul Edward Gottfried: "Multikulturalismus und die Politik der Schuld"

Unterwegs zum manipulativen Staat?


"Multikulturalismus ist eine Gesinnung und keine Realität. Multikulturalismus ist Kulturrelativismus, das heißt Werte-Unverbindlichkeit. Das ist das Ende eines Gemeinwesens."

(Univ. Prof. Bassam Tibi; Vordenker des Euroislam)

Kein Zweifel, Professor Paul Edward Gottfried ist weltanschaulich dem rechtskonservativen Lager zuzuordnen. Und das nicht nur so irgendwie, sondern gar zünftig. Womit es mit der Schubladisierung aber auch schon wieder getan sein sollte, denn bei näherer Betrachtung von Gottfrieds Thesen finden sich entschiedene Widersprüche zur Weltanschauung der "Neuen Rechten" in den USA (Francis Fukuyama, Samuel Huntington), welche zwar - nicht unähnlich Gottfried - in der Ideologie des Multikulturalismus eine Gefährdung des Charakters der USA und des Westens als einer "abendländischen und weißen Wertegemeinschaft" sehen, dies jedoch allemal gehandhabt unter Rückgriff auf den amerikanischen Gründungsmythos "America’s destiny is white" ("Amerikas Bestimmung ist weiß"), bei gleichzeitiger Idealisierung des puritanischen Lebensethos der Väter. In diesem Zusammenhang ist Samuel P. Huntingtons Zivilisations-Paradigma "Das Konzept vom Clash of Civilizations" einzuordnen, nämlich als Ideologie der Behauptung nationaler US-Interessen im Kampf mit nicht-westlichen Zivilisationen. Wobei es Huntington um eine Globalisierung der Normen des westlichen Gesellschaftsmodells geht, was durchaus eine (bewusste oder unbewusste) Absolutsetzung der Idee multikultureller Gesellschaften nicht nur nicht ausschließt, sondern sogar eindeutige Intentionen in diese Richtung verfolgt.

Gottfried verhält sich gegenüber diesen Ansichten der "Neuen Rechten" in mehrfacher Hinsicht oppositionell. Das protestantische - konkreter: calvinistische - Büßerethos der Väter deutet er als problematisch, wenn nicht überhaupt als ursächlich und bestimmend für das durch politisch-korrekte Martyrologien gekennzeichnete Übel unserer Tage, denn was einst als selbstgeißelnde Frömmelei begann, habe sich zu einer moralinsäuerlichen Viktimologie ausgewachsen und über den liberalisierten Protestantismus ("Feminisierung des Christentums") mittlerweile in eine aggressive Ideologie der "Weltverbesserung" umgeschlagen, die nach Innen gegenüber Andersdenkenden repressiv wirke und weiters insbesondere die USA (und deren treuesten Vasallen Großbritannien) in ihren Außenbeziehungen zu einem neokolonialistischen Gehaben ansporne, zu einer Art Kulturimperialismus und militantem Pilgertum, welches nicht einmal vor bewaffneten Kreuzzügen im Namen eines "liberalen Internationalismus" - also vorgeblich für "Demokratie und Menschenrechte" - zurückschrecke. Das Prinzip nationaler Souveränität sei in diesem Sinne (wann immer es um "Demokratie und Menschenrechte" gehe) eine überkommene Vorstellung, stellte in diesem Kontext schon einmal der britische Premierminister Tony Blair klar und erntet dafür bei Gottfried Spott und Häme, zumal des Britenpremiers Innen- und Außenpolitik verbohrt missionarisch geartet sei. Eben ganz so wie jener sendungsbewusste Politikbegriff von Bill Clinton, der sich in diesem Sinne, zum Ärger Gottfrieds, mit Waffengewalt in den Balkankrieg der 1990erjahre zugunsten muslimischer Völkerschaften einmischte und in weiterer Folge das Bombardement des treu abendländischen Serbiens als notwendigen Angriff auf den "Extremismus" gerechtfertigt hat. Dem könnte man noch beifügen: Und das ungeachtet der muslimischen Extremisten, die in großer Zahl in die südosteuropäische Konfliktzone einsickerten. Die gemeinsame Zukunft, so formulierte es damals Clinton, sei nämlich "bedroht durch den ältesten Dämon der menschlichen Gesellschaft: unsere Anfälligkeit für den Hass auf andere, auf diejenigen, die nicht so sind wie wir".
Clinton und Blair sind gemeinsam für Gottfried die personifizierte Verkörperung eines neuen Internationalismus, der auf nichts Geringeres als auf eine Umwandlung des menschlichen Bewusstseins abziele. Und diese faktisch religiöse (für Professor Gottfried aus dem Geiste eines feminisierenden Protestantismus geborene) Politik zur "moralischen Missionierung" der Menschheit werde nach wie vor ungebrochen fortgesetzt (jetzt wohl von den Republikanern unter Präsident G. W. Bush) und erhalte überall dort, wo der Geist des Amerikanismus Wurzeln schlage, im sogenannten "therapeutischen Staat" sein aufdringlichstes Gepräge.

Im "therapeutischen Staat", ein Schlüsselbegriff zu Gottfrieds politischer Wissenschaft, also im Gebilde einer Staatsverfassung, deren Hauptzweck es ist, vermittels eines um die "richtige Gesinnung" bemühten Verwaltungsregimes seine Bürger zur politisch korrekten Verhaltensdisziplin zu erziehen, sie von Resten "faschistoiden Gedankenguts" zu säubern und in ihnen stattdessen ein unbeirrbares Fein- und Sympathiegefühl für die "gesellschaftlich Marginalisierten" zu erwecken, in dieser Einrichtung nun entfaltet sich die multikulturelle Gesellschaft zur herrschaftlichen Ordnung sozialer Eliten. Für Gottfried begründet diese multikulturelle Gesellschafts- und Staatsordnung eben nicht ein Reich der Freiheit, sondern zielt viel mehr auf dessen genaues Gegenteil ab. Ideologisch helfe sie, einen Kult um die "Verschiedenheit" als Mittel zur Kontrolle einer Gesellschaft zu zelebrieren, deren letztendliche Umgestaltung sich die politische Klasse zur erklärten Absicht gesetzt hätte. Und dieses wohl auch aus einem unausgesprochenen Kapitalverwertungsinteresse heraus, denn nichts ist der spätkapitalistischen Herrschaftsordnung genehmer und ihren Zwecksetzungen angepasster denn jene Massen seliger Kreaturen, welche die multikulturelle Gesellschaft hervorbringt. In ihr werden Konfliktlinien auf Zwischenmenschliches und Interkulturelles beschränkt; nicht der Ausbeuter, sondern der kulturell andersartige Nachbar ist der Feind. In einer Welt ohne kulturelle Verbindlichkeit geht jedes Gefühl für Heimat verloren, was den vaterlandslosen Gesellen in den Chefetagen multinationaler Konzerne ihr Geschäft ungemein erleichtert.
Bei Gottfried, dessen bürgerliches Denken sich nicht übermäßig an Kriterien politischer Ökonomie orientiert, kommt der soeben ausformulierte Kritikpunkt lediglich andeutungsweise zum Tragen. Er stößt sich vor allem an dem staatlich initiierten Versuch, die angestammten Völker der westlichen Hemisphäre zu therapieren, also ihre Umerziehung zum Zwecke der Auslöschung ihrer abendländischen Identität zu betreiben. Die Erhellung sozioökonomischer Konsequenzen daraus ist nicht unbedingt Gottfrieds Anliegen. Bei einem Slavoj Zizek (siehe unten) wurde es hingegen schon deutlicher ausgesprochen: Multikulturalismus und Wirtschaftsliberalismus sind ein untrennbares Brüderpaar. Ein entfesselter Kapitalismus bedarf multikultureller Lebensverhältnisse; erkennt er den Menschen doch auch in erster Linie nicht als Träger von Kultur, sondern als Beschäftigungsäquivalent bar jeder Identität. Grenzenlosigkeit und Vermengung ist gefordert, wenn es gilt, den Menschen auf ein Dasein im Produktionsbereich einzustimmen.
Die therapeutischen Regierungsformen nun also, so Gottfried, seien in der Tat immer nur verschleierte Mechanismen staatlicher Gewalt, zumal es dabei primär um Verhaltenssteuerung gehe. Und zu welchem letzten Zweck das Ganze? Beim bürgerlichen Intellektuellen Paul Edward Gottfried endet die Gesellschaftskritik leider dort, wo sie wirklich brisant werden könnte. Nichtsdestotrotz ist allein schon der vorliegende Denkansatz beachtlich ausgeprägt und folglich einer eingehenden Behandlung würdig.

Es sind demnach zu Schrifttum gewordene Worte eines unbehausten Rechten, in ihrem besonderen Charakter freigeistig und beschränkt zugleich, die aus diesem Buch zum geneigten Leser sprechen, also Worte eines Mannes, dessen intellektuelle Positionierung die eines Einsamen ist. Denn wie schon oben dargelegt, keineswegs sympathisiert Gottfried mit der großen rechtskonservativen US-Partei der Republikaner, deren aktuelle Politik unter Präsident Bush er als ebenso verwerflich erachtet wie jene vorangehende der tendenziell linksliberalen Demokraten unter Bill Clinton. Gottfried ist weder in der amerikanischen Rechten noch im amerikanischen Kulturgepräge heimisch; er ist ein fundamentaler Kritiker amerikanischer Lebensart, insofern er ihre (von ihm als oberflächlich und ignorant empfundenen) religiösen Haltungen und Grundlagen hinterfragt und als peinliche Disziplin "existenzieller Betroffenheit" anzweifelt, die jedes echte Kritikvermögen an den Lebensumständen vermissen lässt. Kulturelle und historische Unbildung befördere eine "Theologie der Schuld", welche die Geschichte in eine Tabula rasa verwandle und kollektive Wahrnehmungsformen zum öffentlichen Diskurs verzerre. So gäbe es in den USA zum Beispiel gleich um das Mehrfache mehr rassistisch motivierte Gewalttaten durch Afroamerikaner als durch weiße Amerikaner. Was vielleicht auch andere Gründe haben kann (soziale Verelendungstendenzen und dergleichen mehr), das sollte an dieser Stelle nicht unausgesprochen bleiben. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang jedoch die gesellschaftliche Reaktion auf rassistisch motivierte Untaten. Die mediale Thematisierung bzw. Kriminalisierung konzentriere sich nämlich "politisch korrekt" fast ausschließlich auf rassistische Tätlichkeiten weißer Amerikaner, hingegen man für die weitaus häufigeren rassistisch motivierten Übergriffe durch dunkelhäutige Amerikaner einfach keinen Blick habe oder zwanghaft nach entschuldigenden Ausreden suche, wobei in vielen Fällen die Täter zu Opfern ungemächlicher Lebensumstände stilisiert würden, welche nach geltender Diktion der weißen Mehrheit schuldhaft anzulasten sind.

In einem gewissen Sinne könnte man bei Gewahrung des Buchinhalts der Meinung sein, dass Gottfried alles in allem Auffassungen vertrete, die weder dezidiert links noch rechts sind, sondern von einem kritischen Standpunkt her betrachtet einfach für sich stehen und aus jeder rational argumentierenden weltanschaulichen Perspektive eingebracht werden können. Und gar nicht so zufällig vertritt dann auch der linksgerichtete Philosoph Slavoj Zizek in seiner Polemik "Ein Plädoyer für die Intoleranz" Standpunkte, die mit jenen von Gottfried zumindest partiell übereinstimmen. Zizek beklagt in seiner Schrift den Verlust des Primats politischer Ökonomie im Denken und Handeln einer Linken, die sich mit wirtschaftsliberalen Ideen und gesellschaftlich praktizierten Ordnungsmustern offenbar längst schon ausgesöhnt und vertraut gemacht hätte.

Gleiches diagnostiziert nun der Politikwissenschafter Gottfried und skizziert das desaströse Bild einer Linken, die sich nach dem schmerzlichen Verlust ihrer tradierten Vision vom sozioökonomischen Umbau der Gesellschaft auf der notgedrungenen Suche nach neuen Inhalten dem menschenrechtlichen Thema zugewandt hat, um dieses sogleich zum ideologischen Fetisch zu überhöhen. Gottfried erblickt im sich zusehends akzentuierenden Multikulturalismus der Linken eine Art Kompensation für jene ideologische Lücke, die nach Ende des real existierenden Sozialismus entstanden war. Heute gehe es der politischen Linken nicht mehr vorrangig um die Befreiung der werktätigen Massen von Ausbeutung und Lohnknechtung durch Kapitalisten, sondern ihr Hauptziel sei die Erlösung ethnischer und kultureller Minderheiten von der angenommenen und allemal behaupteten Diskriminierung durch eine mit dem Stigma der Intoleranz behafteten Mehrheits- oder Leitkultur. Anknüpfend an eine aggressive Schuld-Rhetorik der liberal-christlichen Mehrheit gegen sich selbst greife ein Opfer- und Minderheitenkult immer weiter aus, welcher unter Ausnützung einer unter westlichen Menschen weit verbreiteten Selbstablehnungsmentalität weißen Europäern und US-Amerikanern suggeriere, sie müssten sich für ihre Herkunft schämen und Buße für "diskriminierendes Verhalten" leisten. Denn einzig eine Haltung der "Scham" sei angesichts des westlichen "Terrors" in der Vergangenheit angebracht. So äußerte sich dermaleinst US-Präsident Bill Clinton gegenüber einem nur anfänglich staunenden amerikanischen Publikum, das - freilich gut amerikanisch erzogen - allemal Gefolgsbereitschaft gegenüber solcherart Selbstgeißelungsritualen bekunde, wie diverse sozialwissenschaftlich erhobene US-Stimmungsbilder eindrücklich belegen. Denn eines muss als Tatsache gelten: US-Amerika ist - bei aller damit einhergehenden unleugbaren Problematik (vor allem sozial Schwache kommen dabei regelmäßig unter die Räder) - mustergültig multikulturell verfasst und die Amerikaner leben diese ihre Wirklichkeit über die alltägliche Reproduktion einer spezifisch gearteten Mentalität kollektiver Umgangsformen in mehr oder minder vorbildlicher Manier. Wozu gleich anzumerken ist, dass Gottfried diese Konstruierung politisch korrekter Lebenswirklichkeiten keineswegs als löblich, sondern viel eher als sittenwidrig erkennt. Ausdrucksweisen wie Selbsterniedrigung würden in diesem Zivilisationsrahmen als Selbsterhöhung zelebriert, wie es sonst nur bei Heiligen der Brauch ist. Gottfried kann sich über den dargelegten Gesellschaftscharakter der US-amerikanischen und (zunehmend auch der) europäischen Mehrheitsbevölkerung (insbesondere jener angelsächsischen mit protestantischer Konfession) nur noch wundern und findet eine nachvollziehbare Erklärung hierfür in der Religionssoziologie Max Webers, welcher in "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" die religiösen Motive für "naturwidriges" Handeln in der frühprotestantischen Gesellschaft aufgezeigt hat.

Das gegenwärtig staatlich propagierte Gesellschaftsmodell ist die "multikulturelle Gesellschaft", befindet Gottfried, und meint, dies sei unabhängig von der jeweils gerade herrschenden politischen Ausrichtung. Und obgleich die Segnungen dieser Gesellschaftsform recht zweifelhaft seien, bestehe doch ein allgemeiner Konsens darüber, dass sie wünschenswert sei. Weshalb sie sich denn auch in der Bevölkerung des Westens (insbesondere in den USA) einer relativ hohen Akzeptanz erfreuen dürfe. Die Gründe für diese hohe Akzeptanz sieht Gottfried - wie oben schon angedeutet - weniger in diversen wissenschaftlich verbrämten Rechtfertigungslehren, sondern vielmehr in religiösen Traditionsfragmenten einer christlichen Kultur, deren quasi liturgische Stossrichtung auf eine Entmannung des westlichen Menschen abzielt - auf Selbsterniedrigung zwecks Selbsterhöhung vor Gott, oder mit den Worten von Max Weber, auf "innerweltliche Askese". "Multikulturell" im Sinne von Paul Edward Gottfried, sollte jetzt nicht kurzschlüssig mit "multiethnisch" verwechselt werden. Gemeint und erhofft wird über das Diktat der Multikulturalität regelmäßig ein tolerantes Miteinander unterschiedlichster (selbst unvereinbarer und zueinander widersprüchlicher) Lebensstile, und das allemal bei strikter Wahrung von Authentizität, was definitionsgemäß auch eine Vielfalt von feministischen, homosexuellen, nonkonformistischen aber vor allem auch antiwestlichen Auffassungen und rhetorischen Figuren umfasst. Schutzmacht und Herkunftsland zu dieser Gesellschaftsform sind, nach der Überzeugung Gottfrieds, die USA, denn, wie ja schon dargelegt, nirgendwo sei ihr das Stimmungsbild gewogener und nirgendwo bemühe man sich mehr um die Praktizierung von bedingungsloser "Toleranz". Also im Endeffekt um ein vorgeblich "liberales Klima", das in der Tat freilich weniger im Geiste liberaler Gesittung stehe, denn von missionarischem Eifer beseelt sei, dessen wesentliches Merkmal Unduldsamkeit gegenüber geistigen Dissidenten sei, die den Führern multikultureller Menschheitsbeglückung eine blinde Gefolgschaft verweigern.

Die Idee der "Multikulturalität" ist nach der Auffassung Gottfrieds also ein originär amerikanischer Wert, und wurde bekanntlich ja auch als ideeller Begriff in den USA herausgebildet, weshalb er nicht davon Abstand nehmen kann, in allen Befürwortern der "multikulturellen Gesellschaft" Amerikanisten im Geiste zu sehen. Insbesondere die europäische Linke (aber auch ein Großteil des gemäßigt rechten Parteienlagers) sei deswegen als Versammlung ideologischer Amerikanisten zu charakterisieren, die lediglich aus Verblendung und Unverständnis nicht um Herkunft und Wesen ihrer Gesinnung wüssten. Jedenfalls reproduziere sich in Gestalt der Linken eine allgegenwärtige Amerikanisierung, die gerade noch von der wirklich durchwegs antiamerikanistisch empfindenden (für Gottfried scheint "Antiamerikanismus" eine Tugend zu sein) populistischen Rechten als solche (halbwegs klar) wahrgenommen wird. Was Gottfried zu diesem Thema dann konkret zu sagen hat, sprüht vor Sarkasmus und Hohn über eine von ihm so erkannte politische Infantilität der Linken und ist nicht nur ob des polemischen Gehalts wiedergabewürdig, sondern soll allein schon deswegen zur Manifestation gebracht werden, um all jenen Freunden linker Gesinnung einen Denkanstoss zu verpassen, welche sich zwar in ihrem Selbstverständnis als US-kritisch verstehen, doch in der Tat längst schon den hegemonialen Weltethos der "Pax Americana" zutiefst verinnerlicht haben.

Zum Verhältnis zwischen europäischer Linker und den USA höhnt nun also Gottfried:
"Für die Linke sind die Vereinigten Staaten - zumindest bis zum jüngsten Antiterrorkrieg - ein unverzichtbarer Bundesgenosse bei der Bekämpfung "störrischer" europäischer Nationalisten und Globalisierungsgegner. Die Bedeutung gelegentlicher Demonstrationen, die von der europäischen Linken gegen US-Konzerne und US-Militarismus organisiert werden, selbst wenn sie gewaltsam sein sollten, sollte allerdings nicht überbewertet werden. Es handelt sich hier um eine Art ödipalen Reflex, der sich gegen die politische Kultur richtet, aus der die europäische Linke ihre Ideen bezieht."

Für Gottfried ist die mitteleuropäische Linke, von deren einstiger intellektueller Kraft (in Gestalt des dt. Neomarxismus und des französischen Existenzialismus) er immer noch mit Respekt spricht, unter dem Einfluss eines Multikulturalismus amerikanischer Prägung zum einfallslosen Nachahmer des neuen amerikanischen Universalismus verkümmert. Die Kritik an den Konsequenzen der "Pax Americana" (dem Garanten zur globalen Durchsetzung "antifaschistischer" und multikultureller Anliegen) seien zwar gut und schön, ändern aber nichts an dem geistigen Abhängigkeitsverhältnis. Was von der Linken noch übrig geblieben sei, sei jener "vulgäre Marxismus", der heute als "politische Korrektheit" eine jeden wirklichen Liberalismus erstickende Meinungstyrannei verordne. Die am Multikulturalismus orientierte Linke zelebriere sich als "marxistische Vulgata", wofür Gottfried den freilich nicht unumstrittenen flämischen Separatisten und bekennenden Marxisten Urbain Decat in den Zeugenstand beruft, welcher im Zitat aussagt, dass die "marxistische Vulgata die wahre Blume des Marxismus erstickt habe". Die "Blume des Marxismus", das sei nämlich der Versuch von Marx, die Individuen und die Gesellschaft vor dem Konsumismus und einem abstrakten Universalismus zu retten. Politische Korrektheit ist für den flämischen Populisten das "Ende des kritischen Diskurses".
Eine gewichtigere Stimme in Gottfrieds Zeugenstand als Urbain Decat dürfte der linksgerichtete Präsidentschaftskandidat der US-amerikanischen Grünen sein, Ralph Nader, welcher einerseits - getreu klassisch linker Manier - eine umfassende staatliche Kontrolle der Wirtschaft fordert, andererseits aber schon über die mit Eifer betriebene Dämonisierung der religiösen Rechten spöttelte und zur Bestürzung der "liberalen Demokraten" eine Begrenzung der Einwanderung forderte.
Man könnte nach der Lektüre der Ralph Nader betreffenden Textstelle mutmaßen, dass Gottfried ein Parteigänger des linksgrünen Ralph Nader ist. Bei aller unverhohlener Sympathiebekundung bliebe dieses schlussendlich jedoch ein müßiges Unterfangen, das auch nichts zur Sache tut. Von deutlicher Selbstevidenz sind jedoch des Buchautors generelle Sympathien für jene linken und marxistischen Persönlichkeiten, die nicht vor einer Zusammenführung von Gehalten des neulinken Marxismus der sechziger Jahre (freudianisch-marxistische Linke) mit dem ausdrücklichen Bekenntnis für klassische Inhalte der populistischen Rechten zurückscheuen. Gottfried geht es demnach also nicht - so wie mancher argwöhnen möchte - um die Propagierung rechtsreaktionärer Ideologie (zur Errettung des Abendlandes), sondern um eine Sicht der Welt, die er nach Maßgabe seines Vernunfthorizonts für die richtige erachtet und welche sich in ihrem geistigen Gefüge aus Elementen von ebenso rechter als auch linker Provenienz zusammensetzt.

Anders gedacht, sei es irrational, gibt Gottfried zu bedenken, denn der Multikulturalismus (jetzt v.a. in Hinblick auf die Migration gemünzt) sei ein selbstzerstörerisches Gesellschaftsmodell. Masseneinwanderung sei für die Eliten möglicherweise zwar eine recht profitable Sache (immerhin strömen ebenso billige wie willige Lohnarbeiter in großer Zahl zu), doch ziele der völlig unreflektierte multikulturelle Grundsatz, einem jeden seine Authentizität zu belassen und zu bewahren, zwangsläufig auf ein zeitlich gar nicht so fernes Ende der Toleranzkultur ab, denn der Import von mehreren Millionen "misogyner Ausländer" mache eine Verbesserung von Frauen- und Homosexuellenrechten wenig wahrscheinlich. In diesem Sinne prophezeit Gottfried den multikulturellen Gesellschaften des Westens ihren Untergang (also somit den Untergang des Abendlandes), weil aus der Dritten Welt zugewanderte Rassisten und Patriarchen werden wahrscheinlich die gegenwärtige Regierungsform wegfegen, sobald sie aufgrund ihrer demografischen Entwicklung die Gelegenheit dazu bekommen werden.

Das im Buch diesbezüglich ausgeführte Untergangsszenario für die USA hat dem Autor mittlerweile übrigens schon zu einer gewissen Publizität verholfen. In aufgebrachter Stimmung freilich, wie sich unschwer vermuten lässt.
Zu den Fakten, welche der Autor hiezu ausbreitet: Die amerikanische Bevölkerung wird im Jahre 2100 fast 600 Millionen Menschen umfassen; davon eine nicht weiße Mehrheit von integrationsresistenten Hispano-Amerikanern. Und da der Zustrom legaler und illegaler Einwanderer in die USA unverändert hoch bleibt und von der Regierung und einer Mehrheit der Amerikaner (bei strikter Missachtung der sozialen Frage) begrüßt oder - wie und warum auch immer - zumindest toleriert wird und mit Zwang verbundene Assimilierungsmaßnahmen weiterhin als unkorrekt ausgeschlossen sind, dürfte Gottfrieds aufreizende "Umvolkungsthese" nicht ganz aus der Luft gegriffen sein. Ein ähnlich hoher Zuwanderungsdruck wie in den USA ist für Europa nicht gegeben, stellt Gottfried abschließend klar, mit Ausnahme der beiden (für ihre gemeinsame "Geschichte der Deutschen") "büßenden Staaten" Deutschland und Österreich. Und obgleich sich die Migrationslage in Europa vergleichsweise entspannt darstellt, prognostiziert der Islamforscher Bernard Lewis im Gespräch mit Wolfgang Schwanitz: "Europa wird am Ende des Jahrhunderts islamisch sein". Gottfried berichtet über diese für aufgeklärte Europäer wahrscheinlich nicht wirklich erfreuliche Zukunftsprognose des Bernard Lewis, verweist ausdrücklich auf die Internetausgabe der das Gespräch wiedergebenden Online-Ausgabe der deutschen Tageszeitung "Die Welt" (mit Angabe der URL zum konkreten Textdokument) und schließt von dem solcherart aktuell (Februar 2005) nachlesbaren Interview auf ein nicht allzu fernes Ablaufdatum der multikulturellen Gesellschaften Europas. Die historisch gewordene europäische Identität, so wie sie uns heute noch vertraut ist, wird es dann nicht mehr geben, vorausgesetzt die Bevölkerungsentwicklung bleibt in ihrem Verlauf unverändert, wofür die Vorkämpfer multikultureller Seligkeit im Bündnis mit wirtschaftsorientierten Wachstumsfetischisten bei aller Erwartung wohl Sorge tragen werden.

Soviel zum inhaltlichen Grundgerüst von Gottfrieds Buch, welches hier freilich nicht viel mehr als eine matte Andeutung einer facettenreichen Pracht sein kann und mag. Viel ist darin von den USA die Rede. Was nicht weiter verwunderlich sein sollte, handelt es sich doch um eine scharfe Abrechnung mit dem Geist des Amerikanismus. Gottfried würde wohl lieber von einem Ungeist sprechen und süffisant dazu anmerken, dass dies heute auch der Geist der europäischen Linken sei, die auf ihren Antiamerikanismus so stolz sei, dass es ihr kaum noch der Mühe wert sei, den wirklichen Charakter dieser Gesinnung kritisch zu hinterfragen.
Es ist also viel von den USA die Rede, aber auch viel von Österreich, das seinen Eltern, die als jüdische Emigranten nach Amerika kamen, einst Heimat gewesen ist. Gottfried selbst wurde 1941 geboren. Für Österreich und seine Bürger ist Gottfried übrigens voll des Lobes, denn sie wagten es, der Korrektheitstyrannei die Stirn zu bieten, was im Jahre 2000 ökonomische und diplomatische Quarantänemaßnahmen durch die USA und die Europäische Union zur unliebsamen Folge hatte, die jedoch nicht dazu gereichten, eine Unterwerfung unter das westliche Verhaltensdiktat zu erzwingen. Gottfried bekundet in diesem Zusammenhang unverhohlene Sympathien für den Führer der österreichischen Rechtspopulisten, Jörg Haider, welcher sich dem allgemein verpflichtenden Trend zur multikulturellen Gesellschaft versage und in seinem fürsorglichen Politikverständnis linke und rechte Inhalte zu einer zweckmäßigen Symbiose zusammenfüge. In diesem Sinne für echten Liberalismus stehe, der sich wohltuend vom missionarischen Eifer pseudoliberaler Multikulti-Apostel abhebe.

Kritikpunkte sollte es zu dieser überaus provokanten Streitschrift des Professors vom Elizabethtown College in Pennsylvania nun wohl zur Genüge geben. Vor allem die Schlussbetrachtung "Unterwegs zum manipulativen Staat?" trägt ob der unverschämt vorgetragenen "Umvolkungsthese" den Aufruhr in sich, und so manche Besprechung des Buches konzentrierte sich schon einzig auf diesen - tatsächlich eher nebensächlichen - Aspekt in Gottfrieds Polemik. Wesentlich erheblicher scheint es dem Rezensenten, dass Gottfried in seinen strikt bürgerlichen Denkweisen einen etwas zu stumpfen Blick für ökonomisch geleitete Handlungsmotive bietet. So vermittelt der Text über weite Strecken den Eindruck, dass es der amerikanischen Politik, etwa in ihren kriegerischen Unternehmungen (Irak), keineswegs zum Beispiel um die Verfügungsmacht über Erdölquellen gehe, sondern primär um Bekämpfung "vordemokratischer Gesinnungen" und die globale Durchsetzung von "sozialen Errungenschaften", insbesondere von Menschen- und Minderheitenrechten. Der ökonomische Aspekt scheint daneben vernachlässigbar, denn die Märkte bedürfen nicht des antiquierten Instruments der militärischen Intervention. Es sei naiv anzunehmen, es ginge bei all dem lärmenden Getue um die Herrschaft über ein paar sprudelnde Ölquellen; die USA wollen mehr, sie wollen alles. Imperiale Mächte von dieser Statur streben nach globaler Hegemonie, im Sinne einer weltumspannenden (oder überhaupt kosmischen) Durchdringung aller Lebensbereiche, was letztlich totale Herrschaft bedeutet. Die "Pax Americana" ist das Ziel, nebst dem alles Andere nebensächlich ist, und diese Vision einer amerikanisch befriedeten Welt ist eben nach Gottfrieds Dafürhalten wesenhaft multikulturalistisch. Und findet in ihrem Streben nach Weltherrschaft und Omnipotenz sonderbarerweise ausgerechnet in der antiamerikanischen Linken und der gemäßigten bürgerlich-liberalen Rechten ihre rührigsten Agenten. Ein Gedanke, der dann wohl zu denken geben sollte.

Mit den Feministinnen, die, da in multikulturalistischer Korrektheitslähmung erstarrt, nach der Auffassung Gottfrieds in unendlicher Einfalt ihr eigenes Verderben herbeisehnen, indem sie einer ethnisch unverfälschten Vielfalt das Wort reden, welche also zum Beispiel durch ihr Bekenntnis zur Authentizität der islamischen Diaspora die Renaissance und Etablierung einer im Westen weitestgehend überwunden geglaubten patriarchalischen Sexualordnung betreiben (tendenzielle Entrechtung der Frau im Islam), verfährt der Herr Professor meines Erachtens nicht ganz fair, denn wer die Diskussionen in frauenrechtlich orientierten Internetforen verfolgt, muss den Damen zugestehen, dass sie sich der multikulturalistischen Bedrohung mehr als alle anderen Gruppen bereits bewusst sind und keineswegs auf den immer wieder propagierten sozialromantischen Unsinn hereinfallen, in tugendhaften Bekleidungsregeln einen unverfälschten Ausdruck weiblicher Selbstbestimmung zu erkennen (Stichwort: Kopftuchdebatte). Auf die Frauenorganisationen der multikulturalistisch ausgerichteten Politeliten hat die konstatierte Sensibilisierung weiblichen Kritikvermögens freilich noch nicht übergegriffen. In diesen Kreisen ist immer noch von dem Recht der Migrantenfrau auf ihre züchtige Art sich zu kleiden die Rede, ungeachtet des Umstands, dass im männerbestimmten Zuwanderermilieu vielen Frauen kaum die Freiheit zugestanden wird, sich zur Abwechslung auch einmal nachlässig oder gar sexy zu geben. Wie überhaupt weiblicher Widerspruch als gotteslästerliche Unfolgsamkeit gewertet wird, die es mehr oder weniger brachial zu sanktionieren gilt. Parteifarblich grünen und roten Multikulturalistinnen fällt dazu im Grunde genommen nicht viel mehr ein, als dass man/frau oder mensch die multikulturelle Gesellschaft weder mögen noch nicht mögen müsse, sondern einfach nur als unabänderliche Gegebenheit zu akzeptieren hätte. Ein meines Erachtens zu rigoroser Standpunkt, der einer konstruktiven Diskussion zur Sache wohl nicht besonders zweckdienlich sein dürfte, zumal in der Tendenz das dialektische Gespräch dieserart betrachtet als politische Ungehörigkeit zu verweigern ist.

Abschließend bleibt nur noch zu hoffen, dass Gottfrieds Aufreizungen des korrekten Empfindens nicht einfach nur eine reflexhafte Haltung empörter Versagung und krampfhaften Ignorierens zur Folge haben werden, sondern dieses sicherlich herausfordernde Buch einen Diskussionsprozess zur intellektuellen Neupositionierung der westlichen Zivilgesellschaft nach sich zieht, deren liberale Grundgesinnung bei Zeiten hinfällig ist, sollte sie sich nicht rechtzeitig auf diesbezüglich mahnende Worte von Sir Karl Popper besinnen. Dieser war zwar selbst das gelungene Geschöpf eines multikulturellen Wien im fin de siècle (ein Wien, das übrigens auch "Hitlers Wien" war), doch litt der Philosoph ob seiner blendenden Erfolgsgeschichte nicht an Betriebsblindheit, sondern empfahl und lehrte durchaus streitbare Gesinnungen, demnach sich die offene Gesellschaft gegen ihre inneren und äußeren Feinde wehrhaft verteidigen können müsse und eben nicht alles akzeptieren und tolerieren dürfe, was sich innerhalb ihrer Grenzen einfinde oder herausbilde. Stolz auf die eigenen sozialen Errungenschaften sei angebracht, was gegenwärtig im Hinblick auf die vorgebliche (obgleich laut Gottfried nicht belegbare) moralische Überlegenheit fremder Kulturen kaum noch einer oft anzutreffenden Haltung entspricht. Gottfrieds Mahnung, dass das laissez-faire in Verbindung mit dem Pluralismusfetisch der multikulturellen Gesellschaft diesem Popperschen Prinzip der Wehrhaftigkeit wohl kaum gerecht wird, sondern dieses vielmehr aushöhlt und ad absurdum führe, sollte ernsthaft bedacht sein und nicht als gleichermaßen belanglose wie ultrareaktionäre Spinnerei eines unverbesserlichen Kämpfers für längst schon abgehalfterte abendländische Romantizismen voreilig abgetan werden.

(Harald Schulz; 02/2005)


Paul Edward Gottfried: "Multikulturalismus und die Politik der Schuld"
Ins Deutsche übertragen von Dr. Till Kinzel
Stocker, 2004. 222 Seiten.
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